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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

126–128

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ebach, Jürgen

Titel/Untertitel:

Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. 368 S. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-579-08242-4.

Rezensent:

Gregor Etzelmüller

Dem neuzeitlichen Protestantismus stellt sich beständig die Frage nach der Bedeutung des Alten Testamentes für den evangelischen Glauben. 2015 hat Notger Slenczka behauptet, dass wir »faktisch […] den Texten des AT in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den Texten des NT zuerkennen« (MJTh 25 [2013], 119). Das vorliegende Buch zeigt demgegenüber, wie vielfältig der evangelische Gottesdienst – offensichtlich vom Votum (vgl. 56 ff.) bis zum Segen (vgl. 331 ff.) – aus dem Alten Testament heraus lebt. »Der evangelische Gottesdienst ist nicht nur von a lttestamentlichen Motiven und Worten gefüllt, er entfaltet im Lebens-, Sprach-, und Klangraum des Alten Testaments seine Gestalt und seine Botschaft. Dass dies der Gottesdienstgemeinde nicht immer bewusst ist, trifft dagegen zu. Daran ein wenig zu ändern, ist das Ziel dieses Buches.« (343)
Das Buch Jürgen Ebachs verdankt sich einer Lerngemeinschaft: Es ist inspiriert von Frank Crüsemanns Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen und lebt vom beständigen Austausch mit dem neutestamentlichen Kollegen Klaus Wengst. Mit diesen Kollegen teilt E. die Überzeugung, dass es der Exegese, da den auszulegenden Texten selbst eine »homiletische« Dimension inhärent sei, auch um das je gegenwärtige Verstehen der Texte gehen müsse (274–276).
Zwei entscheidende Einsichten prägen das Werk: 1. Schriftgemäß ist eine Lektüre der Bibel nur, wenn sie wahrnimmt, »dass es in der Bibel oft mehr als nur eine Antwort auf die Fragen von Leben und Glauben gibt« und diese unterschiedlichen Antworten im Kanon neben- und auch gegeneinanderstehen, also keine Diskussion abschließen, sondern einen Diskursraum öffnen (23). Das wird bis hin auf die aktuelle Debatte um die Bitte »und führe uns nicht in Versuchung« zugespitzt: E. kontrastiert die Auffassung von 2Sam 24,1, nach der Gott David reizt, mit der Parallelstelle 1Chr 21,1, in welcher der Satan als Versucher an die Stelle Gottes tritt, um diesen zu entlasten: »Diese Ehrenrettung Gottes hat einen hohen Preis. Denn je mehr uns an Grauen begegnet, desto mehr müssen wir der Macht des Bösen zuschreiben.« (324) Indem die Bibel sowohl Gott als auch den Satan als Versucher kennt, »ist das Problem der Verantwortung Gottes für das Böse in aller Schärfe gestellt – und offengelassen« (325).
2. Die Vielfalt des biblischen Zeugnisses entspricht der Lebendigkeit Gottes. »Es geht darum, Gottes Erbarmen und Gottes Macht zugleich wahrzunehmen und im Vertrauen auf beides darauf zu setzen, dass die gegebenen Verhältnisse nicht die gottgegebenen Verhältnisse sind und dass nichts bleiben muss und nichts bleiben wird, wie es ist.« (29) »Gott kann ändern, was ist und wie es ist, und – fast noch not-wendiger – Gott kann sich ändern.« (313)
Unter diesen Voraussetzungen durchleuchtet E. den evangelischen Gottesdienst vom Glockenläuten bis zum Segen. Der Logik des Gottesdienstes folgend werden die liturgiewissenschaftlichen Ausführungen immer wieder transparent für theologische Er­kenntnisse: Wer dem christlichen Gottesdienst nachdenkt, ist mit dem lebendigen Gott Israels selbst konfrontiert. Zumindest be­zeichnet das Votum den Gottesdienst als einen Ort, an dem »Gott selbst den eigenen Namen in Erinnerung bringen möge« (57). Wie sehr sich Gott dabei an den Vollzug des Gottesdienstes der Seinen bindet, verdeutlicht E. mit Rekurs auf die jüdische Tradition: »Wenn ihr meine Zeugen seid, bin ich Gott, wenn ihr nicht meine Zeugen seid, bin ich nicht Gott.« (31: PesK 102b; vgl. 80) Gott und Gottesdienst gehören zusammen. Eben deshalb ist E.s Gottesdienstbuch zugleich eine kleine schriftgestützte Dogmatik – und, insofern diese vor allem auf das Alte Testament hört, auch eine »Theologie des Alten Testaments« (12).
Drei Aspekte dieser Theologie möchte ich hervorheben: Um an der Hoffnung festzuhalten, dass nicht alles so bleiben muss, wie es ist, sondern alles neu werden kann, sei es biblisch geboten, an Gottes Allmacht festzuhalten – freilich nicht als definitorische Bestimmung Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit, sondern im Sprachmodus der bezeugenden Hoffnung. »Gottes Allmacht zu bekennen hieße dann, allen anderen Mächten zu trotzen.« (190) Den Gedanken der Reue Gottes aufgreifend müsse Allmacht aber auch als Macht über die Macht verstanden werden. Der Allmächtige ist nicht an die Gesetze der Macht gebunden und kann sich deshalb seiner Macht auch entäußern (vgl. 191 f.). Gott verliert seine Macht nicht, wenn er sie nicht durchsetzt, sondern sich den Menschen, einzelnen Menschen, seinem Volk gnädig zuwendet.
Im Blick auf Gottes Gerechtigkeit betont E.: Gerechtigkeit ist biblisch »ein parteilicher, solidarischer Einsatz für die Schwachen« (207). Gottes Gerechtigkeit ist seine rettende Tat, die dem Recht schafft, dem es ansonsten verwehrt wird. »Und wie steht es mit dem Schwert in der Hand der Gerechtigkeit? Die Bestrafung derer, die Böses tun, ist durchaus ein Thema der hebräischen Bibel, aber sie wird dort gerade nicht mit dem Wortfeld z’daka verbunden.« (207) Gottes Gerechtigkeit ist eine rettende, keine strafende – es ist deshalb kein Zufall, dass Luther in der Auslegung der Psalmen »die ersten entscheidenden Schritte zur reformatorischen Rechtfertigungslehre« gelangen (217). Der Psalter erinnert freilich gegen gängig gewordene Formen der Rechtfertigungslehre daran, dass Gottes Gerechtigkeit zuallererst seine vorrangige Option für die Armen bezeichnet.
In Auslegung des Kanzelgrußes wendet sich E. der Gnade Gottes zu: Da das deutsche Wort Gnade »die Bürde eines dezidiert hierarchischen Klangs« trage, schlägt E. vor, die biblischen Wörter chen und charis mit »befreiende Zuwendung« zu übersetzen (247). »Chen ist der Liebreiz, die Anmut, die eine Person ausstrahlt und die in den Augen einer anderen, oft höhergestellten Person Anerkennung, Wohlgefallen, Wohlwollen und dann auch Wohltaten hervorruft.« (246) Franz Delitzsch hat in seinem Übersetzungsversuch von 2Kor 13,13 charis nicht mit chen, sondern mit chesed wiedergegeben. »Chesed ist die Treue im Sinne der Verlässlichkeit und Be­ständigkeit freundschaftlicher Beziehungen […] und die Güte, die uns für eine Weile die eigenen Dinge ganz verlassen lassen, wenn eine andere, ein anderer unsere Zuwendung braucht.« (252)
Das Buch enthält zwei wichtige Hinweise für eine biblisch in­formierte Gebetspraxis: Zum einen plädiert E. dafür, nicht nur der Klage, sondern auch den sogenannten Rachepsalmen Raum im evangelischen Gottesdienst zu geben. Im Gebet, das ist von den Psalmen zu lernen, darf »alles, aber auch alles vor Gott gebracht« werden. »Erfahrungen von Gewalt und Empfindungen von Ra­chewünschen gehören dazu. Sie müssen zu Wort kommen, damit sie nicht das letzte Wort haben.« (91) Zum anderen verdeutlicht E., dass es im Fürbittengebet durchaus darum gehen kann und muss, »Gott an das zu erinnern, das IHR, das SEIN Gott-Sein ausmacht« (308). Darauf verweisen nicht nur Abrahams Fürbitte für Sodom und Moses Fürbitte für das Volk. »Dass sich Gott in Gen 9,12–17 mit dem Zeichen des in die Wolken gehängten Bogens daran erinnern will, nie wieder die Erde zu vernichten, zeigt, dass Gott selbst womöglich solcher Erinnerungen bedarf, um nicht sich zu vergessen.« (308)
Wer mit E.s Lebenswerk vertraut ist, der wird in seiner Theologie des Alten Testamentes viel Bekanntes wiederentdecken. So fasst E. äußerst knapp und eindrücklich die zentrale Einsicht seiner zahlreichen Hiobauslegungen zusammen:
»Hiob bekommt Recht darin, dass er vor Gott und gegen Gott einklagt, sein Leiden sei das Leiden eines Unschuldigen. Aber er bekommt nicht Recht darin, dass er den Zustand der ganzen Welt an seinem eigenen Ergehen bemisst. […] Es gibt Widersprüche in der Welt, die reale Welt ist keine heile Welt, aber das heißt nicht, dass die Welt als Ganze Chaos ist. Gott garantiert keine heile Welt, aber Gott sorgt dafür, dass sie nicht im Chaos versinkt.« (314)
Der Reiz dieses Bandes liegt darin, dass E. seine exegetisch-theologischen Erkenntnisse für die Wahrnehmung und Gestaltung des evangelischen Gottesdienstes fruchtbar macht. Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch Gemeinden werden von der Lektüre profitieren.