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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

132–134

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kadelbach, Ada

Titel/Untertitel:

Paul Gerhardt im Blauen Engel und andere Beiträge zur interdisziplinären Kirchenlied- und Gesangbuchforschung.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto 2017. XII, 575 S. m. Abb. = Mainzer hymnologische Studien, 26. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-7720-8464-5.

Rezensent:

Konrad Klek

Diese Aufsatzsammlung hat sich die Autorin, im Hauptberuf vormals Kulturamtsleiterin der Stadt Lübeck, zum 75. Geburtstag sozusagen selber geschenkt. Vor 50 Jahren ist sie an ein hymnolo-gisches Thema für ihre Staatsexamensarbeit geraten (mit den Stu-dienfächern Schulmusik, Anglistik, Literaturwissenschaft). Die Hymnologie hat sie seither nicht mehr losgelassen. Nicht weniger als 27 Beiträge sind nun hier versammelt und in eine verblüffend stringente Abfolge gebracht – doppelt so viele, 54 Titel, zählt die (Auswahl-)Bibliographie. Da sie chronologisch und topographisch weit verstreut veröffentlicht worden sind, wegen des Regionalbezugs oft in schwer zugänglichen Organen, macht eine Sammelpublikation wirklich Sinn.
Die »Lust« zu Kirchenlied und Gesangbuch ist weder im kirchengemeindlichen Alltag noch in der Wissenschaft derzeit besonders ausgeprägt. Wer sich hier einliest, bekommt garantiert Lust, auch wenn norddeutsche Hansestädte und Residenzen (wie beim Rezensenten) weit weg liegen. Ada Kadelbach weiß in äußerst gewinnender Weise, das Phänomen Kirchenlied und Gesangbuch jeweils in concreto so zu erschließen, dass sich jede Fallstudie trotz oder gerade in der philologischen Akribie spannend wie ein Krimi liest und zum Entdeckungserlebnis wird. K.s Zugang war schon immer »interdisziplinär«, lange bevor das zum Zauberwort für Drittmitteleinwerbungen wurde. Anders lässt sich das Sujet Kirchenlied auch gar nicht angemessen erfassen. Souverän agiert sie mit ihrem literaturwissenschaftlichen Rüstzeug, macht aber auch vor Kammerrechnungen einer Husumer Herzogin nicht halt. Theologen aller Fachrichtungen, die auf der Suche nach fassbaren Lebensbezügen für ihre Materie sind, können sich hier eine Scheibe abschneiden. Und K. demonstriert, was eine Nicht-Theologin Essentielles zum theologischen Diskurs beitragen kann.
Zunächst hat philologisch gründliche Hymnologie immer mit »Kirchengeschichte« zu tun (was in »der Kirchengeschichte« freilich selten im Blick ist). Gleich der erste Beitrag zu Gesangbuchvorreden als »hymnologische Fundgrube« (von Luther 1524 zu Freylinghausen 1704) ist hier wegweisend, gründlich und äußerst präzise. Vier Beiträge in der Abteilung III »Gesangbücher im Auswanderergepäck« (nach Amerika) sind horizonterweiternd. Eine Operation quasi am theologischen Herzen sind K.s Forschungen zur Akros-tichondichtung beim Kirchenlied, neben einer allgemeinen Be­standsaufnahme dann zum 400-Jahr-Jubiläum 1999 fokussiert auf die beiden großen Philipp-Nikolai-Lieder (EG 70 und 147). Wenn Valerius Herberger am Ende seines Sterbeliedes mit VALERIUS-Akrostichon EG 523 (1614) formuliert »Schreib meinen Nam aufs beste ins Buch des Lebens ein«, wird der tiefe Sinn des Akrostichon-»Spiels« evident (329).
Acht Beiträge beziehen sich auf regionale norddeutsche hymnologische Phänomene (Lübeck, Hamburg, Husum, Ludwigslust). Mit Matthias Claudius (»und seine Gesangbücher«) und Carl Phi-lipp Emanuel Bach (»in Choralbüchern seiner Zeit«) kommen zudem zwei norddeutsche »Größen« zur Geltung. Nicht weniger als fünf Beiträge widmen sich dem »Rezeptionsphänomen« Paul Gerhardt. Neben Überblicksdarstellungen zur Gerhardt-Rezeption in Andachtsliteratur, beim 19. Jahrhundert-Illustrator Ludwig Richter und zu skandinavischen Gesangbüchern sind hier die beiden (wieder lokalhistorisch fundierten) Beiträge zu »P. Gerhardt bei Matthias Claudius und Thomas Mann« und eben das titelgebende »Paul Gerhardt im ›Blauen Engel‹« die Highlights des Buches. Ersteres ist als Begleitlektüre zu den »Buddenbrocks« unerlässlich und Letzteres liefert nicht weniger als die zwingende Erklärung, wie die Hauptfigur in Heinrich Manns »Professor Unrat« zu ihrem Namen »Rosa Fröhlich« kommt. Mehr sei hier nicht verraten! Jedenfalls ist dieser Beitrag aus dem Jahr 1996 ein hymnologisches Kabinettstückchen, das alle Literaturpreise der Welt verdient (gehabt) hätte.
Dem Buddenbrocks-Roman hat die Lübeckerin K. zwei weitere philologisch ungemein präzise Beiträge gewidmet, die nicht spezifisch hymnologisch sind: die Rezeption von Luthers Kleinem Katechismus darin und allgemein »Thomas Mann und ›seine‹ Kirche«. Das zu lesen macht dann auch noch »Lust zu Buddenbrocks«.
Zur luststeigernden Lektüre tragen mit viel Sorgfalt ausgesuchte und passend platzierte zahlreiche Abbildungen und Faksimilia von Originaldrucken bei (einzelne auch mehrfarbig), darunter auch die beiden Nikolai-Lieder. Das lässt sich zwar mittlerweile auch im Internet betrachten, aber im Kontext der Ausführungen zum Akrostichon auf den verstorbenen Fürstensohn ist das doch speziell erhellend.
Ein chronologisch angeordnetes, faszinierend umfängliches Quellenverzeichnis, das Literaturverzeichnis und auch ein Personenregister erschließen mustergültig den Gebrauch des Buches zu Forschungszwecken.