Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2019

Spalte:

203–205

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hamm, Berndt, u. Thomas Kaufmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wie fromm waren die Humanisten?

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag in Kommission 2016. 359 S. m. 17 Abb. = Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 33. Geb. EUR 84,00. ISBN 978-3-447-10490-6.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die Frage nach der Frömmigkeit der Renaissance-Humanisten steht im Raum. Nachdem sie zunächst durch die Wiederent-deckung der paganen Antike für einen Säkularisierungsschub in der christlich dominierten Wissenschaftskultur des ausgehenden Mittelalters gesorgt hatten – und einige Forscher ihnen eine dezidiert christliche Position schlankweg absprachen –, betont die neu­ere Spätmittelalter- und Reformationsgeschichtsforschung um­so mehr die bahnbrechende Bedeutung humanistischer Gelehrsamkeit für die Reformbewegungen des 15. und 16. Jh.s. Dabei be­schränkt sich der Einfluss gerade nicht auf reformorientierte Kreise von Kirche und Gesellschaft, sondern bestimmt einen breiten Diskurs in nahezu allen Bereichen der abendländischen Kultur. Die von zwei in besonderer Weise profilierten Kennern dieser Zusammenhänge initiierte und durchgeführte Tagung im Oktober 2013 wird in insgesamt 13 Beiträgen im vorliegenden Band dokumentiert.
Bereits im Vorwort wird betont, dass eine trennscharfe Unterscheidung von Renaissancehumanismus, Frömmigkeit, Reformation etc. nicht möglich ist. Die Herausgeber fragen vielmehr nach einem strukturierten Spektrum der Positionsvielfalt in der Religiosität von Humanisten, das bei aller Variations- und Typenvielfalt auch Aussagen darüber ermöglicht, was Humanisten über weltanschauliche Gegensätze hinweg miteinander zu einer Bildungsgemeinschaft in der res publica litteraria verbindet. (8) Einem problem- und diskursorientierten Forschungsüberblick von Thomas Kaufmann folgen insgesamt vier Aufsätze, die von einem der prominenten Vertreter des Renaissancehumanismus ausgehen. Karl Enenkel beschreibt Petrarca, Silvana Seidel Menchi Erasmus, Franz Fuchs Jakob Locher Philomusu und Thomas Noll Giorgio Vasari. Eine zweite Gruppe von Beiträgen wendet sich Orten, also der geographischen Position von humanistischer Gelehrsamkeit zu: Antonia Landois beschreibt Nürnberg, Nicolette Mout die Niederlande, Berndt Hamm den Oberrhein und Klaus Kipf die Stadt Wittenberg. Eine dritte Gruppe von Abhandlungen wendet sich Problemfeldern zu, die in den letzten Jahren vermehrt diskutiert wurden: Harald Müller untersucht den Humanismus in Klöstern und Hartmut Kühne die humanistischen Umgangsformen mit Heiligen, Ablässen und Wunderzeichen. Sven Limbeck folgt einem neueren Trend kulturwissenschaftlich inspirierter Historiographie und fragt nach der somatischen Frömmigkeit bei Humanisten. Mat-thias Dall’Asta skizziert die Diskurslage im Reuchlin-Streit.
Der Innovationsgehalt der vorgelegten Sammlung liegt weniger in den Einzelbeiträgen der allesamt bestens ausgewiesenen Kenner der Materie als im Fokus ihrer Analysen. So vermögen die Herausgeber ihrem Ziel eines strukturierten Spektrums der Vielfalt ein wenig näherzukommen. Dass es über die vorgestellten Aufsätze noch eine Vielzahl von weiteren relevanten Ansätzen zu diskutieren gäbe, steht außer Zweifel. Gefunden wurde aber ein verbindender Baldachin, unter dem sich die große Positionenvielfalt vereinen lässt. Dieser besteht zunächst in der Feststellung eines gravierenden Kulturwandels im Christentum des lateinischen Westens. Dieser Wandel ist freilich weniger auf ein Datum als auf einige symptomatische Perspektiverweiterungen und -wechsel zurückzuführen und im Laufe einiger Jahrhunderte erfolgt. Zu Recht betonen die Herausgeber, dass dieser Kulturwandel sich nicht gegen das Christentum richtet, sondern sich vielmehr innerhalb von dessen sich weitenden Grenzen vollzieht. Entscheidend ist die Entdeckung neuer (?) Normen, die das bisherige normative Referenzwerk von kanonischem Recht, kurialem Lehramt, akademischer Tradition der Universitäten und spezifischen Frömmigkeitstraditionen übersteigen.
Sodann ergibt sich eine andere Normorientierung, die im Re­kurs auf pagane wie christliche Antike den philologisch bewährten und den wiederbelebten artes im Sinne der studia humaniora eine Neuordnung der sprachlichen Kompetenzen, der wissenschaftlichen Gelehrsamkeit und der rechten Lebensführung – durchaus im Sinne eines gelingenden Lebens im Sinne der antiken Frage nach der beata vita – ermöglichen. Die Revision der antiken Textbestände erfolgt damit weniger im Verständnis ihrer Vorbildfunktion als vielmehr vor dem Hintergrund der kritischen Frage: »Welches Erscheinungsbild der gegenwärtigen Kirche, ihrer Gesetzgebung, ihrer Lehrentwicklung, ihrer klerikalen Hierarchie, ihrer (Un)bildung und Sprache ist mit den Texten der wiederzubelebenden Antike zu vereinbaren und inwieweit ist es nach deren Maßstab zu verwerfen oder reformerisch umzugestalten?« (9)
Dieser Einheit steht sodann allerdings auch die große Bandbreite der Orientierung der Humanisten an der paganen Antike ge-genüber. So kommt es durchaus zu Verschmelzungen antiker und christlicher Gottesvorstellungen, der neuplatonischen Philosophie mit christlichen Idealen, der stoischen und peripatetischen Tu­gendideale mit christlicher Ethik oder auch die Kultivierung diesseitsbezogener memoria und gloria innerhalb des christlichen Glaubens. Andererseits hatte etwa die Aristotelesrezeption im Hochmittelalter doch eine andere Charakteristik als die Berufungen auf das literarische Material im Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Debatten im 15./16. Jh.
Bei nicht wenigen Vertretern dieser Geistesströmungen kommt es im Verlauf der Antikenrezeption gerade nicht zur Abwendung, vielmehr zur Hinwendung, Belebung, Intensivierung und Wiedergewinnung christlicher Glaubensüberzeugungen. So entdecken nicht gerade wenige humanistische Gelehrte in den antiken Quellen ureigene Anliegen und Überzeugungen des Christentums. Freilich gründen in dieser hochdifferenzierten und nicht weniger komplexen Rezeption elementare Unterschiede, welche sodann zur Unterscheidungskultur innerhalb der konfessionellen Systemkonkurrenz beitrugen. Tragisch ist dabei zu vermerken, dass der Rekurs auf die Antike auch zu Ausgrenzungen und Verurteilungen heterodoxer oder auch nur non-konformer Traditionen führte.
Bei der Konzentration auf griffige Formulierungen und pointierte Aussagen geht leider einiges der angedeuteten Differenzierung verloren. So fehlt dem Band eine konzise Stellungnahme, was unter Humanismus, Renaissance und dem Kompositum Renaissancehumanismus näherhin zu verstehen sei. Ebenso umfahren die Herausgeber und Beitragenden sorgfältig eine Näherbestimmung des Begriffes der Frömmigkeit. Es sind vor allem programmatische Schriften, die einer gründlichen Re-Lektüre unterzo-gen werden. Versteht man hingegen unter Frömmigkeit verstärkt die Performation von Glaubensüberzeugungen und eine lebensorientierende Prägung des Alltags, so wird man insgesamt in den Beit rägen wenig dazu finden. Möglicherweise verdankt sich dieses Manko auch der Tatsache, dass in den Beiträgen insgesamt der Stand der 70er und 80er Jahres des vergangenen Jahrhunderts vorgestellt wird und die methodischen Innovationen der interdisziplinären Historiographie nur am Rande zur Kenntnis genommen wurden.
Insgesamt bietet der Band eine anregende Zusammenstellung und teilweise Übersicht zur Forschung im Fokus einer bisher wenig behandelten Fragestellung. Der damit verbundene innovative Impetus könnte fortgesetzt werden, wenn weitere Arbeiten dadurch angeregt werden. Sie sollten auch bekannte Quellen mit den Brillen neuerer Fragestellungen lesen und so das Gewicht von der bloßen Textrezeption in die Ausprägung bestimmter Kulturpraktiken verlagern. Eine Fortführung des Gesprächs in diese Richtung wäre den Aufwand von Tagung und Publikation allemal wert.