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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

171–173

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hüttenhoff, Michael, Kraus, Wolfgang, u. Karlo Meyer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»… mein Blut für Euch«. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu heute.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 344 S. m. 26 Abb. u. 1 Tab. = Biblisch-theologische Schwerpunkte, 38. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-525-61621-5.

Rezensent:

Walter Klaiber

Die Diskussion um die Bedeutung des Todes Jesu geht weiter. Nachdem in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Sammelbänden zu diesem Thema erschienen ist, wird hier ein weiterer Band dazu vorgelegt. Er dokumentiert die Referate, die bei einem Symposion anlässlich des 60. Geburtstags von Prof. Wolfgang Kraus im Oktober 2015 gehalten wurden, und ist bewusst interdisziplinär ausgerichtet. Außer der Kirchengeschichte sind alle theologischen Fächer vertreten, und zu jedem Referat gibt es eine Response aus einem anderen Fachgebiet.
In einem kurzen Vorwort (11–16) charakterisieren die Herausgeber die einzelnen Beiträge und ziehen ein erstes Fazit der Tagung. Eröffnet wird der Band durch den Religionspädagogen Michael Fricke mit einem Überblick über die neuere Diskussion zum Thema (17–39). Er ist bemüht, die verschiedenen Positionen neutral darzustellen, plädiert aber am Schluss doch für die Entwicklung von Alternativen zu den traditionellen Aussagen und gegen die Beibehaltung »der Sühneopfervorstellung, die eine Gewalttat zur Heilstat umdeutet«. Nötig sei, »die christliche Religion lebensfreundlich weiterzuentwickeln« (38 f.). Dann kommt mit Christian Eberhart ein Alttestamentler zu Wort, der »Opfer, Sühne und Stellvertretung im Alten Testament« untersucht (40–55). Er kritisiert die »Tübinger Deutung« von Sühne und setzt an ihre Stelle ein Verständnis von Sühne als Reinigung. Die Vorstellung einer Stellvertretung komme in den Opferritualen des Alten Testaments nicht vor. Der Systematiker Michael Hüttenhoff bleibt in seiner Response (56–60) skeptisch. Er merkt u. a. kritisch an, dass diese Deutung des alttestamentlichen Befundes sich nicht mit grundsätzlichen Aussagen des Neuen Testaments zur Bedeutung des Todes Jesu vereinbaren lässt.
Jan Willem van Henten analysiert die Bedeutung von »Self-sacrifice and Substitution in Greek and Roman Literature« (61–89) und vergleicht das Ergebnis mit entsprechenden jüdischen Zeugnissen (vor allem in den Makkabäerbüchern). Karlo Meyer (90–96) greift diese Ergebnisse als Religionspädagoge auf und zeigt, dass das Thema Selbstopfer für andere in der heutigen Popularkultur sehr lebendig ist (z. B. Harry Potter). Jörg Frey stellt »die kultische Deutung des Todes Jesu« im Neuen Testament umsichtig und differenziert dar (97–117). Er unterstreicht ihre grundlegende Bedeutung als Darstellung »der in Christus ermöglichten Gottesgegenwart«, betont aber auch ihre Aporetik, sobald nach konkreten Details (wer opfert wem was?) gefragt wird. Christian Neddens (Systematische Theologie/Neues Testament) tritt in seiner Response (118–122) für die bleibende Bedeutung der kultischen Deutung ein und warnt vor einer pauschalen Verurteilung der Position Anselms von Canterbury.
Einen ganz neuen Horizont eröffnet Martin Karrer (Neues Testament) mit seinem Beitrag »Jesu Kreuz und des Menschen Leben und Sterben« (123–153). Ausgehend von der Frage: »Wozu ist Jesus gestorben« zeigt er an Beispielen bildender Kunst die Wirkungsgeschichte unterschiedlicher Aspekte der neutestamentlichen Aussagen auf. Das Kreuz ist Zeichen für die Schrecken des Todes wie für den Triumph des Lebens! Stefanie Lorenzen hält diese »finale« Deutung des Todes Jesu angesichts der »Plausibilitätsanstrengungen« der Religionspädagogik für schwierig (154–157).
In dem Artikel »Nicht nur ein Sündenbock« spricht Józef Niewiadomski über »Opfer und Hingabe im Licht der Dramatischen Theologie« von R. Schwager (158–181). Seine Darstellung (auch mit den Differenzen zu R. Girard) lässt etwas von der Faszination dieses Entwurfs spüren, zeigt aber auch die Schwierigkeit, ihn nachzuvollziehen. So äußert Siegfried Kreuzer (Altes Testament) großen Respekt vor diesem beeindruckenden Konzept, stellt aber dennoch Rückfragen und plädiert für eine – wenn auch differenzierte – Beibehaltung des Opferparadigmas (182–189).
Für die Beibehaltung der Kategorie rechtverstandener Sühne mit Rücksicht auf die oft übersehenen Opfer (im Sinn von victim) plädiert der Ethiker Gerard den Hertog in: »Vergebung ohne Sühne. Opfer und Sühne in der Gesellschaft und der Theologie« (190–208). Martin Meiser (Neues Testament) greift diesen Gedanken auf und bedauert, dass im Neuen Testament von den Opfern nur selten die Rede ist (209–216). Auch Notker Slenczka (Systematische Theologie) tritt in »Buße ohne Gnade. Die Folgen des Verlustes der christlichen Sühnetheologie« (217–244) nachdrücklich für die Notwendigkeit von Sühne ein. Nur so kann Schuld wirklich verarbeitet und bewältigt werden kann. Er verbindet das mit einer sehr eigenwilligen Interpretation von »Sühne als Identitätswechsel« bei Anselm und vor allem bei Luther und Paulus und illustriert sein Anliegen durch aktuelle Beispiele (missglückter) öffentlicher Bußrituale. Heinz-Josef Fabry (Altes Testament) hinterfragt freilich seine Deutung Anselms und Luthers und plädiert vom alttestamentlichen Befund aus entschieden gegen eine Beibehaltung des Begriffs »Sühne« (245–257).
Sehr hilfreich erscheint mir der Beitrag von Alexander Deeg (258–279) und sein Versuch, »die unbequemen Metaphern zwischen problematischer Konvention und notwendiger Unterbrechung« zu bedenken (262). Der praktische Theologe stellt zunächst klar, was nach heutiger Exegese Opfer in der Bibel bedeutet: Es ist »der Ort, den Gott dem Menschen heilvoll bereitet, den der Mensch erwartungsvoll und ehrfürchtig zugleich betreten und begehen kann« (270). Er erinnert auch daran, dass es bei Paulus nicht nur um die Bedeutung des ein für alle Mal geschehenen Todes Jesu geht, sondern um das »Wort vom Kreuz«, den verkündigten Tod Jesu als Kraft Gottes (273). Und er empfiehlt die Beachtung des Karsamstags als Ausdruck unseres Schweigens angesichts des Schweigens Gottes. Lucia Scherzberg (Systematische Theologie) reagiert mit dem Hinweis, dass auf katholischer Seite zu diesem Thema kaum kontrovers diskutiert wird (280–282).
Das Schlusswort hat Hanna Roose mit religionspädagogischen Perspektiven im Blick auf »die Heilsbedeutung des Kreuzes« (283–296). Sie benennt sehr klar die didaktischen Herausforderungen des Themas, wendet sich aber dagegen, es auszuklammern, sondern beschreibt sehr instruktiv, wie es unter unterschiedlichen Aspekten behandelt werden kann. Das findet dann auch die ungeteilte Zustimmung von Martin Rösel (Altes Testament; 297–302). Ein Verzeichnis der benutzten Literatur, sowie ein Personen- und Stellenregister beschließen den Band.
In ihrem Vorwort sehen die Herausgeber keinen Konsens, der sich aus der Tagung ergibt. Immerhin könnte man darauf hinweisen, dass fast alle Beteiligten daran festhalten wollen, von einer Heilsbedeutung des Todes Jesu zu sprechen, und niemand die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod Jesu als allein maßgebliche Deutung vertritt. Man möchte an die Vielfalt neutestamentlicher Vorstellungen anknüpfen. Nicht von ungefähr wird der Grundlagentext des Rates der EKD »Für uns gestorben« von 2015 mehrfach positiv erwähnt. Merkwürdig ist freilich, dass angesichts der häufig genannten Schwierigkeit, die Heilsbedeutung des Todes Jesu zu »plausibilisieren«, nur einmal kurz (und zwar von dem Alttestamentler S. Kreuzer auf S. 185) auf 1Kor 1,18–25 hingewiesen wird, wo Paulus ausdrücklich sagt, das Wort vom Kreuz sei für die Menschen Ärgernis und Torheit. Paulus verzichtet ja in diesem Zusammenhang auch auf die damals durchaus einsichtige Plausibilisierung durch den Hinweis auf den Sühnecharakter dieses Todes! Aber er propagiert auch nicht einfach ein credo quia absurdum. Er vertraut darauf, dass sich das Wort vom Kreuz für die, denen Gott die Augen dafür öffnet, als Kraft und Weisheit Gottes erweist, nämlich als Kraft und Weisheit seiner Liebe, die er im Tode Jesu erzeigt hat. Aber diese für das Neue Testament so wichtige enge Verbindung zwischen dem Tod Jesu und dem Erweis der Liebe Gottes bzw. Chris-ti (vgl. Joh 3,16; 15,13; Röm 5,8; 8,32–39; Gal 2,20; Eph 5,2; 1Joh 4,10) wird nur einmal en passant erwähnt (138)! Doch das gehört zu den Begrenzungen eines Sammelbandes, dessen genauer Inhalt sich nicht planen lässt: Die Vielfalt der Perspektiven wird mit solchen »Fehlstellen« erkauft. Insgesamt aber bietet der Band eine Fülle wichtiger Anregungen und Impulse, über die es sich weiter nachzudenken lohnt.