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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

177–179

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stievermann, Jan

Titel/Untertitel:

Prophecy, Piety, and the Problem of Historicity. Interpreting the Hebrew Scriptures in Cotton Mather’s ›Biblia Americana‹.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIII, 493 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 179. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-154270-1.

Rezensent:

Markus Wriedt

Seit 2011 ist Jan Stievermann Professor für die Christentumsgeschichte in den USA der Universität Heidelberg. Er ist in dieser Funktion der theologischen Fakultät zugeordnet. Neben anderen Projekten ist er der Executive Director der Biblia Americana, einer umfangreichen Bibelkommentierung durch den nordamerikanischen puritanischen Theologen Cotton Mather (1663–1728), vgl. ThLZ 138 [2013], 1361–1364; ThLZ 141 [2016], 1064–1068. Dieser um­fangreiche Bibelkommentar, der in insgesamt zehn Bänden mit über 10.000 Seiten wiedergegeben wird, entstand zwischen 1693 und 1728 und wird in einer größeren Kooperation gefördert durch die DFG aus den handschriftlichen Überlieferungen heraus ediert.
Im vorliegenden Band legt S. nun den erwartbaren theoretischen Ertrag dieser mühevollen Editionsarbeit vor. Für die meisten der wenigen Kenner der nordamerikanischen Theologiegeschichte während der englischen Kolonialzeit wird der Beginn des 18. Jh.s durch die Gestalt von Jonathan Edwards (1703–1758) überragt. Die durch ihn beeinflusste Erweckungsbewegung verdrängte aus dem Bewusstsein das nicht minder einflussreiche Wirken des vor ihm lebenden puritanischen Geistlichen Mather. Dessen von exzellenter Sprachkenntnis geprägte Auslegung thematisiert noch vor der Aufklärung zentrale Punkte der theologischen Reflexion, die sich in den Titelstichworten abbilden. Die gelehrte Kommentierung ordnet sich ein in die Streitigkeiten um den Wert des Alten Testaments für die Christen. Sie hatten sich in Fortsetzung der altkirchlichen und reformatorischen Kanon-Diskussion als Folge der beginnenden, frühaufgeklärten Historisierung des biblischen Materials (Richard Simon, sowie die reformierte Exegese um Hugo Grotius, Anthony Collins u. a.) ergeben. »Mather belonged to a generation of exegetes that was already confronted with far reaching historical challenges to the authority of the Bible, and the Hebrew Scriptures in particular.« (5) Mather vertritt streitbar und polemisch die Position, dass das Alte Testament die im Neuen Testament erfüllte Prophezeiung ent hält und autorisiert. Damit nimmt er auch zum zeitgenössischen Judentum eine spezifische Stellung ein.
Alle damit verbundenen Anfragen und Probleme kulminieren im Begriff der Historizität als alttestamentlichen Zeugnisses. In seiner strukturkonservativen Theologie wird Cotton Mather zu einem Apologeten der reformatorischen Schriftauslegung im Spannungsfeld von Verheißung und Erfüllung. Dieser Ansatz wendet sich nicht nur gegen eine hypertrophe historisch-literarische Kritik, sondern versucht auch die beginnende Erforschung der außerbiblischen Geschichte während der Entstehung der alttestamentlichen Bücher zu berücksichtigen und dabei der mit Erstaunen festgestellten Ergänzung der prophetischen Aussagen durch historische Zeugnisse jenseits des biblischen Textes Raum zu geben. S. rekonstruiert, wie die unübersehbare Spannung zwischen historischer Kritik und Wissensvermittlung mit der wie selbstverständlich vorausgesetzten allegorischen Schriftauslegung ausgehalten bzw. entschärft wird. Zugleich ist er bestrebt, die Auswirkungen der zeitgenössischen Frömmigkeit und Devo-tion in eine lebendige Beziehung zur biblischen Kommentierung Mathers zu setzen.
In seiner vorzugsweise auf den fünften Band der Gesamtedition rekurrierenden Forschung sieht S. eine dreifache metonymische Perspektive: Zunächst interpretiert er die Kommentare zu den Proverbien, Prediger Salomos, Hohelied, Jesaja und Jeremia als Beispiel des Umgangs mit der Hebräischen Bibel im Christentum. Sodann besteht ein Ertrag der Forschung darin, dass Mather sehr viel breiter in die Theologie Neu-Englands eingebunden ist, als dass man seinen Kommentar als biblizistischen Puritanismus abwerten könnte. Schließlich beleuchtet die Untersuchung eine bislang in der Forschung weitgehend unbeachtete Phase der Ausbildung einer eigenständigen Theologie zwischen dem Ende der Konfes-sionalisierung und den Aufbrüchen des 18. Jh.s. Dabei sollte die Exemplarität Mathers nicht überstrapaziert werden. Er ist ein wichtiges Beispiel für einen Strang kolonialer protestantischer Theologie, der neben anderen zu berücksichtigen ist. In seinem Kommentar verbinden sich reformiert-orthodoxe Wiederbelebung erfahrbarer Frömmigkeit und Spiritualität (revivalism), die er später als »american Pietism« bezeichnet, und dabei eine schleichende Emanzipation von den kontinentalen Vorgaben.
Die Studie ist in sechs Teilen angelegt. Der 1. Teil rekonstruiert die Besonderheit des Kommentars im Kontext anderer Bibelinterpretationen. Der 2. Teil identifiziert das exegetische Grundmuster der behandelten alttestamentlichen Bücher in Verbindung mit der Diskussion von Autorschaft, Herkunft und literarischem Genre. Im 3. Teil wird der Konflikt zwischen aufkommender historischer, länderkundlicher und geographischer Forschung mit den biblischen Aussagen erörtert. Teil 4 diskutiert sodann die Probleme des Umgangs mit der Historizität des alttestamentlichen Zeugnisses der Propheten und der weisheitlichen Bücher. Im 5. Teil wendet sich S. der von Mather geleisteten Auslegung der Propheten in ihrer Bedeutung für das Geschichtsbild und als Verheißung für die neutestamentliche Botschaft zu. Teil 6 zieht daraus die hermeneutische Quintessenz.
Die Arbeit zeigt Cotton Mathers Biblia Americana als eine Mo­mentaufnahme der langsamen, aber unaufhaltsamen Transformation reformierter Orthodoxie unter den Bedingungen der beginnenden historischen Kritik und frühaufgeklärten Ansätzen: »A new ideal of independent judgement informed by autonomous reason and textual and historical evidence was emerging, regardless of whether such judgments put the critic at odds with tradition, or even with the most fundamental teaching about the Bibel and the Christian Faith.« (413) Seine Position ist apologetisch gerade im Blick auf die orthodoxe Lehre. Gleichwohl greift er mit seinen Kommentierungen in eine äußerst lebenspraktische, dem alltäglichen Glauben zugewandte Debatte ein. Zeitgenössische Kommentare nimmt er kaum zur Kenntnis; Ausnahme Simon Patrick und William Whiston. So entwickelt er etwas, das bei S. mit »apologetischer Kritik« ( apologetically-oriented criticism, 414 u. ö.) bezeichnet wird. Der Kommentar Mathers wird als Antwort auf die hochkomplexen Debatten um das Alte Testament als christliches Zeugnis inter-pretiert. Analogien zu gegenwärtigen Debatten genau dazu sind sicherlich völlig unbeabsichtigt, aber nicht zu übersehen. Damit erhält die historische Untersuchung – möglicherweise ungewollt – eine hohe Aktualität. Sie kann systematisch in der Berücksichtigung des historischen Realismus innerhalb der struktur-konservativen Hermeneutik Mathers gesehen werden. Die Forderung nach historischer Evidenz sah er nicht im Widerspruch zu seiner Schriftauslegung: »Mather represented the new Baconian approach in Christian apologetics.« (420) Das bewährt sich gerade in den Kommentierungen der Bücher der Propheten Jesaja und Jeremia.
Die sich aufdrängende Frage nach den Vollzügen und Ergebnissen des theologischen Wissenstransfers zwischen dem europäischen und dem nordamerikanischen Kontinent beantwortet S. entgegen des Trends des Kulturtransferparadigmas. Er sieht in Mather eine darüber hinausgehende Synthese: »If Mather is still to be view-ed as the archetypical Puritan forerunner of later trends in American cultural life at all, he should be seen as an early example not of intellectual nationalism but of a religiously inspired, utopian cosmopolitanism.« (425) Mather fühlt sich laut S. als Mitglied einer die nationalen Grenzen überschreitenden »Gelehrtenrepublik« ( republic of letters) und präfiguriert damit durchaus auch die sich ab­zeichnende Verbundenheit aufgeklärter Kreise in England, Frankreich und später auch Deutschland.
S.s Buch ist ein beredtes Zeugnis für die nachhaltige Bedeutung auslegungsgeschichtlicher Untersuchungen. In diesem Fall wird das Verhältnis zwischen kontinental-europäischer und nordamerikanischer Schriftauslegung in einem Zeitraum interpretiert, der gemeinhin nicht zu den Brennpunkten theologiegeschichtlicher Forschung zählt. Neben der – koinzidentiellen – Aktualität wird auch sichtbar, dass die traditionellen Charakterisierungen der Theologiegeschichtsschreibung im Zeitalter der konfessionellen Orthodoxie ungeeignet sind, die Eigentümlichkeiten der Zeit treffend zu erfassen. Mather ist ein gutes Beispiel für eine Position »on the fence« zwischen der Bewahrung doktrinärer Überzeugungen, dem Herandrängen innovativer und theologisch nicht intendierter Forschung und einer die alltägliche Lebensorientierung betreffenden schriftauslegenden Erbaulichkeit. Eine bemerkenswerte Studie, die der Lektüre des groß angelegten Editionswerkes die Tür zu öffnen vermag. Dass vor diesem Hintergrund der Abschluss der Edition der »Biblia Americana« und ihre weit gestreute Wahrnehmung nur zu wünschen ist, versteht sich fast von selbst.