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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

89–90

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Püttmann, Andreas

Titel/Untertitel:

Wie katholisch ist Deutschland …… und was hat es davon?

Verlag:

Paderborn: Bonifatius Verlag 2017. 240 S. Geb. EUR 16,90. ISBN 978-3-89710-712-0.

Rezensent:

Martin Bräuer

Der Politikwissenschaftler und Publizist Andreas Püttmann ist in der »Bonner Republik« groß geworden, und er ist ein Gewächs der rheinisch-katholisch geprägten CDU, wie in Teil I (13–129) deutlich wird, dem die biographische Prägung anzumerken ist. Das ist keine Schwäche des Textes, sondern eher eine Stärke. Abschiedserfahrungen und Fremdeln mit dem Wechsel in die eher protestantisch-preußisch geprägte Berliner Republik (vgl. dazu 19–23) sind ihm persönlich nicht fremd.
Seine Ausgangsfrage ist, wie katholisch denn Deutschland noch sei und was es von den Katholiken habe. P. ist der Meinung, der Katholizismus in Deutschland sei
»eine Bastion für den Schutz des menschlichen Lebens […] Er hat in den Legitimitätskrisen der demokratischen Staatsgewalt Bürgerloyalität bewiesen, auch wenn er politische Entscheidungen für ethisch falsch hielt, und hat den Rechtsgehorsam klar gegen Widerstandsrhetorik verteidigt […] Er hat die Chance der Wiedervereinigung klug und konsequent genutzt und gemessen an seinem gesellschaftlichen Gewicht in den neuen Bundesländern herausragend mitgestaltet […] Er dient als Kirche und in der Politik der sozialen Integration durch Impulse für Familiensinn, gesellschaftliche Solidarität und religiöse Toleranz. Er sorgt dafür, dass unserer säkularisierten Gesellschaft der ›transzendente Atem‹ nicht ausgeht …« (183 f.).
P. vertieft und aktualisiert in Teil II (130–189) diesen und weitere Befunde. Er gleitet nicht in katholischen Triumphalismus ab, sondern schätzt die »Ökumene der Frommen« (9) unter Protestanten und Katholiken in Deutschland, und seine Darstellung des Katholizismus in Deutschland ist frei von antiprotestantischen Klischees; so verschweigt er auch nicht, an welchen Stellen der Protes-tantismus in Deutschland besser dasteht als der Katholizismus. So schließt das Buch auch mit dem Abdruck einer Predigt P.s, die er am Reformationstag 2016 über die »Freiheit eines Christenmenschen« in der evangelischen Johanniskirche in Mönchengladbach hielt (228–238).
Besonderen Raum in Teil I nehmen das Pontifikat von Benedikt XVI. und seine Wirkungen in Deutschland ein, von der BILD-Be-geisterung des »Wir sind Papst« bis hin zu der harten Kritik, die dem Ratzinger-Papst gerade auch in seinem Heimatland entgegenschlug (41–107).
P. ringt in diesem Kapitel um Orientierung. Einerseits bleibt er seiner nach wie vor ausgeprägten Verehrung für und inhaltlichen Übereinstimmung mit dem Theologen auf dem Papstthron treu. Andererseits drückt er sein Befremden gegenüber jenen »Ratzingerianern« aus, deren behauptete Papsttreue sich inzwischen in eine Bergoglio-/Franziskus-kritische »Romtreue« gewandelt hat. Es ge­lingt ihm daher nicht mehr, sich lagerpolitisch klar zu verordnen.
Zwei Ereignisse sind es dabei besonders, die ihn definitiv aus dem Tritt lagerpolitischen Denkens herausbringen: Der »Glaubwürdigkeits-GAU« des Missbrauchsskandals 2010 (69–82) sowie die »Limburger Geisterfahrt« (83–91), bei der die Unterstützer des Limburger Bischofs Tebartz van Elst plötzlich jenen moralischen Relativismus praktizierten, gegen den sie zuvor mit Ratzinger zu Felde gezogen waren. Am Vorrang der Treue zur Wahrheit vor lagerpolitischen Interessen scheiden sich für P. die Geister, gerade auch was die publizistische Begleitung dieser Vorgänge betrifft.
Das Kapitel III ist überschrieben mit: »Kirche und Demokratie vor neuen Herausforderungen« (190–227). Die Botschaft lautet: Der Katholizismus ringt erneut um sein Verhältnis zur Demokratie. P.s Sorge ist, dass antidemokratische Entwicklungen im Katholizismus innerkatholisch übersehen oder verharmlost werden, zumal es auch den einen oder anderen Kleriker oder gar Bischof geben mag, der anfällig ist für die Schalmeien-Töne der Autoritären auf der nationalen und internationalen Bühne. Das Schifflein Petri droht jedenfalls »nach rechts zu kentern« (s. o.). Also lehnt sich P. auf die andere Seite. Er nennt die Dinge und auch die Personen beim Namen, die sich als Katholiken und im Namen des Katholizismus dem autoritären Denken zugewandt haben. Er zeigt die »katholischen« Argumentationshilfen für völkisches Denken und gruppenbezogene Ressentiments auf und zitiert katholische Autorinnen und Autoren, die zu einer neuen Allianz der Rechten beitragen.
P. unterscheidet mit der angloamerikanischen Politikwissenschaft zwischen politics (Prozess), policy (Inhalt) und polity (Form). »Teilweise für Christen verlockende Policy-Angebote, etwa zum Leitbild der traditionellen Familie oder zum Schutz des vorgeburtlichen Lebens« (211) werden von der Rechten benutzt, um die Akzeptanz der polity, der Entscheidungsverfahren in der rechtsstaatlichen Demokratie, zu unterlaufen. Das Prinzip lautet: Wenn der Output von Rechtsstaat und Demokratie nicht stimmt, dann darf man neue Wege beschreiten, um zum richtigen Output zu gelangen. Das ist die klassische Situation der »Versuchung« – Thema für eine politische Unterscheidung der Geister.
Interessant ist übrigens in diesem Zusammenhang P.s Wahrnehmung, dass der Zuspruch zur AfD unter kirchenfernen Katholiken größer ist als unter kirchennahen und dass gänzlich Kirchenfremde sich verbünden mit einer lautstarken Minderheit von »besonders katholisch« sich »Dünkenden« (210). Hier kommt eine brisante Mischung zusammen: Die Verachtung des normalkatholischen Gemeindelebens in oberkatholischen reaktionären Milieus trifft sich mit kirchenfernen Katholiken, für die sich »das katholische Ordnungs- und Autoritätsdenken religiös sinnentleert als kognitive Struktur für Homogenitätsvorstellungen der politischen Rechten […] eignet.« (210)
P. ist ein erhellendes Sachbuch gelungen, kurzweilig zu lesen und ausgewogen in der Kritik an der Geschichte der katholischen Kirche.