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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

91–93

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Stegmann, Andreas, u. Henning Theißen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christliches Leben in der DDR. Diskussionen im ostdeutschen Protestantismus von den 1950er bis zu den 1980er Jahren.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 358 S. = Greifswalder Theologische Forschungen, 29. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05701-6.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Über die Kirchen in der DDR wurde schon viel veröffentlicht. Der vorliegende Sammelband enthält Vorträge, die auf einer Fachtagung an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin 2017 im Zusammenhang mit dem Projekt »Diskurse unierter Theologen« gehalten wurden.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist der erste Aufsatz von den Herausgebern: »Reflexionsfelder christlichen Lebens in der DDR«. Er geht davon aus: »Die DDR war ein atheistischer Staat, der die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft als übergeordnetes Staatsziel begriff« und als historische Folgerichtigkeit das Absterben der Religion erwartete. Die Kirchen reagierten darauf mit einer sich »über vier Jahrzehnte erstreckenden Diskussion, […] welchen Ort Religion in der DDR hatte und wie man als Christ hier leben konnte« (9). »Der Staatsatheismus (war) ein Unternehmen, das auf die förmliche Widerlegung der Wahrheitsansprüche von Religion und ihrer theologischen Reflexionsgestalt zielte«, zugleich gab es auch den »Gewohnheitsatheismus«, dem das theoretische Inter-esse völlig abging und die Folge einer »über mindestens zwei Ge-nerationen realisierten Ausschaltung oder Zurückdrängung religiöser Sozialisierungsmöglichkeiten« war und zu einer »selbstverständlichen Religionslosigkeit« führte. Doch gab es auch in der DDR christliches Leben. Es äußerte sich u. a. darin, dass »das Chris-tentum als gesellschaftliche Wirklichkeit […] in kritische oder konstruktive Beziehung zum Staat treten muss«, darauf kann aber christliches Leben in der DDR nicht beschränkt bleiben. Auf die Wirklichkeit im individuellen Leben des Christen bzw. der Ge­meinde geht das Buch nicht ein, sondern auf den »institutionellen Bezug zum Staat« (12–14). Dabei ist die Pluralität der theologischen Konzeptionen zu beachten, die ihren Grund in der jeweiligen »Konfessionskultur« hat. Problematisch bei der Erforschung des Sachverhalts ist, dass weithin keine gedruckten Texte vorliegen, weil dafür keine Druckgenehmigung zu erhalten war. Faustregel ist, dass »in der Theologiegeschichte der DDR Öffentlichkeit nicht durch die Produktion, sondern die Rezeption von Texten zustande kam«. Eine Ausnahme bilden nur Veröffentlichungen »staatsnaher Theologen«, die freilich gegenüber kirchlichen Verlautbarungen nur geringe Wirkung erzielten. Symptomatisch dafür ist, dass das Synodalreferat von Heino Falcke von 1972 nie in der DDR gedruckt werden durfte, aber am folgenreichsten war (21 f.).
Im Mittelpunkt des Bandes stehen Johannes Hamel und sein Wirken. A. Stegmann analysiert »Johannes Hamel und die Diskussion um das christliche Leben in der DDR Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre«. Ausgangspunkt dafür war der Synodalvortrag Günter Jacobs von 1956, in dem er das »Ende des konstantinischen Zeitalters« verkündete und im Hinblick auf die zu bewältigenden Herausforderungen der Gegenwart Folgerungen zu ziehen forderte (32). Hamel betonte die »von der Offenbarung des geschichtsmächtigen Gottes herkommende theologische Deutung der Gegenwart«, die »auf die christliche Existenz des Einzelnen und der Gemeinde« zielt (46). Er meinte, Marxisten seien eine »Chance der Mission«, darum sollten Christen in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen. (Das war blauäugig, denn das wurde ihnen ja meist verwehrt!) Es sei falsch, sich dem »im sowjetischen Machtbereich vollziehenden ›deuterokonstantinische[n] Versuch einer Umgestaltung der Kirche‹ zu einer ideologisch und politisch loyalen Organisation zu fügen und so den Zeugendienst preiszugeben«. Dieser sei nötig (66). Damit sind die Voraussetzungen benannt, die zu den verschiedenen Artikeln führten, die Hamel – vor allem der EKU – vorlegte. Sie sind in den Anhängen II (263–322) und III (323–350) abgedruckt. Kritisiert wird »Hamels Unterschätzung des totalitären Charakters des SED-Staats und die sich daraus ergebende religiöse Verschleierung des Problems der praktischen Umsetzung der christlichen Gehorsamsexistenz im totalitären Staat«. Sie wird als »Verinnerlichung der Unterdrückung mit theologischen Mitteln« charakterisiert (74, Anm. 141). Doch wollte er nicht, dass sich die DDR-Kirchen dem SED-Staat unterordnen, sie sollten ihm frei entgegentreten (79). Nach dem Mauerbau 1961 verloren seine Formulierungen an Überzeugungskraft. Seine Dialektik von Dienst und Freiheit wurde nur abgeschwächt rezipiert.
U. Schröter vergleicht die Handreichungen zum Christsein in der DDR von EKU und VELKD (1959/60). Letztere geht von Luthers Zwei-Reiche-Lehre aus und betont, dass der Christ auf keine bestimmte Gesellschaftsordnung festgelegt ist und ihm »von der Bibel her keine Einzelanweisungen für sein Verhalten in der DDR gegeben werden« können, aber die Ausübung seines Berufslebens kann problematisch werden, und die christliche Erziehung wird nahezu unmöglich gemacht (92–96). Der EKU-Handreichung liegt »eine sehr dezidierte Theologie der Königsherrschaft Jesu und die erkannte Gefahr zugrunde, als Christen hinter dieser Botschaft im konkreten Alltag zurückzubleiben« (96–101). Die VELKD betonte das Leiden und Ausharren des Christen, die EKU-Handreichung entfaltete zu wenig das Nein zum Atheismus (103–105).
A. Noack beschreibt Hamels Mitarbeit in vielen Gremien. Er musste erfahren, dass Gemeindeglieder zwar den Kirchenleitungen Beifall spendeten, aber sich weithin anpassten. Die Bildung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR lehnte er ab, die Kirchen hätten sich dem Druck und den Drohungen der Regierung gebeugt (126).
M. Gockel beurteilt das Lutherjahr 1983 – meist mit Zitaten aus zweiter Hand. Das Lutherjahr in der DDR sei einzigartig gewesen, keine andere geschichtliche Person habe so viel Aufmerksamkeit erfahren wie Luther. Er übersieht dabei, dass dies seinen Grund in der Erwartung hatte, weltpolitisch und ökonomisch damit zu gewinnen. Die staatlichen Thesen wurden in der vom ZK der SED herausgegebenen Zeitschrift »Einheit« veröffentlicht, sind also durchaus als »von oben verordnete Leitsätze« anzusehen (gegen 146).
M. Hüttenhoff analysiert die staatsnahe Zwei-Reiche-Lehre in der DDR und ihre Kritiker sehr einseitig, haben doch die »staatsnahen Theologen« sich mindestens ebenso stark von Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Barmen und der »Lehre von der Königsherrschaft Christi« bestimmen lassen. (Ich verweise auf meinen Aufsatz »Politische Ethik zwischen Anpassung und Verweigerung« in: »Der Christ in der politischen Verantwortung heute«, hrsg. von A. Künneth, 1997, 67–118, besonders 71–88). Es stimmt, ihre »Zwei-Reiche-Lehre entwi-ckelte[n] sie ohne … Bezug auf die lutherische Tradition als aktualisierende Auslegung der Barmer Theologischen Erklärung«; ihre »Konstante […] ist das Interesse, das politische Handeln der Christen den Normen des ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ zu unterstellen« (171.186).
H. Theißen erläutert, wie theologische Ethik in der DDR gelehrt wurde, und geht dabei auf H.-G. Fritzsche und J. Wiebering ein. Beide wollten konkrete Wegweisung für das christliche Leben im Realsozialismus geben, was angesichts der Bücherzensur schwierig war. Fritzsches Darstellung ist schillernd und wollte sowohl der Kirche als auch dem Staat dienen, war er doch, wie Th. betont, Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit (wie die meisten »staatsnahen Theologen«).
W. Ratzmann legt eine Würdigung Gottfried Voigts als »Lutherischer Theologe aus Leidenschaft« vor und betont seinen eschatologischen Vorbehalt allem Weltlichen gegenüber.
A. Käfer sieht in »Umweltschutz als Opposition« ein Bindeglied zwischen Kirchen und Gruppen in der späten DDR und betont, dass in den Kirchen vermehrt dem christlichen Schöpfungsverständnis angesichts der Umweltkrise Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Gruppen fanden in den Kirchen Verständnis für ihr Anliegen.
M. Naumann widmet sich dem Thema »Die Menschenrechte als zentrales Thema Bischof Hans-Joachim Fränkels«. Waren die Menschenrechte bisher kein Thema der Theologie, änderte sich dies, als auch die DDR der UNO beitrat und die Helsinki-Akte unterzeichnete. Im Unterschied zu den »sozialistischen Grund- und Menschenrechten«, die zugleich Pflichten waren (Bildung und Arbeit), ging es Fränkel um die individuellen Menschenrechte, die vorgegeben seien, für die die Bibel Anhaltspunkte biete und die von der Rechtfertigungslehre Relevanz besäßen. Er betonte die Glaubens- und Gewissensfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern. Dafür forderte er ein Wächteramt, es sei mit öffentlicher Verantwortung gleichzusetzen (236.240).
Anhang I bringt eine Bibliographie von Hamel. Sie führt seine gedruckten und hektographierten Arbeiten auf. Anhang II und III wurden schon erwähnt.