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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

169–171

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Böhm, Martina [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kultort und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. 204 S. = Biblisch-Theologische Studien, 155. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-7887-2934-9.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Der Untertitel des vorliegenden Bandes bezeichnet ein Rahmenthema, das auf fünf Projektgruppen-Tagungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zwischen 2012 und 2016 unter verschiedenen Aspekten behandelt wurde. Auf der Tagung im Jahre 2014 stand dabei das Thema »Kultort und Identität« im Fokus. Die Beiträge sind Ausdruck eines interdisziplinär angelegten Ge­sprächs, weil man sich dem Phänomen des Kultortes auch nur aus mehreren, unterschiedlichen Perspektiven annähern kann.
Martina Böhm, die Herausgeberin des Bandes, stellt in ihrer »Einführung« deshalb zunächst verschiedene Zugänge zum Thema vor. Nach einer allgemeinen Verständigung über beide Begriffe und ihre Facetten beschreibt sie Kultorte und die an ihnen befindlichen Heiligtümer als »Symbole konstruierter wie gelebter religiöser (und darüber hinausgreifender, weiter gefasster) Identität nach außen wie auch nach innen hin« (3). Ein besonders instruktives Beispiel bietet dafür der Kultort Bet-El, an dessen wechselvoller Geschichte im Folgenden der Zusammenhang von Kultort und Identität durchgespielt wird. Diesen narrativen Entwurf im Buche Genesis und seine Rezeption in den späteren Schriften des Alten Testamentes verdichten abschließend zwölf (ausgef ührte) Thesen, die zugleich einen Rahmen für die weiteren Bei-träge des Bandes abstecken: 1. an Kultorten manifestieren sich Gottesverständnis und Weltverhältnis von Gruppen und Individuen; 2. Gründungslegenden spiegeln Ansprüche und Legitimationsprozesse wider; 3. Kultorte erhalten ihre unersetzbare Funktion erst durch diejenigen Individuen und Gemeinschaften, für deren Selbstverständnis die dort praktizierten Rituale konstitutiv sind; 4. Kultort und Gemeinschaft bedingen einander; 5. Kultorte sind primäre Symbole religiöser Überzeugungen und Praktiken, was auch repräsentative und politische Funktionen einschließt; 6. Kultorte stärken das Bewusstsein von Zugehörigkeit und dienen der Stärkung von Machtstrukturen; 7. Kultorte sind Orientierungspunkte mit regionaler wie überregionaler Dimension; 8. an Kultorten kommen Differenzierungs- und Abgrenzungsstrategien zum Ausdruck; 9. Binnendifferenzen und Konflikte innerhalb der religiösen Gemeinschaft werden an der Haltung gegenüber dem Kultort sichtbar; 10. Kultorte fungieren als Haftpunkte für Kontinuität und Wandel des religiösen Selbstverständnisses; 11. Kultorte sind ebenso Orte transformierter Identität; 12. der Verlust eines Kultortes stellt die Stabilität bestehender religiöser Gruppenidentitäten vor substantielle Herausforderungen. In diesen zwölf Thesen ist der Zusammenhang von Kultort und Identität umfassend in den Blick genommen. Die einzelnen Beiträge liefern dazu ausgewählte Fallbeispiele.
Jörg Rüpke, »Religiöse Identität. Topographische und soziale Komponenten«, geht das Thema aus religionswissenschaftlicher Perspektive an. Sein Beitrag fragt nach Orten identitätsstiftender Erfahrung, Motiven und Metaphern individueller Reflexion auf Identität sowie nach sozialen und kommunikativen Situationen, in denen Identitäten thematisiert, repräsentiert und damit letztlich aktiviert werden.
Matthias Müller, »Unter den ägyptischen Priestern auf der Insel Elephantine«, nimmt die ägyptologische Perspektive ein. In einer detaillierten Studie zeichnet er die Siedlungsgeschichte jener durch ihre zahlreichen Textfunde berühmt gewordenen Nilinsel nach, wobei der Fokus auf die Priesterschaft eines ägyptischen Tempels ausgerichtet ist. An deren Texten lässt sich der Versuch erkennen, die lokalen Interessen gegenüber der Zentralverwaltung durchzusetzen. Im Mittelpunkt steht somit vor allem die Konkurrenz von Kultorten; identitätsstiftende Elemente werden eher im Hintergrund sichtbar.
Christl M. Maier, »Identität ohne Tempel? Der Diskurs um die Zerstörung Jerusalems im Jeremiabuch«, blickt aus der Perspektive alttestamentlicher Theologie auf den Verlust des zentralen Kultortes und dessen Bewältigung im Jeremiabuch. Mit großer methodischer Sorgfalt wird dabei zunächst der Begriff »Identität« reflektiert und durch die behutsamere Rede von »Identitätskonzepten« ersetzt, da im Jeremiabuch durchaus unterschiedliche, konkurrierende Stimmen nebeneinander stehen. Der Gang der Untersuchung konzentriert sich sodann auf die Charakterisierung von Jerusalem als Stadt und Frau, auf die Beschreibung des Tempels und seiner Priesterschaft sowie auf die Heilsperspektive des Buches auf Stadt und Tempel. Dabei stellt sich heraus, dass die Ortsbindung der Bevölkerung durchaus nicht nur am Tempel und seinem Kult haftet. Offensichtlich verstanden die Überlebenden die Zerstörung des Tempels als Infragestellung ihrer eigenen Identität, hielten jedoch an ihrer Gottesbeziehung fest. Insofern wird auch die Tora zu einem integrativen Maßstab, der identitätsstiftend wirkt. Alles in allem bietet das Jeremiabuch Einblicke in »eine Art Diskurs um die Frage nach der Bedeutung des Tempels für die Identität der Judäerinnen und Judäer«, dessen Parameter immer wieder neuen Veränderungen und Verschiebungen ausgesetzt sind.
Max Küchler, »Reale, literarische und ikonographische Tempel der Juden. Römer und Christen in Jerusalem als Monumente be­haupteter, verlorener und neu zu schaffender Identität«, reflektiert die Ansprüche dreier Religionen auf ein und denselben Kultort. Aus einer reichen Kenntnis der literarischen und archäologischen Traditionen Jerusalems schöpfend, zeichnet der Autor ein faszinierendes Bild einander ablösender Gestaltungen dieses heiligen »Ortes«, die stets mit Auslöschung, verborgener Fortwirkung, Wiedergewinnung, Pflege und Überhöhung religiöser Identität einhergingen. Dabei spannt sich ein Bogen von der weithin un­sichtbar ge­wordenen kanaanäischen Gründungsphase bis hin zu den jüngs- ten Planspielen für einen erneuerten jüdischen Tempel – um schließlich in einem Bild zu enden, das der »letztlich kriegstreiberischen, exklusiven Beanspruchung des Identitätsbaues« die Offenheit einer ökumenischen Eschatologie entgegenstellt, in der die bestehenden Gebäude zu einer Stätte gemeinsamer Gottesverehrung werden.
Günter Stemberger, »Die Bedeutung des Jerusalemer Tempels für die Identität des rabbinischen Judentums«, trägt die judaistische Perspektive ein, indem er verschiedenen Strategien nachgeht, den erlittenen Verlust des Tempels zu kompensieren. Dabei lassen die Rabbinen ein ambivalentes Verhältnis zum Tempel erkennen. Einerseits wird dem Tempel in den Texten ein hohes Maß an Präsenz zugestanden, andererseits wird seine Bedeutung relativiert und im Studium der Tora kompensiert. »Wenn der Tempel und sein Kult für die Rabbinen identitätsstiftend war, dann in dessen Überhöhung und Überwindung hin zu einer Religion, die ... ohne Begrenzung durch Ort und Zeit allein von der ständigen Begegnung mit Gottes Wort lebte.« (186)
Enno Edzard Popkes, »Jesu Haltung zum Tempel und die frühchristliche Tempelmetaphorik«, bringt schließlich die neutestamentliche Perspektive zum Zuge, deren Ambivalenz sich in den Worten und Aktionen Jesu gegenüber dem Tempel in Jerusalem ausdrückt. Was zunächst auch für die christusgläubige Gemeinde der Anfangszeit noch vollgültiges Kontinuitätssymbol ihrer Glaubensgeschichte ist, wird zusehends in einen Abgrenzungs- und Differenzierungsprozess hineingezogen, in dem sich die identitätsstiftende Bedeutung des Tempels zunehmend verlagert und schließlich ihren Ort in verschiedenen tempelmetaphorischen Konzepten findet.
Der Band bringt auf anschauliche und informative Weise zur Geltung, in welchem Maße die Bindung an Orte – in realer oder sublimierter Form – religiöse Identität stiftet und prägt. In dem multiperspektivischen Zugriff auf das Thema eröffnen sich viele Querverbindungen, denen weiter nachzugehen unbedingt lohnt!