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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

97–98

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Albrecht, u. Wilhelm Herrmann

Titel/Untertitel:

Briefwechsel 1875–1889. Hrsg. v. Ch. Chalamet, P. Fischer-Appelt u. J. Weinhardt in Zus.-Arb. m. Th. Mahlmann †.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XII, 520 S. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-149975-3.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Anzuzeigen ist ein nach allen Regeln der Kunst besorgter Briefwechsel, für den die Herausgeber ihre bewährte editorische Sorgfalt sowie ihre gesammelte theologiegeschichtliche Kompetenz eingebracht haben. Der Band ist ein Fundus, um der Entstehung von Ritschls und Herrmanns Schriften und dem jeweiligen Profil ihrer theologischen Arbeit nachzugehen. Er bietet Einblick in die Besetzungspolitik hinsichtlich der theologischen Lehrstühle, die Theologen aus der durchaus heterogenen Gruppe der »Ritschlianer« eine ganze Reihe einflussreicher Positionen eingebracht hat und mit zu ihrer Wirkung als bedeutendster theologischer »Schule« seit der Mitte des 19. Jh.s beitrug. Der Band lässt deutlich werden, wie Ritschl – der insbesondere den konfessionellen Lutheranern trotz bzw. gerade wegen seines Anspruchs, die Grundanliegen Luthers zur Geltung zu bringen, ein Dorn im Auge war – und seine ›Schüler‹ in der kirchen- und theologiepolitischen Landschaft des 19. Jh.s zu stehen kamen. Vermittelt über das zensierende Urteil der Briefschreiber öffnet der Band dem Leser das reiche Spektrum theologischer Publikationen der Zeit. Nicht zuletzt erhält man einen Eindruck von den unterschiedlichen Charakteren, die hier miteinander konferieren, wobei die eifrige, ehrerbietige Kontaktpflege des jüngeren Herrmann und Ritschls nüchterne, wenn auch nicht unherzliche Art auffallen. In Maßen wird auch Privates ausgetauscht.
Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann lernen sich im Frühjahr 1884 im Hause Tholucks in Halle kennen; und es war Tholuck, der Herrmann, den Hallenser Theologiestudenten mit »allen Referenzen eines guten Pietisten« (3), Ritschl, dem erklärten Gegner alles Pietistischen, anempfiehlt, was dieser zunächst schroff zurückweist. Erst auf Herrmanns Zusendung seiner Dissertation über Gregor von Nyssa hin (Ritschls Rezension ist im Anhang des Bandes beigegeben) lässt Ritschl sich dazu bewegen, Herrmann in seiner wissenschaftlichen Laufbahn zu fördern. Herrmann rückt allerdings fürderhin zunehmend das individuelle religiöse Erleben, das aus dem Nachempfinden des inneren Lebens Jesu entspringt und dazu verhilft, »das Selbstgefühl des konkreten sittlichen Geistes in einer religiösen Weltanschauung zu sichern« (zitiert Anm. 25), ins Zentrum seines theologischen Denkens (vgl. dazu die prägnante Darlegung der Grundlinien von Herrmanns Theologie in der Einleitung 1–26). Dieser Grundzug einer, aus der Sicht Ritschls gesehen, einseitigen Fixierung auf das individuelle Erleben dürfte das Charakteristikum sein, was Herrmann – jenseits von theologiepolitischen Durchsetzungsstrategien und gewissen gemeinsamen theologischen Grundannahmen – von Ritschl theologisch bleibend unterschied bzw. worin Herrmann meinte, über Ritschl hinausgehen zu müssen. Der Leser wird sich durch den Briefwechsel und vor dem Hintergrund des theologischen Werks beider Theologen mitnehmen lassen in die Frage nach dem Für und Wider, das mit der besagten Herrmannschen Fokussierung einhergeht, und darauf reflektieren, was an Ritschls Theologie, wenn man sie frei von den um sie kursierenden Vorbehalten studiert, durchaus noch immer bedenkenswert ist: etwa, was das Verständnis der Schrift und ihrer Bedeutung für Theologie und Glauben, was die Bedeutung der mit Gott versöhnten Gemeinde als des von Jesus Christus ausgehenden Wirkzusammenhangs, was die Bedeutung des Alten Testaments für die Erfassung von Person und Wirken Jesu oder was den Zusammenhang von Glaube und christlichem Ethos, welches nicht schon im individuellen Selbstgefühl eingeholt ist, angeht, um von vielem nur einiges zu erwähnen. Diese Fragen führen dann auch mitten hinein in die Wirkungsgeschichte, die Wilhelm Herrmann – durch Anknüpfung und Widerspruch hindurch – bei R. Bultmann und K. Barth hatte.
Der Briefwechsel – und erwähnt sei hier auch der ebenfalls hervorragend edierte Briefwechsel zwischen Ritschl und A. v. Harnack 1875–1889 (herausgegeben von J. Weinhardt, Tübingen 2010) – ist eine lohnenswerte Lektüre, insbesondere für den Kenner der Theologiegeschichte des 19. Jh.s; und den Herausgebern gebührt höchs-ter Dank, dieses Material für die theologische Forschung in solch vorzüglicher Weise gehoben zu haben.