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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

85–87

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Jünger, David

Titel/Untertitel:

Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (2. Aufl.). 440 S. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 24. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-37052-0.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Bisherige Untersuchungen über die Emigrationspläne deutscher Juden in der Zeit des Dritten Reiches wurden unter der Alternative »Gehen oder Bleiben« mit der Frage verknüpft, warum die Mehrheit der deutschen Juden die drohende Gefahr nicht früher erkannt und sich nicht rechtzeitig zur Emigration entschlossen habe. David Jünger kommt in seiner Untersuchung durch umfassende Auswertung zeitgenössischer Quellen – Tagebücher, Memoiren und Zeitschriften – zu dem Ergebnis, dass die Alternative »Gehen oder Bleiben« falsch gestellt ist. Wenn man die Emigrationspläne deutscher Ju­den gründlich analysiere, komme man zu dem Ergebnis, dass es sich um eine komplizierte Geschichte des »Bleibens, Ausharrens und Abwartens, bisweilen sogar eine Geschichte der Rückkehr« handelt. Sie könne nur unter Berücksichtigung der individuellen Entscheidungen beurteilt werden.
Zu Beginn des Dritten Reichs waren die deutschen Juden in eine Vielzahl miteinander zerstrittener Richtungen und Gruppen ge­teilt. J. spricht deshalb von »Judenheiten«. Auch als angesichts der sie alle bedrohenden NS-Rassenpolitik im Herbst 1933 die »Reichsvertretung der deutschen Juden« unter dem Präsidium von Leo Baeck einen Schirm über die Mehrheit der liberalen Juden und die Minderheit der Zionisten spannte, blieben viele Gruppen wie der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten abseits. J. trägt der Vielfalt des jüdischen Lebens Rechnung, indem er neben den liberalen Juden des Centralvereins und den Zionisten der Zionistischen Vereinigung auch das religiöse Judentum der Orthodoxie und die verschiedenen Gruppen des nationalen Judentums, auch die eine Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus suchenden revisionistischen Zionisten gesondert untersucht.
J. zieht nur Quellen der Jahre 1933 bis 1938 heran. Die Zeit der Vernichtung des Judentums 1939 bis 1945 ist ausgeblendet, als hätte es sie nicht gegeben. Dadurch ergibt sich ein ungewohnter Perspektivenwechsel. Heute wird die Geschichte der deutschen Juden von 1933 bis zum Novemberpogrom von 1938 von ihrem Ende her begriffen, als Vorgeschichte einer gradlinigen, mit innerer Logik zur Vernichtung des Judentums führenden Geschichte. J. versteht diese Zeit nicht als Vorgeschichte des Holocaust, sondern als eine noch offene Zeit, in der zeitgenössische individuelle und kollektive jüdische Wahrnehmungen in ihrer Besonderheit ernst genommen werden müssten. Daraus ergeben sich viele Gegensätze zur gegenwärtigen Forschung, die von J. mit vielleicht etwas zu starkem Selbstbewusstsein herausgestellt werden.
Aus heutiger Sicht war das Jahr 1933 ein Unheilsjahr für die Ju­den. Das gilt nicht für die Zionisten, für die der Sieg des Nationalsozialismus die Richtigkeit der zionistischen Ideen Theodor Herzls bestätigte. Das Jahr 1933 brachte ihnen geradezu ein »Erweckungserlebnis«. Die Mehrheit der liberalen Juden empfand 1933 nicht als epochale Zäsur. Das immer wieder angeführte, geradezu kanonische Wort Leo Baecks, das er kurz nach der Machtergreifung oder nach dem antijüdischen Boykott vom 1. April 1933 gesprochen haben soll, »Die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist nun zu Ende«, ist, wie J. zeigt, für das Jahr 1933 nirgendwo bezeugt. Es wurde erst 1945 gesprochen. Durchweg sahen die Juden in der Machtergreifung Hitlers ein vorübergehendes, vermutlich bald scheiterndes Phänomen, und vertrauten auf den Reichspräsidenten. So spielte 1933 auch für die Emigrationspläne deutscher Juden keine Rolle. Schon in der Spätphase der Weimarer Republik hatte der ansteigende Antisemitismus bei manchen solche Pläne geweckt. Die große Fluchtwelle, die nach dem 30. Januar 1933 einsetzte, war die Flucht politisch Verfolgter wie Kommunisten und Sozialdemokraten, unter denen sich zahlreiche Juden befanden, keine jüdische Fluchtwelle. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums betraf nur eine kleinere Zahl von Juden, beunruhigte nicht das Judentum. Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 erschien Robert Weltschs berühmter Aufruf »Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!«. Anfang 1934 sah Weltsch die revolutionäre Phase des Umschwungs als beendet an und sprach die Hoffnung aus, jetzt könne es zum Ausgleich zwischen Deutschen und Juden und damit zu einem friedlichen Mit- oder zumindest Nebeneinander kommen. Allgemein wurde zur Kenntnis genommen, dass aus den »deutschen Juden« jetzt »Juden in Deutschland« geworden waren und dass dies das Ende der Emanzipation bedeutete. Aber das tägliche Leben der meisten Juden war von den antisemitischen Maßnahmen der neuen Regierung nicht betroffen. Die orthodoxen Juden traf am stärksten das Schächtverbot, das aber niemanden an Emigration denken ließ. Wenn gleichwohl 1933 6800 deutsche Juden und 1934 sogar 8500 nach Palästina auswanderten, entsprang die Entscheidung nach J. verschiedenen Erwägungen, die nicht monokausal erklärt werden können. Nach der Emigra-tionswelle von 1933 setzte 1934 eine Rückwanderung von mehr als zweitausend Juden ein. Sie betrug 1934 in der ersten Jahreshälfte 754, in der zweiten Jahreshälfte 1872 Juden, die Zahl wurde erst 1935 rückläufig. Nach dem Röhm-Putsch glaubte zwar niemand mehr, dass es sich bei dem Nationalsozialismus um ein kurzzeitiges Intermezzo handele. Doch man beruhigte sich, als »Juden in Deutschland« dort weiterhin leben zu können. Ab 1935 setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, man müsse wohl Deutschland doch verlassen. Doch die vielen Reisen deutscher Juden zu Besuchen in Palästina und Amerika in den Jahren 1936 bis 1938 beweisen, dass Emigration nicht dringlich schien.
Wie sehr die Retrospektive durch die von Auschwitz bestimmte Brille über die Wirklichkeit hinwegtäuscht, zeigt J. besonders eindrücklich bei der jüdischen Reaktion auf die Nürnberger Gesetze von 1935. Nachdem sie sich damit abgefunden hatten, als Minderheit in Deutschland leben zu müssen, empfanden viele Juden die mit den Nürnberger Gesetzen gegebene rechtliche Ordnung des Zusammenlebens zwischen Deutschen und Juden als einen Frieden, mit dem die Phase willkürlicher Maßnahmen beendet werde. Die Zionisten begrüßten die Nürnberger Gesetze. Die Zionistische Konferenz in Luzern proklamierte, damit sei nun die unbedingte Notwendigkeit »der Volkwerdung der Juden« gegeben. Die Nürnberger Gesetze waren kein Grund für die Emigration. Juden, die nach 1935 auswanderten, entschlossen sich dazu nicht wegen, sondern trotz der Nürnberger Gesetze.
Ausführlich befasst sich J. mit dem von den Zionisten betriebenen Haavara-Abkommen von 1933, das bis zum Krieg 60.000 deutschen Juden die Ausreise nach Palästina ermöglichte. Es diente nicht der Rettung deutscher Juden vor dem Nationalsozialismus, sondern führte Versuche der Weimarer Zeit fort, durch ein Transferabkommen der israelischen Wirtschaft zu helfen. Die Zionisten in Palästina suchten die Zuwanderung osteuropäischer Juden. Die deutschen Juden sollten in Deutschland bleiben. Auch Max Warburg, der ein ähnliches Abkommen für die westlichen Länder erstrebte, sprach sich bei allem Einsatz für die Emigrationswilligen bis 1938 für ein Bleiben der Juden in Deutschland aus. Für Viktor Klemperer, einen dezidierten Antizionisten, war die Emigration nie ein Thema. Wegen seiner geplanten Alijah fuhr Willy Cohn, ein überzeugter Zionist, 1938 nach Palästina, kehrte aber wegen seiner Frau zurück. Das Leben in NS-Deutschland erschien ihr erträglicher als das Leben in Israel. J.s Darstellung, dessen ungewohnte historische Perspektive vieles neu sehen lässt, sollte auch von Kirchenhistorikern, die sich mit jener Zeit befassen, zur Kenntnis genommen werden.