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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

117–119

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mason, Paul

Titel/Untertitel:

Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Aus d. Engl. v. S. Gebauer.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2016. 429 S. = suhrkamp taschenbuch, 4845. Kart. EUR 15,00. ISBN 978-3-518-46845-6.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Angesichts vielfältiger Krisenphänomene boomt seit einiger Zeit die Kritik am Kapitalismus. Beteiligte daran sind sowohl prominente Personen des öffentlichen Lebens (z. B. Papst Franziskus »Diese Wirtschaft tötet« von 2013) als auch zahlreiche Vertreter aus der Wissenschaft (W. Streeck, J. Vogel, N. Srnicek, D. Graeber, T. Jackson, Chr. Felber, N. Paech u. a.). Oftmals bieten diese jedoch keine Alternative bzw. deuten diese nur an, oder deren Um- und Durchsetzbarkeit erscheint kurz- und mittelfristig kaum möglich. Das neue Buch des britischen (Wirtschafts-)Journalisten und Hochschullehrers Paul Mason stellt demgegenüber ein Alternativkonzept zum Kapitalismus vor, dessen Realisierungsbedingungen sich bereits jetzt abzuzeichnen begännen.
Die zentrale These des Buches ist, dass der Kapitalismus die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit, auf der sein Erfolg bisher beruhte, erreicht hat (14). Diese Grenzen werden nach M. nicht nur von vielfältigen Krisenphänomenen markiert, sondern auch und vor allem von den modernen Informationstechnologien (IT). Letztere seien sowohl dem Kapitalismus widersprechende Faktoren als auch Grundelemente einer postkapitalistischen Wirtschaft. Im ersten Abschnitt (25–151) analysiert M. die gegenwärtige Krise und deren Ursachen. Die Finanzmarktkrise von 2008 hat nach M. das Versprechen des Kapitalismus auf permanentes Wachstum endgültig desavouiert. Es sind vor allem vier Faktoren, die einerseits den Siegeszug des Neoliberalismus mit seinem Wachstumsversprechen ermöglicht haben, die aber andererseits für M. zugleich dieses Versprechen zerstören (vgl. 35 ff.): 1.) die Lockerung des Kredits – um Wachstumsschwächen auszugleichen – und die daraus resultierende Verschuldung; 2.) die Ersetzung der stagnierenden Arbeitseinkommen durch (billige) Kredite; 3.) die globalen Un­gleichgewichte zwischen Schuldner- (USA, GB, Südeuropa) und Gläubigerländern (BRD, China, Japan u. a.); und 4.) nicht zuletzt die IT, die zunächst die anderen drei Faktoren ermöglicht hat, die aber in Zukunft die Grundlage für weiteres Wachstum erodieren wird. M. stützt sich bei seinen Analysen jeweils auf empirisches Material verschiedener Organisationen (z. B. der OECD) sowie auf zum Teil ausführliche geschichtliche Exkurse (z. B. zur Zyklentheorie von N. Kondratjew sowie zur Arbeiterbewegung). Die Wende hin zur Destabilisierung des Kapitalismus macht M. Anfang der 1970er Jahre fest, mit der Aufkündigung von Bretton Woods (feste Wechselkurse mit dem US-Dollar als Leitwährung), der Ölkrise und der wirtschaftlichen Rezession in den meisten Industrieländern. Durch die neue IT sei jedoch dem Kapitalismus die Suche nach neuen Märkten – als die neoliberale Reaktion auf die Krisenerscheinungen – auf vielen Gebieten versperrt, da deren »Güter« entweder kostenlos oder zu billig seien, um hierauf Marktmechanismen zu etablieren.
Das Konzept einer neuen postkapitalistischen Wirtschaftsweise wird im zweiten Abschnitt des Buches (153–286) vorgestellt. Nach M. zerstört die IT den Kapitalismus, denn sie »zersetzt die Marktmechanismen, höhlt die Eigentumsrechte aus und zerstört die Beziehung zwischen Einkommen, Arbeit und Profit« (158). Die Information wird zu dem zentralen Produktionsfaktor. Anhand zahlreicher Beispiele (Musik, Wikipedia, Open Access, Android u. a.) versucht M. zu zeigen, dass dadurch viele »Güter« kostenlos oder sehr billig werden. Es komme zu einer »Allmende-Produktion« (vgl. 177 ff.), bei der man zugleich Produzent und Konsument werden könne (z. B. Wikipedia). Durch die Ausbreitung dieser wirtschaftlichen Nicht-Marktaktivitäten erhofft sich M. die Entstehung einer »kooperativen, sozial gerechten Gesellschaft« (196). Diese ist gleichsam das sozialethische Leitbild M.s, das er jedoch nicht weiter vertieft. Ähnlich verhält es sich mit seinem anthropologischen Leitbild des »befreiten Menschen« (310) bzw. der »vernetzte(n) Menschheit« (279). Diese soll(en) an die Stelle der alten Arbeiterklasse treten als das »historische Subjekt« (279) auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft. Am Ende steht die Vision einer postkapitalistischen Welt, »in der die Maschinen nichts kosten, der Preis grundlegender Güter bei null liegt und die notwendige Arbeitszeit auf ein Mindestmaß verringert wird« (235). Bei allen über das Lebensnotwendige hinausgehenden Gütern soll sich der Preis nach der klassischen Arbeitswerttheorie richten, die vor allem auf den aufzuwendenden Kosten und der Arbeitszeit beruht.
Beim Übergang zum Postkapitalismus (281–371) ist nach M. mit einem langen Zeitraum (ähnlich dem vom Feudalismus zum Kapitalismus) sowie mit Widerständen zu rechnen. Diese können von »innen« (Wirtschaft, Politik) wie von »außen« (Klimawandel, Demographie) kommen. Anhand der Beispiele von Klimawandel (315 ff.) und weltweitem Bevölkerungswachstum (324 ff.) veranschaulicht M., wie unter Einsatz von IT ein möglichst umfassendes Informationssystem über ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit aufgebaut werden könne, das eine dezentrale Lenkung durch die Gesellschaft in Richtung soziale Technik, Kooperation und Kollaboration ermöglicht. Konkret wird u. a. gefordert, den Niedriglohnsektor zu besteuern bzw. zu verbieten, Monopole (z. B. Apple, Google; Energiesektor) zu verstaatlichen und den Finanzsektor zu vergesellschaften (vgl. 352 ff.). Allerdings soll dies nicht planwirtschaftlich, sondern zivilgesellschaftlich und basisdemokratisch erfolgen (vgl. 283 ff.) Als die wichtigste Umsetzungsmaßnahme – und zugleich als den ersten Schritt zum Postkapitalismus – postuliert M. ein »universelles, staatlich garantiertes Grundeinkommen« (362). Dieses soll allen erwerbsfähigen Menschen zugutekommen, die Arbeitslosenhilfe (nicht: die übrigen Sozialleistungen) ersetzen, die Trennung von Arbeit und Einkommen institutionalisieren sowie die Kosten der Automatisierung (Vernichtung von Arbeitsplätzen) vergesellschaften. M. hält das Grundeinkommen für finanzierbar, wenn es etwa dem Doppelten der momentan für Rentner gezahlten Grundsicherung entspricht (bezogen auf Großbritannien, vgl. 362 ff.). Das Grundeinkommen ist für M. allerdings nur eine vorübergehende Maßnahme, da das Ziel die grundsätzliche Überwindung marktmäßiger, monetärer Transaktionen ist. Wenn schließlich der technologische Wandel auf so gut wie alle gesellschaftlichen Bereiche übergreift, »werden die Reproduktionskosten der Arbeitskraft rasant fallen. An diesem Punkt wird das ökonomische Problem, das die Menschheitsgeschichte beherrscht hat, an Bedeutung verlieren oder vollkommen verschwinden« (367 f.). Die Gesellschaft werde dann zusehends an die Stelle des Staates treten. Die Vision einer kooperativen gerechten Gesellschaft und eines »befreiten Menschen« in einer postkapitalistischen Welt ge­langt damit zu ihrem Ziel.
M.s Analysen bzw. Problembeschreibungen der gravierenden Menschheitsprobleme des 21. Jh.s sind m. E. durchaus diskussionswürdig. Unklar bleibt allerdings, wie verhindert werden kann, dass die im Postkapitalismus durch IT quasi zum Nulltarif bereitgestellten Grundgüter nicht mit einem übermäßigen, nicht-nachhaltigen Verbrauch an Ressourcen und Naturgütern zwangsläufig einhergehen, da die Erfahrung lehrt, dass das, was billig ist, auch mehr verbraucht wird. Ersetzt IT tatsächlich die materielle Produktion, oder verhalten sie sich in vielen Bereichen komplementär? Und weiter: Setzt nicht eine »dezentrale Lenkung« einen starken gesellschaftlichen Konsens voraus, wobei unklar ist, wie dieser erreicht werden soll? Wie mit diesen (und weiteren) Problemen umzugehen wäre, hätte m. E. eine eingehende Auseinandersetzung gerade auch mit ethischen Fragen der Gerechtigkeit erforderlich gemacht. IT kann zwar ein Mittel sein, um eine Gesellschaft ge­rechter zu machen, aber sie ist auch zwiespältig, was bei M. nur am Rande anklingt.
M.s Verdienst ist m. E. darin zu sehen, dass er nicht nur Kapitalismuskritik übt, sondern auch eine Alternative entwirft. Sein Konzept entspricht am ehesten dem antikapitalistischen Modell der »Veränderungen in Zwischenräumen« (E. O. Wright, in: Der Wert des Marktes, hrsg. von L. Herzog und A. Honneth, Berlin 2014, 661), bei dem gleichsam »Inseln einer alternativen und kooperativen Ökonomie« innerhalb einer Gesellschaft institutionalisiert werden. Diesen ist es allerdings, historisch betrachtet, »noch niemals gelungen, kapitalistische Machtbeziehungen in größerem Maße zu erodieren« (663). Auch wenn demnach viele Fragen offen bleiben, regt der Entwurf von M. dazu an, sich Gedanken darüber zu ma­chen, wie die gravierenden Menschheitsprobleme der Gegenwart und der Zukunft bewältigt werden können. Ein »Weiter so« dürfte nicht eine ethisch akzeptable Option sein.