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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

112–115

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Deane-Drummond, Celia, Bergmann, Sigurd, and Markus Vogt [Eds.]

Titel/Untertitel:

Religion in the Anthropocene. Forword by H. Bedford-Strohm.

Verlag:

Eugene: Cascade Books (Wipf & Stock) 2017. XXIV, 338 S. Kart. US$ 42,00. ISBN 978-1-4982-9191-0.

Rezensent:

Konrad Ott

Seit Paul Crutzens Vorschlag, die gegenwärtig beginnende Phase der Erdgeschichte als »Anthropozän« zu bezeichnen, zieht der Anthropozän-Diskurs seine Kreise und motiviert zu ethischen, politischen und nun erstmalig auch zu theologischen Reflexionen. Die Beiträge des Bandes setzen ein gemeinsames Verständnis des Anthropozän-Konzepts in dem Sinne voraus, dass die Menschheit spätestens seit der »großen Beschleunigung« der 1950er Jahre massiv in das Erdgeschehen eingreift und Veränderungen des Klimas, des Ozeans, der Biodiversität usw. hervorbringt, die auf evolutionären und geologischen Zeitskalen wirksam sind. Diese neue und riskante Situation ist geistig herausfordernd. Der vorliegende Band e nthält neben theologischen auch ethische, historische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Der erste Teil der Rezension be­schäftigt sich mit den säkularen, der zweite Teil mit den theolo-gischen Beiträgen.
1. Teil: Franz Mauelshagen geht auf Ursprünge des Nachhaltigkeitsprinzips bei Thomas Jefferson ein. Das Nachhaltigkeitsprinzip gewinnt (als eine Art intergenerationelles Lockesche Proviso) im Anthropozän als Prinzip kollektiven Handelns an Bedeutung. Mauelshagen plädiert für die Überwindung des Gegensatzes von Geistes- und Naturwissenschaften hin zu einer »Dritten Kultur« der Nachhaltigkeitsforschung. Augustín Fuentes geht davon aus, dass eine anthropologische Betrachtung hilfreich für die Orientierung im Anthropozän sei. Fuentes beschreibt die Menschwerdung als Prozess von Einnischungen, die Selektionsdruck reduzieren und Anpassungsbedarf erhöhen. Das Anthropozän ist in dieser Perspektive das Resultat basaler adaptiver Verhaltensmuster. Nicht »patterns«, sondern »scales« haben sich verändert. Fuentes schließt nicht aus, dass adaptive Verhaltensmuster auf Schonung und Pflege natürlicher Umwelten umgelenkt werden könnten. Glaubensgemeinschaften könnten Beiträge hierzu leisten. Maria Antonaccio sieht das Anthropozän-Konzept als Hybridkonzept an, in dem Diagnosen, Prognosen, Bewertungen und Forderungen durcheinanderlaufen und häufig als »Implikationen des Anthropozän« ausgegeben werden. Auf wohltuende Weise werden Vermischungen von deskriptiven und präskriptiven Geltungsansprüchen aufgedeckt.
Ausgehend von Jaspers’ Konzept der Achsenzeit stellt Bronislaw Szerszynski die Frage nach einer möglichen zweiten Achsenzeit. Deren Geist scheint für Szerszynski in sogenannten »theory-fictions« auf. Es handelt sich um literarische Texte, die virtuelle Welten mitsamt neuen Ontologien, Materialitäten, Denkweisen, Zeitlichkeiten usw. erschaffen. Sie können persisch, vedisch oder taoistisch inspiriert sein und präsentieren »possible radically different geo-spir-itual futures« (50). Wie sich diese postmodernen »theory fictions« zu der Welt der ersten Achsenzeit verhalten, in der die meisten von uns (noch) leben und denken, bleibt unklar. Die erste Achsenzeit war ja die Epoche universalistischer Ethiklehren. Die zweite Achsenzeit könnte eine Welt radikal diverser, partikularer Metaphysiken und entsprechender Moralen sein, die ebenfalls radikal anders sein könnten als die uns geläufigen.
Francis van den Noortgaete rekonstruiert die Ereignisontologie von William Desmond als Möglichkeit, sich im Anthropozän zu orientieren. Geschehnisse, die uns als Widerfahrnisse zustoßen, motivieren uns zu einem Staunen über die Unverfügbarkeit von Welt und Selbst und dem »Zwischen«, in dem das Ereignis stattfindet. So gesehen, finden wir uns im Leben wie als Gäste bei einer großen Feier, wofür wir dankbar sein sollen. Nicht nur ist das Staunen der Anfang aller Philosophie; sondern Grund zur freudigen Demut, dabei sein zu dürfen. Diese Sichtweise führt zu einer Tugendethik, in deren Mitte »ontological gratitude and hermeneutical generosity« (170) stehen.
David Joseph Wellman wirft die Frage auf, inwieweit sich durch die Situation des Anthropozän die herkömmliche Diplomatie verändern werde und sollte. In dieser Situation müsse sich die Sprache der Diplomatie von ihrer Ausrichtung an Militärblöcken, Handelsbeziehungen, kulturellem Austausch usw. lösen und naturbezogene Themen aufwerten. Diplomaten müssen lernen, die (human)ökologische Situation von Ländern und Tendenzen ihrer Entwicklung abzuschätzen. In praktischer Hinsicht könnten Staaten sich als Bioregionen verstehen und entsprechende Bündnisse schließen. NGOs erscheinen als »para-diplomatische« Akteure. Problematisch ist, dass Wellman Hollings ökosystemare Phasentheorie auf die Staatenwelt überträgt. »Failed states« erscheinen dann wie Ökosysteme, die in der Phase des Zusammenbruchs u. a. Migration freisetzen. Der Artikel bricht leider mit Beispielen von Paradiplomatie ab.
2. Teil: Michael Northcott präsentiert ein apokalyptisches Szenario des Zustandes der Welt. So könnten durch den Klimawandel große Weltregionen unbewohnbar werden. Zugleich werden Stimmen laut, die eine Radikalisierung der Naturbeherrschung etwa durch Geo-Engineering fordern. Northcott bietet eine »messianische« Alternative an, die Laster von Hybris, Gier und Sünde zu überwinden. Das Anthropozän stellt uns vor eine existentielle Wahl: »The choice is between Prometheus and the Messiah, Mordor and the Shire« (34). Northcotts apokalyptischer Dualismus mündet in eine Art Notstandsethik: Die reichen Nationen sind moralisch aufgefordert, alle verfügbaren Ressourcen unverzüglich für eine große Transformation zu mobilisieren. Weltweit ist für Northcott eine Bewegung der Liebe im Entstehen begriffen. In messianischer Perspektive sollen wir die Fremden, die aus der Levante, dem Mittleren Osten sowie aus dem Sahel in den Norden einwandern wollen, so in Liebe und Fürsorge aufnehmen, als seien es allesamt Klimaflüchtlinge. Wer dem nicht folgt, unterliegt für Northcott wohl bereits dem Einfluss Mordors. Die Notstandsethik hat klare Feindbilder: »Homo industrialis« erscheint als »the imperious Antichrist« (33). Anhand dieses Aufsatzes wird deutlich, dass Apokalyptik eine religiöse Tradition ist, die sich unter den Anthropozän-Vorzeichen revitalisieren lässt.
Christoph Baumgartner geht auf das Problem von »Stewardship«, d. h. der Pächterbeauftragung der jahwistischen Schöpfungserzählung ein. In die Stewardship-Konzeption lässt sich die Differenz zwischen »Aidos« und »Prometheus« eintragen. »Aidos« ist die Göttin der Scham und der Bescheidenheit, während »Prometheus« der Stifter der vernunftstolzen technischen Zivilisation ist. Baumgartner sucht nach einem Dritten Weg zwischen Aidos und Prometheus im Sinne der christlichen Schöpfungsnarrative. Eine Vertiefung des Hinweises auf das Buch »Naturethik und biblische Schöpfungserzählung« in Fußnote 12 hätte bei dieser Suche behilflich sein können.
Sigurd Bergmann fragt nach der Rolle der christlichen Religion im beginnenden Klimawandel. Für Bergmann sind ästhetische Wahrnehmungsweisen und Haltungen Verbindungsglieder zwischen den umfassenden Deutungsangeboten der Religionen und der säkularen Klimaethik. Religionen eigne eine existentielle motivationale Kraft, die den Begründungen der Ethik fehle. Der Klimawandel erscheint als ein alltagsfernes und langfristiges Problem, das man sich durch Bilder imaginativ nahebringen (lassen) muss. Der spatial turn, den Bergmann entwickelt hat, führt angesichts des Klimawandels nach der Frage von Räumen der Beheimatungen und Chancen der Anpassung. Gelebte per-formative Religion könnte neue lebenswerte und gemeinschaftliche Räume schaffen in einer Epoche, die auch in Kämpfe um Territorien und Ressourcen ab­gleiten könnte.
Marcus Vogt arbeitet den deutschen humanökologischen Diskurs in seiner Bedeutung für den Anthropozän-Diskurs heraus. Die Humanökologie erscheint als eine Brückenwissenschaft mit etlichen normativen Bezügen zu einer kontextuellen Sozialethik, die das Nachhaltigkeitsprinzip umfasst. Das Konzept einer ecological social ethics als Verbindung aus Humanökologie, Sozialethik und spatial turn (Sigurd Bergmann) wird konturiert und in den Horizont der katholischen Sozialethik gestellt.
Celia Deanne-Drummond wendet sich theologischen Markierungen zu, die im Anthropozän-Diskurs wichtige Funktionen übernehmen. Dabei versucht sie, den Beliebigkeiten und intellektuellen Spielereien der Postmoderne zu entkommen, in der alles dekonstruiert und fragmentiert wird. Das Problem des Artikels scheint mir darin zu liegen, dass die Autorin einer Denkform zu entkommen sucht, in die sie sich selbst verstrickt hat. Der Versuch ähnelt der Bemühung, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Der Ausweg ist erstaunlich konventionell: Die imago Dei verwirklicht sich in der Nachfolge Jesu. »Imago Dei becomes imago Christi or even imago Trinitatis« (186). Diese Theologie sieht das Wirken des Heiligen Geistes in der Schöpfung.
Petra Steinmair-Pösel übernimmt ein Schema des Kulturanthropologen René Girard. Schemagemäß neigen Menschen zur Nachahmung, geraten darüber in Rivalität und befreien sich durch Opferung von Sündenböcken. Der Sündenbock-Mechanismus verliert in der Moderne seine gewaltzähmende Kraft. Daraus ergibt sich eine latent apokalyptische Situation von Eskalationsrisiken. Girards Apokalyptik stellt sich in die Tradition der biblischen Unheilsprophetie. Politik, Recht und Verteidigungsanlagen können uns nicht retten. Nur die Imitatio Christi könnte der Logik mimetischer Gewalt entrinnen. Steinmair-Pösel stellt Girards Denkmuster korrekt dar, weiß dann aber nicht mehr weiter und würdigt zuletzt die Enzyklika »Laudato Si’«.
Matthew Eaton radikalisiert Henrik Gregersens Konzept der »tiefen Inkarnation« zu einem »pan-incarnationalist framework« (206). Ein solcher Ansatz werde der soteriologischen Dimension der Christologie im Anthropozän besser gerecht. Dass das Wort Fleisch ward, wird bei Eaton zur »Logos Christology where the divine, informative matrix of creation becomes incarnate in Jesus« (210). Der Artikel ist voller vollmundiger Sätze wie etwa: »In creation and rev-elation, a necessary ontological overlap between God and the world emerges, as the informational matrices of transcendent infinity and finite materiality shape one another in a pan-incarnational reality« (215). Aus der Perspektive kritischer Philosophie ist das reine Wortlyrik.
Anders Melin beschäftigt sich mit der Thematik des Artenschutzes aus spekulativ-eschatologischer Sicht. Hierbei nimmt er mit Southgate an, dass es Gottes Plan mit der Schöpfung sei, das Aussterben von Arten zu beenden. Gott konnte keine Welt der Lebewesen schaffen, in der es nicht zum Aussterben von Arten kam, aber »it is a part of God’s final plan for creation to eliminate species extinction« (259). Die Evolution war gleichsam nur Gottes Notlösung und ist nicht »God’s final will for creation« (262). Für Melin sind wir nicht nur verpflichtet, anthropogene Extinktionen zu vermeiden, sondern als Partner Gottes sollten wir auch das natürliche Aussterben von Arten reduzieren. Melin glaubt, dass wir dies tun könnten, indem wir Arten voneinander separieren und in Jäger-Beute-Nahrungsnetze eingreifen. M. E. liegen hier biologische Fehler vor, denn Jäger-Beute-Beziehungen führen in der Regel – mit Ausnahme von Neozoen-Prädatoren etwa auf Inseln – nicht zum Aussterben von Arten.
Der Band bietet reichlich Stoff zum Nachdenken, auf welche mo-ralischen und spirituellen Quellen wir zur Orientierung im An­thropozän zurückgreifen könnten und sollten. Technokratische Lösungen eines rationellen Managements von »spaceship Earth« einschließlich Geo-Engineering werden mit postsäkularen Deutungsangeboten konkurrieren. Dies zeigt der vorliegende Band exemplarisch und teilweise kreativ auf. Wie im Vexierbild zeigt der Band aber auch die Gefahr, dass die Kraftquelle der Spiritualität in eine synkretistische und eklektizistische Beliebigkeit münden könnte. Das Verdienst des Bandes liegt darin, die Debatte um Religion im Anthropozän eröffnet zu haben, seine Schwäche in der Ansammlung von heterogenen Ansätzen, die kaum jemals in Auseinandersetzung miteinander treten. Apokalyptik, Beheimatung, Nachhaltigkeit, theory fictions, Tugendethik, stewardship, Nachfolge Christi, Paninkarnation – der »Markt der Möglichkeiten« ist voller Angebote. Die postsäkulare Postmoderne könnte im Anthropozän zum Tummelplatz eines spirituellen anything goes werden. Bei der Lektüre des Bandes wird deutlich, dass nichts wahrscheinlicher ist als ebendies. Die geheime Angst davor scheint in mehreren Artikeln unterschwellig spürbar. Am Ende einiger Artikel macht sich auf lehrreiche Weise Ratlosigkeit breit. Es gilt im An­schluss an diesen wichtigen Sammelband, kritisch daraufhin zu prüfen, was, mit Nietzsche gesagt, auf dünnem Eis noch tragen könnte. Wie also könnte eine ethisch-theologische Systematik aussehen, deren Ergebnisse den Imperativen von Ressourcensicherung, Geo-Engineering, Weltmärkten, Neonationalismus, autoritären Politikmodellen usw. überhaupt mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten könnte?
In diesem Sinne ist der Band ein Auftakt und (vielleicht) ein Übergang zu einer wirklichen Schöpfungstheologie für das An­thropozän. Wünschenswert wäre eine Rezeption durch systematische Theologen, die an derartigen Fragen ein Interesse nehmen.