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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

139–141

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Mokry, Stephan, Grütz, Reinhard, u. Ludger Nagel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neu hinsehen: Luther. Katholische Perspektiven – ökumenische Horizonte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt; Paderborn: Bonifatius Verlag 2016. 304 S. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-374-04555-6 (EVA); 978-3-89710-670-3 (Bonifatius).

Rezensent:

Jennifer Wasmuth

Zu den erfreulichen Ergebnissen der zurückliegenden Reformationsdekade gehört der ökumenische Charakter, der zahlreiche ihrer Veranstaltungen und Publikationen ausgezeichnet hat. Überhaupt schien das Jahr 2017 gerade auf römisch-katholischer Seite ein vermehrtes Interesse an der Reformation und hier insbesondere an Martin Luther als ihrer zentralen Gestalt geweckt zu haben, wovon auch der vorliegende, bereits im Vorfeld der Reformationsfeierlichkeiten erschienene Sammelband zeugt.
Hervorgegangen ist der Band aus einem Projekt der Katholischen Erwachsenenbildung Sachsen-Anhalt und der Akademie des Bistums Magdeburg mit dem Titel »2017: Neu hinsehen! Ein ka­tholischer Blick auf Luther«. Als Herausgeber zeichnen Stephan Mokry, der das Projekt koordiniert hat, sowie Reinhard Grütz und Ludger Nagel, die beide in leitender Position in der Er­wachsenenbildung tätig sind, verantwortlich. Dem Kontext der Entstehung entsprechend, wissen sich die Herausgeber einer »Lerngeschichte« verpflichtet, die von ihnen mit den Begriffen »Reformation – Spaltung – Konfrontation – Koexistenz – Kooperation – versöhnte Verschiedenheit« umschrieben wird (16). Mit dem Sammelband zielen sie folglich weniger auf eine wissenschaftliche Be­standsaufnahme als auf einen Beitrag zur ökumenischen Verständigung. Die in der Regel kurz gehaltenen Beiträge spiegeln diese Zielsetzung wider. In der Mehrheit bieten sie nicht neueste Forschungserträge zu historischen Spezialfragen, sondern wissenschaftlich solide Informationen zur Reformation und ihrer Ge­schichte für ein eher breiter interessiertes akademisches Publikum. Vertreter unterschied-licher Disziplinen der ka­tholischen Theologie reflektieren hier ihre Perspektiven auf Luther im Sinne eines »healing of memories«.
Der Band gliedert sich thematisch in drei Teile: Den historisch-biblischen (Teil I) folgen systematisch-ökumenische (Teil II) und schließlich praktische »Blickwinkel« (Teil III).
Teil I ist bei Weitem der umfangreichste. Er wird eröffnet mit einem Beitrag von Klaus Unterburger, der das »Turmerlebnis« und den »Thesenanschlag« als »Symbolereignisse« protestantisch-lutherischer Identität zum Anlass nimmt, um auf die innerpro-testantische Kontroverse um Früh- und Spätdatierung der reformatorischen Erkenntnis Luthers als Ausdruck einer Tendenz zur Entmythologisierung dieser Ereignisse einzugehen, sich für die Frühdatierung auszusprechen und gleichzeitig Luthers Einbettung in bestimmte spätmittelalterliche Traditionen (Augustinismus, Mystik, kanonisches Recht) zu betonen. Luthers »katholische Wurzeln« werden auf diese Weise unterstrichen und damit das ökumenisch Verbindende herausgestellt. Ob sich die Reformation allerdings, wie Unterburger es in seinem Fazit nahelegt, auf die »Konfessionalisten« auf beiden Seiten zurückführen lässt (vgl. 39 f.), wäre zu diskutieren. Es folgen zwei exegetische Beiträge.
Martin Staszak untersucht die Rezeptionsgeschichte von Hab 2,4, Röm 1,17 und Gal 3,11 in chronologisch umgekehrter Reihenfolge, beginnend bei Luther und endend bei Habakuk. Steffen Jöris widmet sich ausgehend von den Auseinandersetzungen über die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (1999) der paulinischen Rechtfertigungslehre, wobei er die »Jewish Perspective« als exegetischen Zugang und damit die jüdische Verwurzelung des Paulus herausstreicht. Beide Beiträge sind nicht nur methodisch innovativ, sondern kommen im Ergebnis zu überraschend positiven Aussagen über das biblische Fundament von Luthers Theologie.
Die sich anschließenden Beiträge von Robert Mucha und Dominik Burkard fallen aus dem Sammelband tendenziell heraus, weil sie entweder wie im Fall von Muchas im Übrigen eher systematisch-theologischen »Überlegungen zum sola scriptura« hinter dem Diskussionsstand zurückbleiben, der mit Blick auf das reformatorische Schriftverständnis inzwischen erreicht ist, oder wie im Fall von Burkards »Kritischen Anmerkungen (nicht nur) zur Luther-Biographie von Heinz Schilling« nicht gerade zu einer »neuen« Sicht auf Luther hinführen, wenn, wie es hier geschieht, mit der erstmalig 1904 erschienenen, wegen ihrer konfessionalistischen Tendenz umstrittenen Schrift »Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung« von Heinrich Denifle argumentiert wird. Aufschlussreicher sind demgegenüber der Beitrag von Stephan Mokry, der den oft nur als Gegenspieler Luthers wahrgenommenen Erzbischof und Kardinal Albrecht von Brandenburg auch als Reformer zu würdigen weiß, sowie insbesondere der Beitrag von Günther Wassilowsky, der die historischen Motive freilegt, die zur Entstehung des »Mythos Trient« geführt haben, und vor diesem Hintergrund die plausibel erscheinende terminologische Unterscheidung zwischen »›trientisch‹ (also dem, was das ›wirkliche‹ Konzil darstellte und wollte) und ›tridentisch‹ (also dem, was faktisch später aus Trient gemacht wurde)« (155) anregt.
Mit einer »provozierenden Frage« eröffnet Dorothea Sattler Teil II: »Ist Martin Luther katholisch?« Sie gibt darauf eine einleuchtende, wenn im Einzelnen auch sicherlich diskutable Antwort, indem sie Luther einerseits in Hinblick auf »die Verkündigung des Evan-geliums, Zutrauen zu sakramentalen Handlungen und das Vertrauen auf die Beratungen eines Konzils« (170) als »katholisch« be­schreibt, andererseits als unerledigte ökumenische Aufgaben die Fragen von Gesetz und Evangelium, Ehe und Amt, Luthers Beurteilung des Papstes als »Antichrist« bestimmt.
Um das Papstamt geht es sodann Regina Radlbeck-Ossmann, die äußerst prägnant die unterschiedlichen Positionen von Papst Johannes Paul II. und Papst Franziskus wiedergibt, wie sie in der Enzyklika »Ut unum sint« (1995) einerseits, dem Schreiben »Evangelii gaudium« (2013) andererseits zum Ausdruck kommen. Bei Papst Franziskus sieht Radlbeck-Ossmann eine reelle Chance dafür, dass das Paradox des Papstamtes überwunden werden könnte: als Dienst an der Einheit der Kirche zugleich das größte Hindernis für diese Einheit zu sein. Teil II schließt mit zwei Beiträgen, die die Relevanz von Luthers theologischen Einsichten für aktuelle Debatten aufzeigen. Patrick Becker thematisiert Luthers Freiheitsverständnis im Unterschied zu einem naturalistischen Weltbild, Johannes Grössl die bis in die Theologie der Gegenwart hinein noch ungelösten Aporien von Luthers kenotischer Christologie.
Im dritten und letzten Teil findet sich zunächst ein anregender Beitrag von Harald Schwillus, in dem dieser ausgehend von einer differenzierten Beurteilung von Luthers Klosterkritik die Viel-gestaltigkeit gemeinschaftlichen Lebens auf evangelischer und katholischer Seite in Erinnerung ruft und zugleich an konkreten Beispielen das ökumenische Potential deutlich macht, das Klöster und Kommunitäten bieten.
Von der Themenstellung »Katholische Religionslehre: Die Reformation in den gymnasialen Lehrplänen und den zugelassenen Religionsbüchern in Mitteldeutschland und Mecklenburg-Vorpommern« her interessant, präsentiert der Beitrag von Matthias Bär zwar reichlich Material, aber nur im Ansatz eine weiterführende Analyse. In einem sehr kurz gehaltenen Beitrag von Florian Heinritzi wird auf das »Lernen in der dritten Lebensphase« als kirchliche Bildungschance eingegangen und dieses an einem Praxisbeispiel – einer Exkursion auf Luthers Spuren – illustriert.
Den Abschluss des dritten Teils und damit des Bandes bildet ein Beitrag von Markus Roth, in dem dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede im katholischen und evangelischen Liturgieverständnis aufzeigt, auf Annäherungen hinweist und eine Reihe von Beispielen für bereits etablierte Formen von ökumenischen Feiern (wie die Lima-Liturgie) und zur Zeit der Abfassung des Artikels nur erst geplante Vorhaben für 2017 (wie das gemeinsame Fest der Kreuzerhöhung) nennt. Roth betont dabei die Relevanz gerade dieser Feiern für das ökumenische Miteinander: dass Liturgie und Gottesdienst »nicht nur äußere Zeichen eines inneren Glaubens« sind, »sondern zugleich auch das verbindende Element zwischen den Konfessionen« (299). Im Rückblick auf das Reformationsjubiläum mit ökumenischen Feiern, wie sie in Lund im Oktober 2016 und in Hildesheim im März 2017 stattgefunden haben, wird man Roth in dieser Einschätzung nur zustimmen können.