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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

134–135

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Smets, Anne

Titel/Untertitel:

Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24–25 und im Evangelischen Gesangbuch.

Verlag:

Tübingen: Francke Verlag 2015. 426 S. = Mainzer Hymnologische Studien, 27. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-7720-8570-3.

Rezensent:

Konrad Klek

Dass eine Arbeit über die Endzeitrede des Matthäusevangeliums in der Reihe Mainzer Hymnologische Studien erscheint, lässt aufmerken. Tatsächlich unternimmt diese Hamburger Dissertation einen selten gewordenen interdisziplinären Spagat, hier zwischen Neutestamentlicher Wissenschaft und Praktischer Theologie bzw. speziell Hymnologie. Die Rezeption der Endgerichts-Vorstellung in Liedern des derzeit gültigen Evangelischen Gesangbuchs fokussiert diese Untersuchung. Das gewählte Sujet »Endgericht« ist alles andere als »in« und so der Mut der Vfn. zu würdigen. »Ein ausschließlich lieber Gott läuft Gefahr, harmlos und damit banal zu werden«, konstatiert sie in der Einleitung (17), sieht aber andererseits auch die Problematik der Funktionalisierung von Gerichtsvorstellungen in der Vergangenheit für Moralpredigt und Bekehrungsappelle (15). Die methodisch präzise, »nüchterne« Analyse der biblischen Grundlagen und die Referenzen dazu im Liedgut sollen Optionen für den Einsatz der fraglichen Lieder im Gottesdienst heute erschließen.
Die hier von Anne Smets gewählte und quasi schulmäßig exerzierte Methode der narratologischen Analyse strukturiert den Brü-ckenschlag vom Evangelium zu den Liedtexten. Klare Strukturierung ist überhaupt hervorstechendes Merkmal dieses Buches. Gut 40 Seiten genügen der Vfn. für die Darlegung von Methodik und einschlägiger Terminologie. Die (nur) 135 Seiten Analyse der matthä-ischen Endzeitrede unter Berücksichtigung der gesamten exege-tischen Literatur sind ein Meisterstück. Etwas mehr Seiten nehmen dann allgemeine Ausführungen zum Singen, zum Thema Gericht in Gottesdienst und Kirchenjahr und zu dessen Repräsentanz im Gesangbuch ein, woran sich die detailgenaue Besprechung von sieben klug ausgewählten Liedern anschließt (EG 5.9.147.149.151.387. 412), ehe in zehn Punkten knapp das Ergebnis formuliert wird. Die Liedbesprechungen folgen demselben Schema wie die Bibelexegese – Einleitung/Analyse und Intertexte/Deutungspotentiale zum Thema Ge­richt. Bei den Liedern werden zusätzlich charakteristische Textmodifikationen in der Rezeptionsgeschichte (bis hin zum DC-Gesangbuch von 1941) vorgestellt in ihrer jeweiligen Problematik beim »Füllen von Leerstellen«, wofür an die 100 (!) Gesangbuchausgaben zur Hand waren. Abschließend stehen jeweils Erwägungen zum Einsatz des Liedes im Gottesdienst. – Die Bibeltext-Analyse profiliert Mt 24–25 als in sich geschlossene Rede mit vielen intratextuellen Bezügen zum übrigen Evangelium. Bei den einzelnen Perikopen kommt die Handlungs- und Figurenanalyse zum Zug mit »überraschenden Einsichten« (Klappentext), etwa beim Gleichnis von den anvertrauten Talenten Mt 25,14–30 als »Gegenentwurf« menschlich-irdischer Logik zum folgenden Endgericht: Die Identifikationsfigur ist der hier verurteilte dritte Sklave!
Für Kenner der Materie weniger überraschend ist der Befund bei den meisten der besprochenen Lieder, dass der negative Handlungsstrang der biblischen Gerichtsszenarien da unberücksichtigt bleibt, die Lieder vielmehr die Identifikation der Singenden mit den klugen Jungfrauen voraussetzen, explizit bestätigen und die damit eröffneten Hoffnungspotentiale vor Augen stellen. Abgesehen vom pietistischen Mache dich mein Geist bereit (EG 387) und vom aufklärerischen So jemand spricht, ich liebe Gott (EG 412) sind gerade Lieder mit Gerichtsthematik primär Trostlieder, indem sie den potentiell »letzten Schrecken« des Gerichts beiseite singen.
Eine zentrale grundsätzliche Frage behandelt die Vfn. nicht: Kann man vom Gericht in seiner Ambivalenz (»doppelter Ausgang«) singen? Ist Singen überhaupt anders vorzustellen denn als kluger Vollzug des Wir wollen ihm entgegen gehn (EG 147,1)? – Die als Letztes besprochene »Lehrode« Gellerts (EG 412) droht in ihrer Schlussstrophe mit dem unbarmherzigen Gericht Gottes über unbarmherzig handelnde Menschen. Gleichwohl die »Stärke dieses Liedes« (365) zu benennen, fällt der Vfn. bezeichnenderweise ziemlich schwer.
Methodisch ist ein Manko dieser Arbeit, dass die Lieder gerade in der Fahrspur »Intertextualität« defizitär betrachtet werden. Geistliche Lieder sind das Exerzierfeld schlechthin für intertextuelle Erschließung. Der Brückenschlag von Mt 24–25 zu den Liedern müsste weit mehr Text- und Bildfelder in ihrer Relevanz berücksichtigen. Das fängt innerbiblisch bei dem Johannes-Evangelium und in der Offenbarung, aber auch bei der Hohelied-Rezeption an, setzt sich fort bei kirchlichen Primärtexten – z. B. Credo: »et iterum venturus est cum gloria …« – und verlangt namentlich in der Barockepoche die Einbeziehung des breiten Stroms an Erbauungsliteratur. Bei Philipp Nicolais Wachet auf, ruft uns die Stimme (EG 147) bringt die Vfn. denn auch ausgiebig Text-Referenzen zum Freudenspiegel des ewigen Lebens (1599), in dessen Anhang das Lied sich findet. Sie lässt aber da das Schwester-Lied, Wie schön leuchtet der Morgenstern (EG 70), mit dem EG 147 erwiesenermaßen direkt korreliert, außen vor, befasst sich auch nicht näher mit der »Brautlied«-Überschrift zu beiden Liedern und umgeht damit die ganze, mystisch konnotierte Intertextualität, welche für barockes Erbauungsschrifttum wie Liedgut fortan zentral sein wird. So bleibt die hier einschlägige, eminente Sogwirkung des Bräutigam-Topos in der Relevanz für die Rezeption der Gerichtsgleichnisse unterbestimmt.
Die praktisch-theologische Erörterung zur Verwendung der Lieder heute ist einseitig am agendarischen Gottesdienst und (jetzt überholten) Wochenliedplan orientiert. Das Sprach- und Affektpotential der Lieder, gerade auch der Trostlieder mit Gerichtsthematik, hat zu allen Zeiten die Grenzen liturgischer Kultivierung gesprengt, auch in der Kunstmusik, und wird das wohl auch weiter vermögen.