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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

100–102

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bartuschat, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2017. 435 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-7873-3143-7.

Rezensent:

Karl Reitter

Wolfgang Bartuschat, der alle wichtigen Werke Spinozas neu ins Deutsche übersetzt hat, zählt zu den profundesten Kennern der Philosophie Spinozas. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass viele seiner verstreut publizierten und oft schwer greifbaren Aufsätze gesammelt in einem Band vorliegen. Die Texte umfassen zahlreiche Aspekte und sind in die Gruppen »Ontologie und Subjektivität«, »Ethik und Politik« sowie »Bezüge« gegliedert. Im letzteren Abschnitt setzt sich B. vor allem mit historischen Spinoza-Rezeptionen von Hegel, Leibniz, Fichte und Schelling auseinander. Die Beiträge sind hochinformierte, komplexe Überlegungen, die allen, die sich mit Spinoza ernsthaft beschäftigen wollen, eindringlich zur Lektüre empfohlen werden. B. wird dem Text bei Spinoza immer gerecht und scheut sich auch nicht, auf die eine oder andere Unstimmigkeit zu verweisen. B. benützt Spinoza keinesfalls für eine philosophische Umschrift, wie dies in der nietzscheanisch inspirierten Rezeption, etwa bei Deleuze, der Falle ist. So arbeitet B. durchgehend die Bedeutung des wahren Erkennens bei Spinoza heraus, die von der poststrukturalistischen Lektüre weitgehend vernachlässigt wird. Sein Zugang zu Spinoza ist philologisch, nicht strategisch.
Ich will nun durch einige Schlaglichter etwas Einblick in Details ermöglichen, wobei die Auswahl angesichts des Umfangs des Buches notwendig selektiv ist. Den grundlegenden Aufbau des Hauptwerks Spinozas bestimmt B. folgendermaßen: Die Ethik könne keinesfalls so gelesen werden, als ob im ersten Teil alles Wesentliche bereits expliziert wäre. In diesem Falle wäre der Titel Ethik völlig widersinnig; von Ethik ist in diesem Abschnitt noch nicht die Rede. Im ersten Teil bliebe die Dimension der Zeitlichkeit logisch notwendig ausgeblendet, da der Substanz/Gott diese Di­mension nicht zukommt. Die Bestimmung des endlich-Einzelnen, also vor allem des Menschen, bliebe daher abstrakt und blass, da wir eben durch Zeitlichkeit bestimmt sind. Auch die Körper- und Erkenntnislehre des zweiten Teils bliebe unvollständig, die Kategorie der intuitiven Erkenntnis unausgewiesen, da noch der Bezug zur Affektivität, zum conatus, fehle. Erst der Zusammenschluss von Erkennen und Affekt entfaltet die eigentliche Thematik der Ethik, nämlich die Verbindung von wahrer Erkenntnis und dem angemessenen Umgang mit unseren Affekten. Erst im fünften Teil könne Spinoza jenen »im 1. Teil der Ethik dargelegten Bezug zwischen Absolutem und endlich-Einzelnem vom endlich-Einzelnen her demonstrieren.« (25) Dies habe allerdings den Preis, dass Spinoza die »dubiose« (27) Unterscheidung zwischen zwei Seelenteilen (sterblich und unsterblich) einführen muss. »Ethik ist zur Metaphysik des Unendlichen geworden und hat das Moment des Handelns der reinen Kontemplation geopfert.« (27) Allerdings zeigt B., dass es sozusagen zwei Ausgänge der Ethik gibt. »So bleibt denjenigen, die hinsichtlich Spinozas Theorie der Ewigkeit des mensch-lichen Geistes und der darin verankerten Macht unseres Erkennens (also den meisten von uns), für Fragen der Ethik im engeren Sinne immer noch seine im 4. Teil entwickelte Theorie des Guten.« (218) B., das lässt sich zusammenfassend sagen, beleuchtet meiner Auffassung nach zutreffend die strukturelle Dichotomie zwischen dem zeitlos Unendlichen (Gott und dessen Hervorbringungen) und dem zeitlich Beschränkten (dem Menschen und seinen Affekten und seinem Streben). Wohl lassen sich die Existenzbedingungen des Menschen nur in Bezug auf das Absolute verstehen, aber die Einzeldinge sind durch eigensinnige Bestimmungen gekennzeichnet. Vor dieser Folie durchleuchtet B. alle wichtigen Begriffe und Bestimmungen der Ethik und bietet so jeder Debatte um strittige Interpretationen gute Anhaltspunkte und klärende Erläu-terungen.
B. zeigt, dass Spinoza in der Ethik einerseits und im theologisch-politischen Traktat (TTP) sowie im politischen Traktat (TP) andererseits unterschiedliche Themen und Probleme behandelt. Den TTP liest er als erste Konzeption des politischen Gemeinwesens, welche, abgesehen von der Bibelinterpretation, die Freiheit des Staates insofern als Ziel hätte, als es dort um das Recht auf freies Denken und auf freie Meinungsäußerung ginge. Allerdings hätte Spinoza im TTP noch zu viel Vernunft für alle Menschen unterstellt. Im TP würde die Problematik erweitert. Der Gegensatz zur Ethik würde vollendet. Diese terminiere in der Perspektive aller Herrlichkeit für jene Menschen, die durchgehend von Vernunft geleitet würden. Eine Theorie des Gemeinwesens und dessen Gesetze müssen hingegen, wie Spinoza ja klar betont, davon ausgehen, dass niemals alle Menschen sich gleichermaßen von der Vernunft, und nur von der Vernunft leiten ließen. Es ginge stattdessen um Überlegungen, wie die Stabilität des Staates gesichert sein könnte. B. interpretiert ausführlich das Zusammenspiel von Naturrecht und gesetztem Recht bei Spinoza, wobei er betont, dass das Naturrecht, welches bei Spinoza bekanntlich immer in Geltung bleibt, eben eines Gemeinwesens bedarf, um wirken zu können. »Ohne gesetzliche Regelungen«, so B., könne der Mensch »seines natürlichen Rechtes überhaupt nicht inne werden« (273). Im Gegensatz zur These von De-leuze, bei Spinoza sei letztlich alles Zusammensetzung, die einen bestimmten Grad an Handlungsfähigkeit realisiere, verweist B. darauf, dass der Staat keineswegs analog zu Lehrsatz 11 des 2. Teils der Ethik als komplexer Metakörper gedeutet und ihm gar ein conatus zugesprochen werden könne (259).
Es seien mir abschließend zwei kritische Bemerkungen erlaubt. Erstens: Ich meine, dass B. den zweifellos vorhandenen Gegensatz von Ethik und TTP zu schroff darstellt. Auch wenn es nur wenige zu jener Glückseligkeit bringen, die als das letztliche Ziel der Ethik anvisiert wird, bedürfen doch auch diese wenigen dazu materieller Voraussetzungen. Diese liegen auch im wohlgeordneten Gemeinwesen, welches Spinoza funktional mit der Fähigkeit zur wahren Erkenntnis verknüpft. Im 38. Lehrsatz des vierten Teils koppelt Spinoza explizit die Mannigfaltigkeit und Pluralität des Affiziertwerden und des Affizierens – Marx würde da von wahrem Reichtum sprechen – mit der Fähigkeit zu Erkennen. Wäre hier nicht doch eine Brücke zur Politik möglich? Zumal es ja die ganz konkreten raum-zeitlichen Umstände sind, von denen diese Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden abhängen. Auch der Lehrsatz 73 weist in diese Richtung »Der Mensch, der von der Vernunft geleitet wird, ist freier in einem Staate, wo er nach gemeinschaftlichem Beschlusse lebt, als in der Einsamkeit, wo er sich allein gehorcht.« Auch wenn der letzte Schritt »ebenso schwierig wie selten« (LS 42, V, Anm.) sein mag, die Voraussetzungen, bzw. die Hemmnisse dafür, sind durch die jeweilige politische Ordnung gegeben. Zweitens: B. erachtet den von Spinoza im PT eingeführten Begriff der multitude als unausgewiesen. Spinoza spricht davon, dass die multitude »wie von« (veluti; vgl. PT, II, § 16) von einem Geist geleitet würde, macht aber keinen Versuch, eine »Genese von Gemeinsamkeit zu liefern« (262). Zudem würde er einen Zirkel unterstellen. Nur die gemeinsame Macht der multitude kann ein optimales Gemeinwesen schaffen, aber dieses Gemeinwesen ist wiederum konstitutiv für die Bildung einer Menge, die »wie von einem Geist geleitet« (u. a. PT, II, § 21) agiert. Wenn der Staat gegen die Menge handelt, wird er instabil und zerfällt letztlich. Spinoza denkt Politik und Recht unter Stabilitäts- und Gleichgewichtsbedingungen, der quasi vereinheitlichten Menge kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die Frage ist: Ist jener von B. monierte Zirkel ein Mangel oder ein Vorteil? Spinoza denkt, so es um den Menschen geht (zumindest bis zur Kontemplation als Gipfel menschlichen Erkenntnishandelns im fünften Teil der Ethik), in Prozessen, formuliert in Konditionalsätzen. Durchgehend finden wir Wendungen wie »je … desto« oder »um so … je mehr«. Das »wie von einem Geist geleitet« fügt sich in diese Konzeption. Menschen können mehr oder weniger übereinstimmen. Den Grund für Konflikt und Gegensatz erkennt Spinoza im Mangel, im Mangel an Sein und im Mangel an Erkenntnis. Tendiert der Zirkel zum positiven, wird das Gemeinwesen stabil sein, umgekehrt wird es zum Zerfall kommen. Die Möglichkeitsbedingungen für Übereinstimmung expliziert Spinoza im vierten Teil der Ethik. Akzeptiert man, wie B. es vorschlägt, den vierten Teil als für sich stehendes Zwischenergebnis der Ethik, dann ist sie wohl als Grundlegung für eine Theorie der Politik und des Rechts zu lesen.