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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

200–202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Butticaz, Simon, and Enrico Norelli[Eds.]

Titel/Untertitel:

Memory and Memories in Early Christianity. Proceedings of the International Conference held at the Universities of Geneva and Lausanne (June 2–3, 2016).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. X, 356 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 398. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-155729-3.

Rezensent:

Katharina Greschat

Die Vermittlung kollektiv geteilter Gedächtnisinhalte über größere Zeiträume hinweg und die damit verbundene Ausprägung von Identitäten ist nach wie vor ein Dauerbrenner der Forschung. In Abgrenzung zu der Anfang des 20. Jh.s weit verbreiteten Rede vom vererbbaren »Rassegedächtnis« wollte Maurice Halbwachs (1877–1945) den Träger von Überlieferung und Gedächtnis auf soziale Kontexte bezogen wissen. Dass sein Modell nichts von seiner Ak­tualität verloren hat, zeigen die diesjährigen Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Aleida und Jan Assmann, die Ende des vergangenen Jh.s dem sozialen bzw. kulturellen Gedächt nis noch ein kommunikatives hinzugefügt und damit die Dis-kussion um die Normativität von Erinnerungsfiguren, -orten und -medien enorm bereichert haben. Inwiefern sie auch im Be­reich des Neuen Testaments bzw. des frühen Christentums fruchtbar ge­macht werden können, wollte ein Kolloquium im Jahre 2016 ge­nauer klären, dessen 13 Beiträge hier abgedruckt sind.
Lange Zeit – das machen die Herausgeber zunächst einmal deutlich – hatte sich die neutestamentliche Wissenschaft mit der Kategorie der Erinnerung schwer getan, weil sie vor allem individuell verstanden wurde. Deshalb soll der gedächtnistheoretische Zu­gang nun auch nicht als völlig neuer heuristischer Zugriff auf die Literatur des frühen Christentums vorgestellt werden, vielmehr geht es gerade darum, »socio-religious echos of the notion of memory in the ideology and language of the first followers of Jesus« (13) ausfindig zu machen. Doch kommen nicht nur die ersten An­hänger Jesu, sondern auch Autoren des 2. Jh.s in den Blick.
Der letzte Beitrag des Bandes von Jean Zumstein (313–335) war als öffentlicher Vortrag gedacht und macht deutlich, dass es ohne Erinnerung weder christliche Zeugnisse noch christlichen Glauben geben würde. Mit Paulus und Johannes lotet Zumstein das Verhältnis von Erinnerung und Erzählung, Identität, Zukunftserwartung sowie der Frage, wer eigentlich die Träger der Erinnerung sind, aus. Deutlich theoretischer sind die ersten beiden Aufsätze von Sabine Huebenthal (17–43) und Adriana Destro/Mauro Pesce (45–77) ausgerichtet und betonen, dass Gedächtnistheorie nichts vollkommen Neues darstellt. Für Huebenthal hilft sie interessanterweise auch »to a better understanding of the dating hypotheses suggested in the exegetical discourse« (35); für Destro und Pesce gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen dem anthropologisch zu beschreibenden Prozess der Erinnerung an Jesus und den Evangelientexten, die von konkurrierenden Erinnerungen zeugen und sich nur mit den Methoden historischer Forschung erschließen. Die Probe auf’s Exempel macht Jens Schröter (79–96): Statt eines Konzeptes von Jesuserinnerung, das auf Augenzeugen als Garanten zuverlässiger Überlieferung setzt, betont er die Freiheit und Lebendigkeit der Erinnerung bzw. Vielfalt an Erinnerungen an Jesus. Nach Ansicht von Jörg Frey (261–284) spielt die Kategorie des Erinnerns im Johannesevangelium eine wichtige Rolle, aber weder im Sinne von Augenzeugen – diese erfassen gar nichts – noch im Sinne eines sozialen Gedächtnisses von einer bestimmten oder für eine bestimmte Gruppe. Entscheidend sei vielmehr der Heilige Geist, der die Erinnerung an den Gottessohn auf Basis der Schrift ermöglicht. Vollkommen zu Recht versteht Daniel Marguerat (157–175) das lukanische Doppelwerk als zweipolig konstruierte Erzählung, die um die Erinnerung an Jesus, bezeugt durch die Apostel, insbesondere Paulus, kreist.
Dass gedächtsnistheoretische Überlegungen aber nicht nur für die Beschäftigung mit den Evangelien, sondern auch für Briefe und Briefcorpora fruchtbar gemacht werden können, kann Judith M. Lieu (133–143) plausibel machen. Dementsprechend weist Simon Butticaz (99–131) auf, wie angesichts der Krise der 60er Jahre (Tod der ersten Generation; Zerstörung des Tempels) Paulus zu einer Erinnerungsfigur und sein Briefcorpus zu einem Erinnerungsort werden konnte. Paradigmatisch vorgeführt wird das am Beispiel des Kolosser- und Epheserbriefes von Andreas Dettwiler (285–311), der beide Briefe als Theologie der durch den leidenden und inspirierten Paulus geprägten Erinnerung deutet.
Die übrigen Artikel loten dieses Feld für Autoren des 2. Jh.s weiter aus, passen die Fragestellung ebenfalls ihren Interessen an. So geht es Christoph Markschies (145–154) gerade nicht um die Konstruktion einer durch Erinnerung geprägten Gruppenidentität, vielmehr will er klären, mit welchen literarischen Stilmitteln Irenaeus Erinnerung konstruiert. So kann er zeigen, dass für Irenaeus die entindividualisierten Apostel die Brücke zwischen mündlicher Verkündigung und schriftlichen Evangelien bilden. In ähnlicher Weise stellt Claudio Zamagni (177–192) dar, wie unterschiedlich Apg, Clemens v. Rom, Ignatius von Antiochien, Justin und Ire-naeus, eine ideale Vergangenheit mittels Riten und Lehren konstruieren. Besonders spannend in dieser Hinsicht ist natürlich Marcion, weil er – wie Enrico Norelli (193–217) überzeugend nachweisen kann – zur Stärkung der marcionitischen Kirche ausschließlich auf schriftlich überlieferte Texte zurückgriff. Die Kreativität Hegesipps, mit der dieser das in Jerusalem und Galiläa verbreitete Mo­dell der Legitimität, das auf Blutsverwandtschaft mit Jesus beruhte, mit der in Rom und Korinth vertretenen Nachfolge der Apostel verbunden hat, erläutert schließlich Cecilia Antonelli (219–257). Letztlich sei das auch der Grund, warum Euseb Hegesipp in seine kirchengeschichtliche Darstellung aufgenommen habe.
Der Band vereint höchst interessante Aufsätze, die in unterschiedlicher Weise kulturwissenschaftliche Perspektiven bzw. Konzeptionen von Erinnerung und Gedächtnis aufnehmen. Auch wenn diese selbst dehnbar sind und nicht alle Beiträgerinnen und Beiträger darunter dasselbe verstehen, erweisen sie sich dennoch insofern als fruchtbar, als sie es ermöglichen, die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit dynamisch zu beschreiben und als sozial vermittelt zu erforschen, solange präzise nach Akteuren, Kontexten und Medien gefragt wird.