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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

115–117

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kirchschläger, Peter G.

Titel/Untertitel:

Menschenrechte und Religionen. Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016. 271 S. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 7. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-78539-8.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

In dieser Studie wird der Beitrag der Religionen zum Diskurs der Menschenrechte thematisiert. Nach ihrem Titel beschäftigt sich Peter G. Kirchschläger mit »nichtstaatlichen Akteuren« und ihrem »Verhältnis zu den Menschenrechten«. Religionen stehen exemplarisch für nichtstaatliche Akteure, und die christlichen Kirchen mit ihrem Einsatz für die Menschenrechte stehen exemplarisch für Religionen in ihrem Verhältnis zu diesem Themenfeld. Die Arbeit ist aus der Perspektive eines katholischen Theologen (23) geschrieben, der an der Universität Luzern Ethik lehrt. Die Studie ist in sechs Teile aufgegliedert.
Zunächst (19–52) stellt K. fest, dass die Entwicklung der Menschenrechte nicht als linearer Fortschrittsprozess zu verstehen ist und dass an dieser Geschichte Religionen und Weltanschauungen stets mitbeteiligt waren. Im Anschluss an den italienischen Philosophen Norberto Bobbio unterscheidet K. drei Phasen in der Geschichte der Menschenrechte. Alle nicht-staatlichen Akteure, auch die Kirchen, haben positiv und negativ zur Entwicklung der Menschenrechte beigetragen. Die Kirchen haben insbesondere die Verknüpfung von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde hervorgehoben. K. entwickelt ein »funktionales« Verständnis der Gottebenbildlichkeit (35), wonach diese sich nicht auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, sondern auf das Verhältnis der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt richtet. Es wird mehr unterstellt als begründet, dass solche positiven Bezugnahmen auf die Menschenrechte auch in anderen Religionen zu finden seien. Solche Bezugnahmen herauszufinden, bezeichnet K. als besonderes Forschungsdesiderat (50).
Im zweiten Teil (53–122) setzt sich K. mit der Begründung von Menschenrechten in einzelnen Religionen auseinander. Für ihn sind nichtstaatliche Akteure verpflichtet, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Noch mehr: Gerade so können sie am besten für die Menschenrechte agieren (58 f.). Letztere haben eine rechtliche, politische, historische und moralische Dimension, die sich in ihrer Begründungskraft jeweils ergänzen. Die Universalität der Menschenrechte benötigt eine eigene Begründung (74 ff.), gerade wegen ihres historisch und politisch partikularen Ursprungs. Dafür reichen vernunft- und bedürfnisorientierte Ansätze nicht aus. Religionen und Weltanschauungen dienen als »ethischer Referenzrahmen« (105 u. ö.), um Menschenrechte universal zu begründen. K. entwickelt nun ein Konzept der Begründung von Menschenrechten aus dem anthropologischen Begriff der »Verletzbarkeit« (84) des Menschen.
Im dritten Teil (123–162) beschäftigt sich K. mit dem Verhältnis von Universalität und Partikularität. Staaten haben die Aufgabe, Menschenrechte universal durchzusetzen, durch politische und juristische Mittel. Dem weltanschaulich-neutralen Staat bleibt allerdings die moralische Begründung von Menschenrechten verschlossen. Trotzdem bleibt ihm die Aufgabe, Menschenrechte auch innerhalb von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durchzusetzen.
Die Konfliktfälle dazu werden in Teil 4 (163–186) vorgestellt. K. beschäftigt sich mit der sozialethischen Bewertung von Widersprüchen gegen allgemeine Menschenrechte aus partikularen, kulturellen, lokalen und anderen Gründen. Für ihn ist deutlich, dass Menschenrechte zwar historisch kontingent entstanden sind, aber deswegen ihre universale Geltung nicht bestritten werden kann. Deswegen haben Religionen und Weltanschauungen besondere Aufgaben in Bezug auf die Menschenrechte. Das ist Gegenstand von Teil 5 (187–222). K. bringt das auf den Begriff der dialogischen Adaption (15.187 ff.). Dabei wird das Konzept der Adaption vom Konzept der Interpretation unterschieden (193 ff.). Adaption versteht er so: Sie beinhalte »die Übersetzung der Menschenrechte in die Sprache, Denkweise, Begriffe, Konzepte, Narrative, Bilder und Symbole der jeweiligen Religion und Weltanschauung« (197). Dabei setzt sich K. auch mit der besonderen Qualität religiöser Begrün dungen auseinander: »Religiöse Begründungen leben von dem Vorteil, dass ihre Geltung aufgrund ihres Rückbezugs z. B. auf Gott und seine Seinsordnung nur schwer in ihrer Unbedingtheit und Absolutheit übertroffen werden können.« (202) Aber wegen der Konkurrenz von Religionsformen können gerade diese Absolutheitsansprüche auch bestritten werden. Trotzdem schätzt K. ihren Wert hoch ein. Daneben fordert er eine religions- und weltanschauungsübergreifende »universelle Kultur der Menschenrechte« (210). Menschenrechte sollten Religionen als ethischer Referenzrahmen dienen und so auch das interreligiöse Gespräch fördern.
Im abschließenden Teil der Arbeit (223–230) nennt K. neben einer Zusammenfassung konkrete Handlungsfelder und Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation. Insbesondere verweist er auf die Situation der Verfolgung von Menschen aus religiösen Gründen.
K.s Gedankengang ruft eine Reihe von Fragen hervor: Über weite Strecken der Studie benutzt er sehr abstrakte Begriffe (Religion, Weltanschauung, non-state-actors), selbst wenn er sich auf konkrete historische Konstellationen bezieht. Der Versuch, kontingente historische und politische Verhältnisse zu systematisieren und abstrahieren, ist zu würdigen. Aber es ist auch zu fragen, ob in diesem Vorgang der Abstraktion nicht Details und Kontingenzen verlorengehen. Wenn man das Verhältnis einzelner Religionen zu den Menschenrechten historisch und empirisch in den Blick nimmt, dann zeigt sich eine Fülle von unterschiedlichen Bewertungen, die m. E. nur außerordentlich schwer zu systematisieren sind. K. kommt dann gelegentlich zu Ergebnissen, die so selbstverständlich sind, dass sie nicht mehr eigens erwähnt werden müssen, etwa wenn er betont, dass alle Religionen positive und negative Beiträge zu Anwendung, Begründung und Durchsetzung der Menschenrechte geleistet haben. Es reicht nicht aus, dieses in solcher Allgemeinheit zu behaupten. Die Unterschiede sind es, die sozialethisch und rechtstheoretisch besonderes Interesse hervorrufen.
Das führt weiter zu der Frage, ob es wegen des durchgehenden Bezugs auf die katholische Kirche (vgl. 22) nicht ratsam gewesen wäre, das Thema der Studie auf das Verhältnis von katholischer Kirche und Menschenrechten zu fokussieren und nicht den weitergehenden Anspruch zu erheben, dass mit den von K. gewählten Beispielen alle Religionen und Weltanschauungen abgedeckt seien. Er scheint dieses Dilemma selbst bemerkt zu haben, denn er spricht davon, dass es um »Anfragen und Einladungen« (23) an die anderen Religionen gehe, sich nach dem Beispiel der katholischen Kirche mit den Menschenrechten auseinanderzusetzen.
Eine letzte Frage betrifft das Verhältnis von Binnen- und Außenperspektive. K. wechselt beständig zwischen beidem. Er reflektiert über die theologische Begründung von Menschenrechten innerhalb von Religionen, besonders der katholischen Kirche, aber er nimmt auch politische, völkerrechtliche und andere juristische Außenperspektiven ein. Beides scheint nicht völlig zum Ausgleich gebracht.