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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

173–177

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kulik, Alexander, and Sergey Minov

Titel/Untertitel:

Biblical Pseudepigrapha in Slavonic Traditions.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2016. 224 S. Geb. US$ 140,00. ISBN 978-0-19-959094-0.

Rezensent:

Christfried Böttrich/Sabine Fahl/Dieter Fahl

Die so genannten »Alttestamentlichen [hier: Biblischen] Pseudepigraphen« stellen bekanntlich ein ausgesprochen disparates Korpus dar. Zu ihren größten Sorgenkindern gehören dabei jene Texte, die in kirchenslavischer Übersetzung überliefert sind: Häufig fehlen hier die griechischen Vorlagen, liegen weit voneinander abweichende Rezensionen vor oder beherrschen Textverderbnisse die Überlieferung. Vor allem aber lässt sich bei Texten, deren handschriftliche Überlieferung erst im 13./14. Jh. einsetzt, nur schwer zwischen einer (gelegentlich) postulierten jüdischen Grundschrift und späteren christlichen (byzantinisch/slavischen) Redaktionsstufen unterscheiden. Stets sind es klar erkennbare christliche In­teressen, denen die betreffenden Schriften ihr Überleben verdanken. Der Titelbegriff »Biblische« Pseudepigraphen ist deshalb mit Bedacht gewählt, denn gerade die neutestamentliche Perspektive auf die Weltschöpfung, auf Adam und Eva, den Paradiesesbaum, die Hölle, die Arche Noahs oder die Leiter Jakobs erweisen sich darin als dominant; Texte auf der Basis originär neutestamentlicher Stoffe kommen hinzu.
Die vorliegende Textsammlung von Alexander Kulik und Sergey Minov zeichnet sich dadurch aus, dass sie (im Unterschied zu anderen) eher seltene, schwer erreichbare Texte präsentiert. Kulik (Jerusalem) gilt seit vielen Jahren als einer der führenden Experten auf diesem Gebiet. Als Herausgeber der Reihe »Judaeo-Slavica« (Brill) überschaut er das ganze weitläufige Literaturgebiet zwischen Judaistik und Slavistik und hat selbst eine Reihe tiefbohrender Studien dazu vorgelegt.
Die Textauswahl wird in dem vorliegenden Band in mustergültiger Methodik erschlossen: eine kurze Einleitung führt in die Schrift und ihre Problematik ein, listet (nach Rezensionen gegliedert) die Handschriften auf, verzeichnet Editionen, Übersetzungen und Studien, bietet sodann eine Edition des slavischen Textes (ge-legentlich mehrspaltig, in Synopsen verschiedener Redaktionen) und fügt eine englische Übersetzung hinzu, die eine erste Probe aufs Exempel der Edition liefert; schließlich wird jede Schrift noch einmal kommentiert und in den weiten Kontext der jüdisch-byzantinisch-slavischen Apokryphenliteratur eingeordnet. Diese Kommentare eröffnen ein Gespräch, das nun auch substantiell auf einem ganz neuen Niveau geführt werden kann. Im Folgenden sollen die einzelnen (weitgehend unbekannten) Texte nur kurz vorgestellt werden.
1. Über die Weltschöpfung: In zwei Rezensionen vorliegend versammelt dieser Text apokryphe Motive zur Schöpfungsgeschichte. Dabei geht es um Kosmogonisches und Kosmologisches, die Sonnenengel und ihre spezifische Aufgabe, das Bad der Sonne im Meer und das dadurch ausgelöste Krähen der Hähne am Morgen (wie in 3Bar und 2Hen), die Lage von Paradies und Hölle, den Ursprung von Licht und Winden und vieles mehr. Dem Ton nach ist der Text eher ein Kommentar, der den Bibeltext ergänzt. Durchgängig wird das Schöpfungsgeschehen in das Licht christlicher Trinitätstheologie getaucht.
2. Die Erschaffung Adams: Diese kurze Erzählung weist viele folkloristische Züge auf. Gott erschafft den Menschen aus acht Bestandteilen und setzt den Namen »Adam« aus den vier Himmelsrichtungen zusammen (wie in 2Hen). Der Teufel versucht indessen, Gottes Werk zu stören, und attackiert den noch wehrlosen Menschen. Der träumt unterdessen von seinem Fall und von seiner künftigen Erlösung, die 5500 Jahre später durch Christus erfolgen werde. Dies alles schöpft mit vollen Händen aus dem Fundus der weit verbreiteten christlichen (sekundären) Adamliteratur. Ein Appendix fügt weitere Überlieferungen zu dem Motiv des »Adam Septipartite/Octipartite« hinzu.
3. Adams Vertrag mit Satan: Auslöser dieser Episode ist die Exegese von Kol 2,14 und jener geheimnisvollen »Handschrift/ Schuldschrift«, die dort am Kreuz Christi erlischt. Dafür wird nun eine Erklärung geliefert: Satan hindert den gerade aus dem Paradies Vertriebenen an der Bearbeitung des Ackers, es sei denn, dass der sich ihm als dem Herren der Erde per Kontrakt übereignen würde. Adam unterzeichnet daraufhin dieses Schriftstück mit der Formel: »Wer auch immer Herr der Erde ist, dem gehören ich und meine Kinder« – wohl wissend, dass Christus auf die Erde kommen, sie in Besitz nehmen und ihn erlösen werde. Das verhängnisvolle Dokument aber bleibt im Jordan unter jenem Stein aufbewahrt, auf dem Christus später bei seiner Taufe stehen wird. Eine andere Fassung verbindet den Kontrakt nicht mit dem Ackerbau, sondern mit der Qual, die das Kind Kain der stillenden Eva verursacht und von der Satan die Mutter zu befreien verspricht – gleichsam als Pendant zu seiner Forderung an Adam.
4. Die Erzählung vom Kreuzesholz: Diese ausgesprochen komplexe, in drei Hss-Gruppen vorliegende und synoptisch präsentierte Überlieferung, die sich als Homilie Gregors von Nazianz gibt, handelt von der abenteuerlichen Vorgeschichte der drei Kreuze auf Golgatha. Sie beginnt bei dem Baum des Sündenfalls im Paradies, von dem der sterbende Adam durch seinen Sohn Seth Zweige erhält. Diese Zweige/Bäume/Sprösslinge/Holzstücke begleiten fortan die Geschichte Israels, verbinden sich mit den Wegen des Loth, des Mose und schließlich mit Salomos Tempelbau. Die Ursprungsidee liegt in der jüdischen (primären) Adamliteratur, von der sie sich jedoch weit entfernt. Mit viel Phantasie wird die Geschichte auf zum Teil bizarre Weise ausgesponnen und auf den Gleisen christlich-typologischer Exegese vorangetrieben. So zieht sie auch weitere Motive (wie das vom Grab Adams auf Golgatha) an sich und erweist sich darin als Sammelbecken volkstümlicher Soteriologie.
5. Die Petition Adams an Lazarus in der Hölle: Ganz im neutestamentlichen Kontext angesiedelt liefert dieses kleine Apokryphon, als Homilie am Lazarus-Sonntag stilisiert, die Vorgeschichte zum Höllenabstieg Christi, von dem in EvNikod 17–27 zu lesen ist. David prophezeit im Hades das baldige Kommen des Erlösers, woraufhin Adam dem kurz vor seiner Auferweckung stehenden Lazarus eine Petition an denjenigen mitgibt, der ihn vom Tode befreien wird. Die mündet, nach langen Begründungen, in die Bitte ein: »Komm bald und befreie uns, Herr!« In der längeren Rezension wird dann mit der Auferweckung des Lazarus auch der Erfolg dieser Unternehmung berichtet – und eine Botschaft in umgekehrte Richtung durch den Geist Christi an Adam übermittelt, die ihm seine baldige Erlösung in Aussicht stellt.
6. Das Tiberiasmeer: Mit diesem relativ umfangreichen Text liegt eine von zwei als authentisch bogomilisch geltenden Schriften vor. Sie bietet zunächst einen dualistischen Schöpfungsmythos, von dem auch die Schrift ihren Titel bezieht; danach geht es um den Fall des Satanael aufgrund seiner Hybris, die Erschaffung des Menschen als eines homo septi-/octipartitus, den Sündenfall, Adams Kontrakt mit Satan, die Geschichte von Kain und Abel und schließlich die Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus. Dass hier viele ansonsten verstreute Überlieferungen zusammenfließen, liegt auf der Hand. Entsprechend groß ist auch die Vielfalt der Fassungen und Rezensionen, in denen diese Schrift existiert.
7. Über die Arche: Die Erzählung von Noahs Arche ist im Ganzen nur als Teil der Tolkovaja Paleja und der Apokalypse des Ps-Methodios überliefert. Dreimal versucht der Teufel, das Projekt zu verhindern: er konspiriert mit Noahs Frau, um Bauplan und Ort des Geschehens zu erfahren; er ersinnt eine List, um selbst in die Arche zu gelangen; er verwandelt sich schließlich in eine Maus, um ein Loch in den Schiffsboden zu nagen; dieser letzte Versuch wird ihm zum Verhängnis und führt zu seinem Ende. Eigenes Gewicht hat die zweifache Entsendung der Vögel. Die Geschichte endet mit dem Auszug aus der Arche und der Errichtung eines Altars.
8. Die Leiter Jakobs: Ebenfalls der Paleja entnommen, greift diese apokryphe Erzählung Gen 28 auf und gestaltet Jakobs Traum zu einer ursprünglich wohl jüdischen, später dann christlich fortgeschriebenen Apokalypse aus. Die Traumvision wird in höchst eigenwilliger Weise konkretisiert und beschrieben. Ein angelus interpres deutet dem Patriarchen auf dessen Gebet hin den Traum, der von fortschreitender Unterdrückung und schließlich von der Befreiung seiner Nachkommen kündet. Dieser letzte Text ist in der vorliegenden Sammlung zweifellos auch der theologisch bedeutendste und verdient deshalb eine etwas längere, kritische Würdigung. Etwa zeitgleich mit dem vorliegenden Band erschien eine deutsche Übersetzung der »Leiter Jakobs« mit ausführlichem Kommentar von den Autoren dieser Rezension (Böttrich/Fahl/ Fahl, Leiter Jakobs, JSHRZ.NF I/6, Gütersloh 2015), die teilweise jedoch zu anderen Ergebnissen gelangt ist. Leider hat es im Vorfeld keine Kommunikation mehr gegeben, die beide Projekte in den entscheidenden Sachfragen noch hätte befruchten können.
Die Vorstellung, die Kulik/Minov durch die Gegenüberstellung zweier Rezensionen (»Rezension A« nach der Polnaja Chronografičeskaja Paleja, »Rezension B« nach der Tolkovaja Paleja) vom Text der »Leiter Jakobs« erwecken, ist irreführend. Hier rächt sich, dass beide Autoren allzu sehr auf die Textfassung der Hs Nr. 619 der Sammlung Barsov aus dem Staatlichen Historischen Museum zu Moskau als Repräsentanten der »Rezension B« bauen – einer Hs, die den Übergang zwischen Tolkovaja Paleja (TP) und Polnaja Chronografičeskaja Paleja (PP) markiert. In dieser Hs wird die TP um etliche Zusätze erweitert, die später zum festen Bestand der PP gehören, weshalb Evgenij Vodolazkin Barsov 619 als »Rohfassung« der PP bezeichnet hat (vgl. Vodolazkin, Zu einer Rohfassung der Polnaja Chronografičeskaja Paleja und zum Verhältnis zwischen den verschiedenen Paleja-Redaktionen, in: TSAJ 140, Tübingen 2011, 453-470). Im Falle der »Leiter Jakobs« folgt Barsov 619 jedoch einem Zweig der TP-Tradition, der bereits einen Textverlust von einem folium erlitten hatte. (Den gleichen Zweig repräsentiert etwa die TP in der Hs Nr. 68 [1145] aus der Sammlung des Kirillo-Belozerskij-Klosters in der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg.) Das verlorene Blatt enthielt Text, der für die kleine Schrift von erheblichem Gewicht ist: den zweiten Teil der Engelrede in Bet El und die in dieser Rede des angelus interpres eingeschlossene christologische Fortsetzung des Apokryphons, eine christliche Fortschreibung des frühjüdischen apokalyptischen Textes. Im An­schluss daran setzt der für die TP typische Kommentar mit einer Anrede an einen fiktiven jüdischen Gesprächspartner ein; auch dieser Kommentaranfang stand noch auf dem fehlenden folium. Zufällig ergab sich aber dennoch aus den Worten am Ende des vorhergehenden und am Anfang des nachfolgenden Blattes ein vollständiger Satz, so dass das Fehlen von Text nicht sofort ins Auge sprang. Auf diese Weise sah sich der Redaktor der PP in der misslichen Lage, dass er TP-Kommentare zu Aussagen des angelus interpres fand, die in seiner Fassung der Rede gar nicht vorkamen. Aus den zu Beginn der einzelnen Kommentare zitierten Bestandteilen der Engelrede versuchte er, das Fehlende zu rekonstruieren und an ihm passend scheinenden Stellen in die Rede einzu-fügen. Da sich nun Kulik/Minov ausschließlich auf Barsov 619 und die PP-Rezension des Texts stützen (obwohl sie in ihrer Einführung zum Text eine ganze Reihe anderer Hss als mit berücksichtigt nennen), fehlt auch ihnen der Inhalt des besagten Blattes, so dass sie in ihrer englischen Übersetzung mit ähnlicher Mühe wie der PP-Redaktor um 1400 rekonstruieren, was sie in der kritischen Edition des vollständigen TP-Textes bei den Schülern Tichonravovs von 1892 oder auch in der von ihnen selbst angegebenen Erstedition der »Leiter Jakobs« nach der TP bei Tichonravov von 1863 hätten finden können. Dementsprechend leidet ihre Einordnung des Textes unter der mangelnden Kenntnis seiner chris-tologischen Fortschreibung.
Zudem wird der Irrtum aus der früheren Forschungsliteratur weiter tradiert, bei der TP-Rezension handle es sich um eine Erweiterung des PP-Textes. Tatsächlich sind dagegen sämtliche Abweichungen vom TP-Text in der insgesamt auf Vollständigkeit ausgerichteten PP-Rezension Zusätze. Dass die PP-Rezension in diesem Falle dennoch die kürzere ist, beruht einzig auf dem be­schriebenen ursprünglich mechanischen Textverlust. Im Übrigen füllt ihr Redaktor nach einer ihm offenbar noch vorliegenden separaten Fassung den Text der TP auf, wie es auch bei der Redaktionsarbeit an anderen Apokryphen der PP geschieht (vgl. die Übersicht zu den Rezensionen der »Leiter Jakobs« bei Böttrich/Fahl/Fahl, op. cit., 23–28).
Ein weiteres Problem stellt das konsequente Aussparen der Paleja-Kommentare aus dem Text in der Edition bei Kulik/Minov dar. Diese Zusätze des TP-Redaktors liefern nicht nur die ersten heute noch greifbaren Rezeptionsspuren, sondern durch ihre einleitenden Zitate aus dem Text oftmals auch wichtige Varianten. Eine vollständige kritische Edition der kirchenslavischen »Leiter Jakobs« ist inzwischen vorgelegt worden von: Fahl/Fahl, »Lestvica Jakova« (kritičeskij tekst), in: Trudy otdela drevnerusskoj literatury 65, Sankt-Petersburg 2017, 197–242 und 808–810.
Der Teufel steckt, wie man sieht, bei der »Leiter Jakobs« im Detail der Texterstellung nach der handschriftlichen Tradition. Wir können nicht ausschließen, dass ähnliche Probleme auch noch bei dem einen oder anderen der weiteren Pseudepigraphen lauern, da sie alle noch nicht in kritischen Editionen vorliegen. Das große Verdienst der vorliegenden Ausgabe besteht darin, dass hier trotz solcher Risiken zwei Autoren den Mut gefasst haben, diese außerhalb der slavischen Forschung noch kaum wahrgenommenen Texte überhaupt in Umlauf zu bringen und einen Überblick über die dazu bereits geleistete Arbeit zu vermitteln. In theologischer Hinsicht liegt die Bedeutung der »Leiter Jakobs« darin, dass sie – wenn die Zuordnung ihrer Grundschicht zur Tradition jüdischer Apokalyptik stimmt – die Konturen eines eigenwilligen und seltenen Zeugnisses für die Theologie des Judentums aus der Mitte des 2. Jh.s n. Chr. aufbewahrt hat. Und auch wenn die in diesem Band versammelten Texte bei der ersten Lektüre in vielerlei Hinsicht befremdlich erscheinen mögen und der folkloristische Ton gelegentlich die Fabulierlust ins Kraut schießen lässt, so sind diese Überlieferungen bei näherem Zusehen doch weit weniger naiv und schlicht, als es zunächst scheinen mag. Sie alle verdanken sich achtbaren theologischen Fragestellungen und verdienen, in ihrem Ringen um Antworten ernst genommen und studiert zu werden.
Die Aufmachung und Ausstattung des Bandes genügt einem hohen Standard. Man nimmt ihn gern zur Hand und wird durch ein lesefreundliches Layout sowie gediegene Indizes sicher durch einen bislang noch kaum erschlossenen Literaturbereich geleitet. In diesem Format wünscht man sich aus der Feder beider Autoren noch viele weitere Bände, denn diese kleine, exklusive Textsammlung offeriert nur einen Bruchteil der Schätze, die noch immer ungehoben im reichen Fundus der Slavia Orthodoxa schlummern.