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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

191–195

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weidemann, Hans-Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Der Name der Jungfrau war Maria« (Lk 1,27). Neue exegetische Perspektiven auf die Mutter Jesu.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2018. 421 S. = Stuttgarter Bibelstudien, 238. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-460-03384-9.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Beiträge dieses Bandes, hervorgegangen aus der Arbeit des Tübinger Oberseminars von Michael Theobald, verdanken sich auf vielfältige Weise mariologischen Impulsen – so wie sie in der katholischen Frömmigkeit bis heute selbstverständlich und wirksam sind. Sie werden zum Anlass, das Bild der Maria im Neuen Testament noch einmal neu in den Blick zu nehmen und gleichsam »von den Rändern her« zu erfassen. Dabei soll es weder um eine Rekonstruktion der »historischen Maria«, noch um die Absicherung lehramtlicher Aussagen, noch um ein Kaleidoskop eigenständiger »Porträts« gehen. Vielmehr richtet sich das Interesse darauf, die Erzählfigur der Mutter Jesu in ihren vielfältigen neutestamentlichen Kontexten aufzuspüren. Wenig überraschend liegt ein Schwerpunkt auf dem lukanischen Werk, das hier die meisten Anhaltspunkte zu bieten hat. Dabei zeigt sich, dass die dogmatischen Entwicklungen späterer Jahrhunderte immer wieder im Hintergrund der Beiträge auftauchen und deutlich machen, wie viel Brisanz gerade hier in den exegetischen Einzelentscheidungen steckt.
Michael Theobald, »›Siehe, die Jungfrau wird empfangen‹ (Jes 7,14). Die ›Geburtsankündigungen‹ Mt 1,18–25/Lk 1,26–38 im Licht ihrer schrifthermeneutischen, religionsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen«, eröffnet mit seiner umfangreichen Untersuchung den Band. In Gestalt einer haggadischen Erzählung nehmen Matthäus und Lukas die »Geburtsanzeige« aus Jes 7,13–14LXX auf und setzen sie »im Blick auf die messianische Bedeutung der Person Jesu narrativ in Szene« (20). Sie verfahren dabei unabhängig voneinander – Matthäus unter Verwendung mündlicher Tradition, Lukas eher auf der Basis schriftgelehrter Auslegung, in jedem Falle aber den gesamten Kontext von Jes 7 mit einbeziehend. Die Funktion der Gattung »Geburtsankündigung« besteht darin, die künftige Bedeutung des Kindes zu betonen. Aus dem religionsgeschichtlichen Umfeld erweisen sich neben Plutarch vor allem die Ausführungen Philos zu den Patriarchenfrauen in De cherubim und die Allegorese des Paulus in Gal 4 als relevant. Beachtung verdient zudem, was das antike anthropologische Wissen an Vorstellungen zum Thema Geburt bereithält. Aus alledem ergibt sich, dass eine Rückführung beider Geburtsankündigungen auf palästinische Familientradition heute endgültig verstellt ist. Hermeneutisch plädiert der Autor deshalb für eine »zweite Naivität«, die in den Erzählungen vor allem die »Botschaft von der Gnade Gottes, die Neues schafft« bzw. eine narrative Inszenierung des Bekenntnisses zur Gottessohnschaft Jesu erkennt.
Hans-Ulrich Weidemann, »›Embedding the Virgin‹. Die Jungfrau Maria und die anderen jüdischen asketischen Erzählfiguren im lukanischen Doppelwerk«, setzt als Herausgeber des Bandes einen besonderen Akzent: Maria sei als Exponentin einer von Lukas favorisierten Frömmigkeit zu begreifen, die sich vor allem durch eine asketische Lebensweise (Sexual-, Nahrungs-, Schlafaskese) auszeichne. Diese Frömmigkeit sei sowohl an den lukanischen Erzählfiguren abzulesen wie auch in der lukanischen Logienüberlieferung nachzuweisen. Gegenüber dieser These erwacht mein Wi-derspruch, den ich im Folgenden etwas ausführlicher begründen möchte.
Üblicherweise meint »Askese« eine bewusste Übung der Selbstbeherrschung (meist als Verzichtsleistung) zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Eine solche Praxis aber ist der alttestamentlich-jüdischen wie auch der frühchristlichen Frömmigkeit grundsätzlich fremd. Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut – davon zeigt sich auch noch die christusgläubige Gemeinde der dritten Generation überzeugt (1Tim 4,4). Verzichtsleistungen finden sich als Ausdruck der Selbstminderung im Zusammenhang von Trauerriten oder im Kontext des Nasiräats. Der Nasiräer aber ist kein Asket, sondern ein Gottgeweihter. Er verzichtet für eine bestimmte Frist auf Rauschtrank, Körperpflege und Verunreinigungen; Nahrung, Schlaf oder Sexualität sind darin jedoch nicht einbezogen. Askese hingegen als programmatischer Verzicht, der Sexualität und Nahrung grundsätzlich in Frage stellt, setzt eine andere Sicht auf den Menschen voraus, die sich nicht jüdisch-christlicher Schöpfungstheologie, sondern platonischer Anthropologie verdankt. Da, wo Seele und Leib voneinander geschieden werden, ist die Beherrschung und Überwindung des Leibes mit allen seinen Bedürfnissen die unvermeidliche Konsequenz.
Genau das ist auch der Ansatz des profilierten Platonikers Philo, der deshalb als Kronzeuge für »Askese« bei Lukas nur sehr bedingt taugt. Dazu ist Lukas selbst viel zu tief in alttestamentlich-jüdischer Theologie verwurzelt! Was die Essener betrifft, so sind sie von Plinius d. J. in der Außenwahrnehmung wohl gründlich missverstanden worden, und auch Josephus ist in ihrer Beschreibung kritisch zu lesen. Denn die Texte aus Qumran zeigen nur eines: Bei den Essenern praktizierte man sehr wahrscheinlich die Einzigehe. Das ist im damaligen Judentum schon auffällig genug. Sexuelle Enthaltsamkeit aber, die es natürlich immer und zu allen Zeiten gegeben hat, bleibt ein Randphänomen bzw. eine individuell bestimmte Ausnahme. Das gilt auch für die Frage nach Nahrung und Besitz überhaupt. Die These einer »asketischen Tendenz« bei Lukas ist ja nicht neu. Schon 1897 nannte J. H. Holtzmann in seinem »Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie« den dritten Evangelisten einen »der asketischen Weltbetrachtung huldigenden Evangelisten« mit »häufig wiederkehrenden Anwandlungen von Schwärmerei für Armut und Weltflucht« und diagnostizierte bei ihm aufgrund der »ebionitischen Stücke« eine spezifische »Armenfrömmigkeit«. Das aber war schon damals falsch. Für Lukas hat Armut ganz klar keinen Wert an sich, sondern ist ein Übel, das nach Gottes Willen überwunden werden soll! Seine Option gilt den Armen, nicht der Armut! Die Ethik des Teilens im Bedarfsfall (die etwas anderes ist als »Gütergemeinschaft«) zielt darauf ab, dass es in der Gemeinde »überhaupt keine Bedürftigen« mehr gibt (Dtn 15,4/Apg 4,34)! Auch die »Abrüstung« der ausgesandten Schüler (Lk 9,3–4/10,4–8) ist nicht etwa Ausdruck eines Armutsideals, sondern eine Art prophetischer Zeichenhandlung. Dass man in späterer Zeit, als das asketische Ideal in der Kirche bereits zu erster Blüte gelangte, dann auch eine ganze Reihe biblischer Texte unter genau diesem Vorzeichen bzw. eben durch die asketische Brille gelesen hat, steht auf einem anderen Blatt.
Zurück zu Maria: Ist sie für Lukas wirklich die herausragende Exponentin eines ganzen Netzwerkes von Erzählfiguren, die sich alle durch eine »asketische« Lebensweise auszeichnen? Ich meine – nein. Dass die lukanischen Erzählfiguren für ein bestimmtes religiöses Milieu stehen, ist von jeher aufgefallen. Sie werden »fromm und gerecht« genannt, leben nach der Tora, erwarten »die Tröstung Israels« bzw. »die Erlösung Jerusalems«. In ihrer Frömmigkeit verdichtet sich die lange Hoffnungsgeschichte Israels, wobei auch zahlreiche narrative Reminiszenzen anklingen. Aber ist diese Frömmigkeit eine »asketische«? Elisabeth und Zacharias würden kaum ein Kind von Gott erfleht haben (Lk 1,13), ohne selbst das Ihre dazu beizutragen; Simeon ist offenbar hochbetagt, und Hanna ist eine Witwe »an die 84 Jahre«; über den Ehestand des Täufers wissen wir nichts, und dass er in der Wüste (wie Jesus und lange vor ihm Elia auch schon) nur wenig isst und trinkt, liegt primär daran, dass es dort schlicht und einfach nichts gibt. Die Nachfolge Jesu, die als eine Form von »Wanderradikalismus« den Bruch mit den Oikos zwangsläufig erfordert, begründet kein allgemeingültiges neues Ethos, sondern eine befristete Lebensform für einen begrenzten Schülerkreis; spätestens nach Ostern finden die Familien wieder zusammen (was Paulus dokumentiert und auch Lukas ganz gewiss weiß). Oder sollte man bei Ehepartnern, die heute auf Dienstreise sind, ebenfalls von bewusster »Askese« sprechen? Ist der äthiopische Finanzminister wirklich ein Kastrat im buchstäblichen Sinne, oder trägt er nicht nur einen Beamtentitel?
Bei Figuren wie Apollos, Philippus oder Stephanus läuft die Argumentation auf einen Zirkelschluss hinaus: Ihre Begabung mit dem Geist Gottes sei ein Zeichen dafür, dass sie sexuell enthaltsam lebten – zumindest schon seit längerer Zeit. Aber ist Enthaltsamkeit denn eine zwangsläufige Voraussetzung für Geistempfang? Basiert diese Anschlussthese, dass sexuelle Aktivität und Geistbegabung einander ausschließen, nicht lediglich auf einer negativen Bewertung von Sexualität? Auch die Beispiele aus der Logienüberlieferung vermögen die These »asketischer Frömmigkeit« bei Lukas m. E. nicht zu stützen. Dass die Wachsamkeitsforderung auf »Schlafaskese« hinauslaufen soll, will mir nicht einleuchten, denn sie wird ja (auch im Gleichnis) nicht prinzipiell, sondern gleichsam »projektbezogen« angemahnt. Am weitesten gehen hier tatsächlich die Aussagen in der »Sadduzäerfrage« (Lk 20,34–36). Aber auch da liegt der Akzent am Ende auf der Vorstellung einer Existenz »in der Auferstehung«, die unter der Voraussetzung von Zeitlosigkeit einer Reproduktion des Menschen mittels Sexualität eben nicht mehr bedarf. Gerade angesichts einer Verschiebung der Parusieerwartung auf unbestimmte Zeit, wie sie bei Lukas zu beobachten ist, wäre die Ehelosigkeit als favorisierte christliche Lebensform keine besonders geschickte Option.
Was aber besagt das alles für Maria? Lässt sich aus dem lukanischen Erzählwerk herauslesen, dass sie in der Sicht des Evangelisten ein Leben in sexueller Askese geführt habe? Dass sie nach Lk 1,34 »von keinem Manne weiß«, liegt einzig daran, dass sie noch nicht verheiratet ist; ihre »Enthaltsamkeit« ist kein Programm, sondern das in dieser Lebensphase unbedingt zu erwartende Verhalten; dass sie in der Jerusalemer Gemeinde (Apg 1,14) offenbar wieder allein ist, verdankt sich am einleuchtendsten dem Verlust ihres Ehemannes; dafür hat sie Söhne und Töchter vorzuweisen, was kaum nach der Vorstellung einer bleibenden Enthaltsamkeit klingt. An ihrer »Jungfrauenschaft« ist Lukas auch ausschließlich um des Bezuges auf Jes 7,14 willen interessiert, nicht aber aufgrund ihrer Lebensweise. Kurz – dass Lukas mit seinen Erzählfiguren ein Netzwerk knüpft, in das auch Maria »eingebettet« ist, steht außer Frage. Dass wir in diesem Netzwerk jedoch die Keimzelle asketischer Frömmigkeit vor uns hätten, projiziert in die Texte zurück, was erst vom 2. Jh. an unter dem immer stärker werdenden Einfluss platonischen Denkens Einzug in die christliche Theologie hält; mit dem Enkratismus des 2. Jh.s und der asketisch-monastischen Bewegung des 3. Jh.s beginnt etwas kategorial völlig Neues.
Wilfried Eisele, »Krieg und Frieden. Maria, Elisabeth und die vielgepriesenen Frauen Israels (Lk 1,39–45)«, arbeitet auf überzeugende Weise jene Erinnerungen heraus, die in der Eulogie Elisabeths während der »Heimsuchungsszene« (Lk 1,39–45) an die Figuren Judit und Jaël aufgerufen werden. Die Thematik von Krieg und Frieden, die damit angerissen ist, mündet in die Botschaft: »Die Heimsuchung Gottes bringt seinem Volk Erlösung, Licht und Frieden.« (185) Ob bei Lukas auch schon die Eva-Maria-Typologie anklingt, wie sie unter Bezug auf Gen 3,15 erstmals bei Justin begegnet, ist eine andere Frage. Lukas kennt sie noch nicht, baut ihr aber mit seiner Erinnerung an die starken Frauen Israels gleichsam vor. Sie »treffen sich letztlich im kerygmatischen Grundanliegen der lkn. Kindheitserzählung, die im Herrn Christus Jesus den Sieg über die Mächtigen dieser Welt und mithin den Frieden auf Erden verkündigen will.« (196)
Aleksander R. Michalak, »The Angel Gabriel in the Lukan Infancy Narrative«, geht der auffälligen namentlichen Identifizierung des Verkündigungsengels bei Lukas nach. Zwei Erklärungsmöglichkeiten bieten sich an. Einerseits erscheint Gabriel in der jüdischen Tradition in militärischer Funktion; das verweist freilich weniger auf die gelegentlich vermuteten zelotischen Züge bei Lukas als vielmehr auf das Befreiungshandeln Gottes, das mit der Geburt des Kindes anbricht.
Andererseits könnte die Namensnennung auch darauf abzielen, die durchaus delikate Begegnung zwischen einer Jungfrau und einem Engel gegen alle Verdachtsmomente in Schutz zu nehmen: Gabriel gehört nach 1Hen zu jenen, die das Gericht an den gefallenen Wächtern (also jenen Engeln, die sich mit menschlichen Frauen verbunden haben) vollziehen.
Christina Betz, »Maria – ›Tochter Zion‹? Eine kritische Auseinandersetzung mit René Laurentins These zur lukanischen Kindheitsgeschichte«, fragt nach Maria als einer Repräsentationsfigur Israels. Laurentins These, Lukas stelle mit einem Midrasch unter Bezug auf Zef 3,14–17 die Mutter Jesu als »Tochter Zion« dar, hält einer exegetischen Überprüfung nicht stand. Dennoch zeigt das Magnifikat gerade darin, dass es weit über die persönlichen Lebensumstände der Maria aus Nazaret hinausgreift, an, dass Maria (mit G. Lohfink) zweifellos als »Figuration Israels« zu verstehen ist.
Andrea Ackermann, »›… und Maria dachte darüber nach‹. Be­kannte und neue exegetische Perspektiven auf Lk 2,19«, lässt sich von der EÜ, die das Partizip συμβάλλουσα in der genannten Weise übersetzt, zu weiteren semantischen Überlegungen anregen. Das führt zu dem Ergebnis, dass Maria auch in dieser nur scheinbar marginalen Wendung vorbildhaft und als Figur mit eigenständiger theologischer Kompetenz dargestellt wird: »Wie sie sollen die Hörerinnen und Hörer die ihnen verkündete Frohe Botschaft ›im Herzen bewahren‹ und über das Gehörte und das ›Wesen‹ Jesu Christi nachdenken, sich immer wieder damit auseinandersetzen und dadurch – auch theologisch – gute Frucht bringen (vgl. Lk 8, 15).« (257)
Marcel Dagenbach, »Mater Dolorosa«, befasst sich mit Lk 2,33–35 als dem ohne Frage wichtigsten Haftpunkt für das Bild der leidenden Mutter Jesu. Strittig bleibt, was genau unter jenem »Schwert« zu verstehen ist, das Marias »Seele durchdringen« werde. Der Beitrag bietet dazu einen Durchgang durch die Forschungsgeschichte und referiert alle Deutungen, die hier das künftige Geschick der Maria wie auch des Volkes oder der Gemeinde zu konkretisieren versuchen. Als wichtig erweist sich die Beobachtung, dass mit dem Begriff ῥομφαία das Gerichtsschwert assoziiert wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Voraussage des Simeon Leben und Sterben Jesu gleichermaßen in den Blick nimmt und schon in der Kindheitsgeschichte eine Perspektive eröffnet, die den Weg des Messias Israels als einen Leidensweg darstellt.
Aphrodis Nizeyimana, »Joseph, the Legal Father of Jesus the Messiah (Mt 1,18–25)«, konfrontiert die hohe Wertschätzung, die Joseph besonders in der katholischen Frömmigkeit genießt, mit seiner auffällig sparsamen Darstellung in den Evangelien. Immerhin bietet Matthäus drei Charakteristika auf, an denen die theologisch bedeutsamen Konturen von Josephs Persönlichkeit sichtbar werden: seine davidische Abstammung, seine Gerechtigkeit, seine Sorge für Mutter und Kind. Dadurch, dass er in den Plan Gottes einstimmt, wird er zu einem wichtigen Teil in der Geschichte des Messias Israels.
Philipp Kästle, »Die Mutter Jesu im Johannesevangelium. Zeugin des irdischen Wirkens und Garantin der sarkischen Existenz Jesu«, widmet sich den beiden, jeweils an Schlüsselstellen platzierten Szenen mit der Mutter Jesu bei Johannes. Von Interesse ist dabei vor allem die Familienthematik, so dass auch Joh 7,2–9 in die Untersuchung einbezogen werden muss. Die Frage, ob die Mutter auf Seiten des Glaubens oder des Unglaubens steht, ist in der Gesamtperspektive zugunsten ihres Glaubens zu beantworten. Über die Brüder Jesu aber wird ein Urteil gesprochen, das im Neuen Testament an Schärfe seinesgleichen sucht. Im Blick auf die Figur der Mutter gilt: »Matrix aller Rezeption und Interpretation muss die christologische Ausrichtung sein, die der Erzählfigur der Mutter Jesu zugrunde liegt.« (330) Entscheidend ist die Zeugenfunktion, mit der sie das gesamte Leben ihres Sohnes umfasst.
Adrian Wypadlo, »›Geworden aus einer Frau‹ (Gal 4,4). Ein mariologischer Splitter bei Paulus?«, nimmt die vieldiskutierte Frage auf, inwiefern Paulus in Gal 4,4 das Thema der Inkarnation reflektiere. Greift der Apostel hier auf »Traditionsgut« zurück, oder formuliert er eigenständig? Die tief in die paulinische Argumentation eindringende Studie gelangt zu einem sorgfältig abgewogenen Ergebnis. Die Rede von einer »paulinischen Mariologie« ginge über den Befund des Textes hinaus. Statt über Zeugung nachzudenken, ist Paulus vor allem an der »Sendung« des Sohnes interessiert. Dessen Eintreten in die volle Menschlichkeit stellt jedoch eine wichtige Voraussetzung der paulinischen Rechtfertigungstheologie dar und ist deshalb ein unverzichtbarer Bestandteil des Gedankenganges von Gal 3–4. »Von hier aus ist es richtig, dass dieser kleine ›mariologische Splitter‹ des Corpus Paulinum vollständig einer christologischen, im Dienste der Rechtfertigung aller Glaubenden (auch der Heidenvölker) stehenden Aussage untergeordnet ist …« (361).
Christoph Schaefer, »›Und sie gebar einen Sohn …‹ (Offb 12,5). Geburts-Christologie und Mariologie in der Johannesoffenbarung?«, knüpft an die Popularität der »Sternenfrau« aus Offb 12,5 als mariologisches Symbol in der christlichen Ikonographie an. Im Text trägt »Maria« zunächst nicht den Ton. Unabweisbar ist hingegen die christologische Deutung des Verses. »Das Geburtsmotiv verweist sowohl auf den Tod Jesu, als auch auf seine Auferweckung – und nicht zuletzt eben auch darauf, dass Jesus als Mensch geboren wurde und gelebt hat. Der Vers nähert sich dem österlichen Geheimnis, ohne dass er eindeutige Festlegungen ermöglichen würde.« (380) Auf diese Weise scheint Offb 12,5 auch den Gedanken zu bestätigen, dass die »Geburtschristologien« eines Matthäus und Lukas erst aus der urchristlichen Deutung des Ostergeschehens hervorgegangen sind. In diesem beziehungsreichen Komplex kommt Maria dann erst in dem erweiterten Kontext einer kanonischen Perspektive wieder in den Blick.
Michael Estler, »Die drei Marien und die Verwandtschaft Jesu. Der Sippenaltar von Weil der Stadt«, schlägt ein faszinierendes Kapitel der Rezeptionsgeschichte auf. Der genannte Altar setzt die so genannte »Trinubiums-Legende« ins Bild, die sich seit dem 15. Jh. nachweisen lässt und die verwandtschaftlichen Beziehungen Jesu mit einer dreimaligen Heirat Annas zu erklären versucht. Auch wenn die exegetischen Bezugstexte eine solche Konstruktion nicht bestätigen, zeigt die am Altar visualisierte Legende doch das Bemühen, die leibliche Familie Jesu mit der »familia dei« im gottesdienstlichen Kontext in Beziehung zu setzen.
Mauritius Honegger OSB, »Die Schwarze Madonna aus biblischer Sicht«, führt in das Kloster Einsiedeln, wo das berühmte Andachtsbild einmal im Jahr mit einer lateinischen Antiphon besungen wird. Deren Text nigra sum et formosa nimmt Hld 1,5 f. auf. Angesichts des relativ freien Umgangs mit dem Bibeltext stellt sich die Frage, welche mariologische Aussage durch die Adaption dieses alten, erotischen Liedes intendiert wird bzw. wie heute damit umzugehen ist? Im Lichte seines ursprünglichen Kontextes bietet sich am ehesten das Magnifikat in Lk 1,46–55 als Korrespondenztext an: »Maria ist eine demütige Frau aus bescheidenen Verhältnissen, die von Gott für die außerordentliche Aufgabe ausgewählt wurde, Mutter seines Sohnes zu werden.« (417) Die Anspielung auf die Aufnahme in die Kammer des Bräutigams bleibt offen für den Gedanken der Himmelfahrt Mariens, zu deren Fest die Antiphon ursprünglich platziert war.
Die Lektüre dieses Bandes erweist sich als ausgesprochen anregend – vor allem für ein protestantisches Lesepublikum, das dem Thema der Mariologie einen anderen Stellenwert zumisst. Für das ökumenische Gespräch über Maria bietet der Band jedenfalls viele Impulse, die es unbedingt verdienen, aufgenommen und weiter diskutiert zu werden!