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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

109–112

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Treiber, Hubert

Titel/Untertitel:

Max Webers Rechtssoziologie – eine Einladung zur Lektüre.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2017. VI, 193 S. m. Tab. = Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, 16. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-447-10843-0.

Rezensent:

Hartmann Tyrell

Mit der Rechtssoziologie Max Webers hat es innerhalb des Weberschen Gesamtwerks eine besondere Bewandtnis. Um nur ein Wort zur Textgrundlage zu sagen: Gerade für die Rechtssoziologie liegen von Webers Hand, was die Ausnahme ist, die Originalmanuskripte vor. Aber was er mit diesen Texten des Näheren vorhatte, ist unklar. Über ihren Bezug auf das Großvorhaben von Wirtschaft und Gesellschaft und die Verortung darin geben die Texte keine nähere Auskunft, und in der umfänglichen Korrespondenz findet sich kaum eine Bezugnahme auf die Manuskripte (und die Arbeit daran). Auch teilt das wohl 1913/14 entstandene Textgut von sich aus kaum etwas mit über den Zweck seiner Abfassung, über Programmatik, Komposition und Gliederung, und das gilt zumal für das umfangreiche, aber ungerahmte Manuskript, das – seit dem Erscheinen des der Rechtssoziologie gewidmeten Bandes I/22–3 der Max Weber-Gesamtausgabe – den Titel »Die Entwicklungsbedingungen des Rechts« trägt. Andererseits ist unübersehbar, dass gerade hier Webers universalgeschichtliches Rationalisierungsthema und die Frage nach der Sonderentwicklung des Okzidents allenthalben bestimmend sind: im Blick auf die überaus komplexe innergesellschaftliche Evolution des Rechts. Kurz: Der Leser wird hier »auf dem Rechtswege« durch die verschlungene Geschichte der okzidentalen Rationalisierung geführt, und auf diesem Wege bietet das hier zu besprechende Buch, wie schon vorab gesagt sein darf, alle nötige Hilfestellung und Orientierung.
Dass die Rechtssoziologie nun (als MWG I/23–3) seit 2010 auf gesicherter Textgrundlage vorliegt, ist für die Webersche Sache ein enormer Fortschritt und Gewinn. Nun hat sich auf dieser Grundlage mit T. einer der renommiertesten deutschen Rechtssoziologen daran gemacht, eine gleichermaßen einführende wie systematisierende Darstellung der Weberschen Rechtssoziologie zu erarbeiten, und abermals ist erheblicher Gewinn zu vermelden. Dies aus zwei Gründen: Zum einen nämlich ist T. wie kaum ein anderer Forscher hierzulande vertraut mit (nicht nur) der juristischen und rechtstheoretischen Literaturlage der Zeit vor und um 1900 und nicht weniger auch mit der neueren rechtshistorischen Forschungsliteratur. Allenthalben kommt das in seiner Darstellung der Weberschen Gedankengänge, auch über die darin enthaltenen Exkurse hinaus, zum Tragen. Dem Leser wird also weit mehr als Weber-Exegese geboten. Zum anderen aber hat T. sich, was den Hauptteil des Buches angeht, für eine vierteilige Darstellung des Weberschen Stoffs entschieden, die diesen gewissermaßen gegen den Strich aufbereitet, sich dafür aber durchaus auf Weber berufen kann. Auch das weiß zu überzeugen.
Nach einer Einführung, die mit den oben angedeuteten Problemen und den Datierungsfragen der Weberschen Rechtssoziologie befasst ist (3 ff.), behandeln die beiden ersten Kapitel des Buches Grundsatzfragen und tun das auf instruktive Weise. Die Fragen, um die es zunächst geht, betreffen Webers Begrifflichkeit von »Geltung«, (normativer bzw. legitimer) »Ordnung« und »Recht«. Vorausgesetzt ist dabei Webers grundlegende Unterscheidung von juristisch-dogmatischer und soziologisch-empirischer »Geltung« (11 ff.). Charakteristisch für T.s gelehrsame Arbeitsweise ist der hier gleich anschließende Exkurs, der nach der »Herkunft von Webers Geltungsbegriff« fragt und den Blick zumal auf Wilhelm Windelband richtet (13 ff.). Auf die Frage »Was ist Recht?« antwortet T. zunächst mit der bekannten Bestimmung, die Weber in den »Soziologischen Grundbegriffen« gibt. Dort sind – oberhalb der bloßen Verhaltensregelmäßigkeiten von Brauch und Sitte – in normativer Hinsicht »Konvention« und »Recht« geschieden. Das Letztere ist darin spezifiziert, dass es »äußerlich garantiert« ist, nämlich für den Fall der Abweichung oder Normverletzung einen entsprechend spezialisierten »Erzwingungsstab« bereithält (18 ff.).
Die Grundsatzfrage, der sich das zweite Kapitel zuwendet (25 ff.), heißt Rationalität. Und hier gilt zuerst der Webersche Satz: »Ein Recht kann in sehr verschiedenem Sinne ›rational‹ sein, je nachdem, welche Richtungen die Entfaltung des Rechtsdenkens einschlägt.« (27 f.) T. nimmt dies auf und unterscheidet hier die Frage nach dem »Maß« von der nach der »Art der Rationalität des Rechts« (27 ff.). Unter Letzteren behandelt er das von Weber auch im ökonomischen Kontext genutzte Oppositionspaar von »formaler« und »materialer« Rationalität, das ihm nicht zuletzt in Hinsicht auf die Unauflöslichkeit der Widersprüche, die die Differenz der beiden Rationalitäten in sich birgt, so bedeutsam war. Speziell auf den Rechtsgang (das Verfahren) bezogen bringt T. bei Weber aber noch eine weitere Begriffsopposition zum Vorschein: die von »formell« und »materiell« (36 f.). Das »rechtlich Formelle« bezieht sich in diesem Kontext (mit Webers Worten) auf »das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z. B. daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine […] symbolische Handlung vorgenommen ist«. Ohne sie ist die Prozedur hinfällig. Es ist aber von großem Interesse zu sehen, dass solcher Rechtsformalismus seine römisch-rechtlichen Vorläufer hatte und dass dabei die so verfahrensskrupulöse römische religio die Hand im Spiel hatte; mit Weber: »eine Folge des Hineinragens der Magie« (51.57 f.), wobei Magie sonst gerade für »Irrationalität« steht. Mit diesem Befund ist nun aber bereits der Boden des dritten Kapitels betreten.
Dies dritte Kapitel »Entwicklungsstufen des Rechts und des Rechtsganges« (41 ff.) ist nun das Hauptstück des Buches. Seinen Stoff bezieht es im Wesentlichen aus dem umfangreichen Weberschen Text, der, wie oben angesprochen, jetzt »Die Entwicklungsbedingungen des Rechts« heißt. Dieser Text umfasst acht Paragraphen und zieht auf einer Reihe verschiedener Gebiete die Linien der Rationalisierung des Rechts historisch weitläufig nach und tut es von archaischen Anfängen aus bis hin zu den modern-okzidentalen Rechtsverhältnissen. Dabei ist die mehrdeutige Rationalisierung natürlich nicht etwas, das sich von selbst vollzieht oder voranbringt. Im Gegenteil: Sie ist etwas ausgesprochen Unwahrscheinliches, und die soziologisch schwerwiegende Frage, was die Rationalisierung(en) hemmt oder blockiert bzw. begünstigt, ist Weber allenthalben vor Augen. T. nun hat sich entschieden, diese Rechtssoziologie nicht in Anlehnung an Webers Paragraphenfolge zu rekonstruieren. Für sein Buch ist stattdessen ausschlaggebend, dass er Webers soziologische Rechtsgeschichte in einer Sequenz von vier Entwicklungsstufen erzählt. Vom kurzen Schlusskapitel (169 ff.) abgesehen ist der Großteil des Buches ganz auf die Stufenfolge konzentriert und der Webersche Stoff damit neu organisiert.
Von dieser Reorganisation macht T. (zu) wenig Aufhebens. Entscheidend ist aber: Das »theoretische« Stufenmodell ist von diesem unmittelbar übernommen (39); es selbst entstammt, zu einem Satz komprimiert (»Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsganges führt, in ›theoretische‹ Entwicklungsstufen gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch ›Rechtspropheten‹ zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren [Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung] weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen auf Grund literarischer und formallogischer Schulung sich vollziehenden ›Rechtspflege‹« durch »Rechtsgebildete [Fachjuristen]« [MWG I/22–3, 617 f.]), den An­fangsüberlegungen des (auf den »Rechtsformalismus« konzentrierten) Paragraphen 8 der »Entwicklungsbedingungen des Rechts«, kommt dort aber nicht stärker zum Zuge. Ein wenig an Kontextbeschreibung wäre, was T.s »Umnutzung« angeht, vielleicht doch geboten gewesen. Es fragt sich ja, warum das Stufenmodell von Weber erst an dieser Stelle ausformuliert wird. Dass es bei den »Entwicklungsstufen« um eine idealtypisch konstruierte Steigerungsreihe und nicht um Realgeschichte geht, versteht sich. T. seinerseits spricht von » genetischer Betrachtungsweise« (39 f.). Für seine Darstellung, die mit Weber »innerjuristisch« die jeweiligen Trägerschichten beim Namen nennt, ist zudem wichtig, dass sie sich auf die okzidentale Entwicklung beschränkt, also die Vielzahl von Seitenblicken, die Weber auf Indien, China usw. wirft, ausblendet. Schließlich gilt für T. als Maßgabe: »Weber schreibt keine Rechtsgeschichte, vielmehr interessiert er sich für die den rechtlichen Rationalisierungsprozess hemmenden oder ihn fördernden Faktoren, neben den innerjuristischen Prozessen von langer Dauer, vor allem die die ›außerjuristischen Verhältnisse‹ betreffenden politischen Faktoren.« (128) Den politischen Faktoren treten, was das Außen des Innen/Außen betrifft, die religiösen an die Seite. An T.s überzeugender Rekonstruktion von Webers Rechtssoziologie unter »genetischen« Vorzeichen ist schließlich hervorhebenswert, dass er die Webersche Argumentation vielerorts durch die Einbeziehung des neueren rechtshistorischen Forschungsstands »nachrüstet«.
Aus Platzgründen ist hier nun nicht viel mehr möglich, als die Stufenfolge von rechtlicher Rationalisierung und Ausdifferenzierung knapp zu charakterisieren, wobei ich einen speziellen Akzent auf die religiösen Momente setze. Diese kommen gleich auf der ersten Stufe, der der »Rechtsoffenbarung durch Rechtspropheten« stark zum Tragen (44 ff.). Gegenstand sind hier »Mose und Muhamad«; es ist dies die einzige Passage, die den Leser unbefriedigt hinterlässt. Umso ertragreicher ist die Darstellung der den »Rechtshonoratioren« und ihrer Rechtsschöpfung und -findung gewidmeten zweiten Stufe (50 ff.). Hier sind zunächst die Entwicklung des römischen Rechts (zunächst inkl. des Sakralrechts) sowie dessen auf fachliche Beratung setzende Rechtspraxis zur Sprache gebracht, dies bis in die Ära Justinians. Dem folgt eine besonders lehrreiche Darlegung zur englischen Rechtsentwicklung; für den Weg in die Professionalisierung steht hier die »handwerksmäßig-empirische Rechtslehre« durch Anwälte (73 ff.). T. eröffnet die Verhandlung der dritten Stufe mit dem Blick auf die »theokratischen Gewalten« (102 ff.): mit der Entgegensetzung der islamischen Rechtsentwicklung, die den Rechtsweg in die Rationalität »hemmt«, hier und dem genau ge­genteilig wirkenden Kanonischen Recht des europäischen Mittelalters dort; gerade dessen Bedeutung mit seinem universitären Lehrbetrieb, der (im Differenzierungssinne) von dem der Theologie konsequent geschieden war, schätzte Weber besonders hoch ein. Die Darstellung wechselt dann auf die Seite der politischen Ge-walten und des weltlichen Rechts und skizziert die neuzeitliche Rechtsentwicklung bis hin zum Code civil. Die vierte Stufe schließlich nimmt das 19. Jh., die Universität und die Pandektenwissenschaft in den Blick; sie ist mit dem Titel »Rechtspflege durch Rechtsgebildete (Fachjuristen) auf Grund von ›Universitätsschulung‹« präzise charakterisiert (150 ff.).
An die Adresse von Juristen, Soziologen wie auch Theologen kann man abschließend nur mit Nachdruck sagen: Es lohnt, der von T. ausgesprochenen »Einladung zur Lektüre« nachzukommen.