Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

83–85

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm, u. Hans Günter Hockerts [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Distanz und Nähe zugleich? Die christlichen Kirchen im »Dritten Reich«.

Verlag:

München: NS-Dokumentationszentrum München 2017. 260 S. m. 1 Abb. = Schriftenreihe des NS-Dokumentationszentrums München. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-946041-17-7.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Wer das aufwändig gestaltete, zweifellos verdienstvolle NS-Dokumentationszentrum in München besucht, wundert sich, dass die christlichen Kirchen, denen im »Dritten Reich« die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung angehörte, dort kaum vorkommen. So sucht man Hinweise auf die kirchliche Zugehörigkeit und Bindung von Tätern meist vergeblich. Dasselbe gilt etwa für den evangelischen Hintergrund des Hitler-Attentäters im Münchner Bürgerbräukeller, Georg Elser, obgleich dieser Hintergrund u. a. in den Verhörprotokollen eine Rolle spielte. Um die Lücke zu schlie ßen, hat der Gründungsdirektor des Dokumentationszentrums (bis April 2018), der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger, eine weitere Vertiefung der Thematik durch zwei »Fachveranstaltungen« (7) initiiert, deren Vorträge der vorliegende Band dokumentiert.
Nun wird die Thematik Nationalsozialismus und Kirchen be­reits seit Jahrzehnten äußerst gründlich und differenziert er­forscht; die Fülle an einschlägigen Publikationen ist kaum mehr überschaubar. Wirklich neue Erkenntnisse durch zwei kurze Ta­gungen waren daher kaum zu erwarten. Katholizismus und Pro-testantismus werden in dem Band streng paritätisch behandelt. Auffallend ist, dass zwar auf die Expertise von Mitgliedern der katholischen Kommission für Zeitgeschichte zurückgegriffen wurde, dass aber die entsprechende Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, abgesehen von zwei ehemaligen Mitgliedern, unberücksichtigt blieb, obwohl de­ren Forschungsstelle an der Münchner Universität angesiedelt ist. Weitere Inkongruenzen zeigt die Gliederung des Buches.
Den theologischen Fakultäten wird mit drei Beiträgen viel Platz eingeräumt, andere bedeutsame Bereiche, wie etwa Gottesdienst, Religionsunterricht, Diakonie und Caritas, fehlen. Exemplarisch wird eine evangelisch-theologische Fakultät, Erlangen, aber keine katholisch-theologische untersucht. Umgekehrt ist es beim biographischen Zugang: Exemplarisch wird der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber, aber kein evangelischer Kirchenführer behandelt. Im Übrigen enthält der Band neben einer gemeinsamen Einführung der beiden Herausgeber, des evangelischen Systematischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf und des katholischen Historikers Hans Günter Hockerts, beide München, jeweils einen Überblicksbeitrag zum Katholizismus und Protestantismus in der Zeit des »Dritten Reiches« und jeweils einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte nach 1945. In der Einführung finden sich neben allgemeinen Anmerkungen zur Methodik wissenschaftlicher Historiographie Hinweise auf frühere Forschungskontroversen, etwa im Hinblick auf eine Gesamtbewertung der Rolle der Kirchen – als eher resistente oder angepasste Organisationen – oder konkret im Hinblick auf die Bewertung des Reichskonkordats. Einem breiten Konsens in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung entsprechend plädieren die Herausgeber für eine differenzierte, ambivalente Sicht, wie sie etwa in »paradoxe[n] Begriffsbildungen wie ›loyale Widerwilligkeit‹« (15) zum Ausdruck komme. Die vielzitierte Äußerung des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser gegenüber Hitler, man verstehe sich als »des Führers allergetreueste Opposition«, zeigt, dass schon zeitgenössischen Akteuren diese Ambivalenz bewusst war.
Der Historiker Thomas Großbölting, Münster, weist u. a. auf »die große Schnittmenge von [katholischen] Kirchenangehörigen und NSDAP-Mitgliedern« (44) und von deren jeweiligen Vorstellungen und Befindlichkeiten hin und knüpft hierbei an die Forschungsdebatte um die »Volksgemeinschaft« an. Die Erfurter Historikerin Christiane Kuller zeichnet unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Bayern in umsichtiger Weise den Forschungsstand zur Geschichte des Protestantismus im »Dritten Reich« nach. Ob freilich Manfred Gailus Recht hatte, wenn er die deutsch-christliche Bewegung eher als maskulin und die Bekennende Kirche eher als feminin charakterisierte, ist fraglich. Auch dem sich immer mehr radikalisierenden DC-Reichsbischof Ludwig Müller hörten jedenfalls nach zeitgenössischen Berichten überwiegend Frauen zu. Der Würzburger Kirchenhistoriker Dominik Burkard präsentiert den Rechenschaftsbericht eines Dompropstes von 1946 zur Situation der katholischen Universitätstheologie 1933–1945 und analysiert und interpretiert diese Quelle lehrbuchmäßig. Auch er kommt zu einem differenzierten, ambivalenten Ergebnis und stellt fest: »Wir müssen uns dem mühseligen Geschäft stellen, den einzelnen Theologen und seine Theologie so exakt als möglich zu analysieren.« (103) Der evangelischen Universitätstheologie ist ein längerer Beitrag des Herausgebers Friedrich Wilhelm Graf gewidmet. Ganz ähnlich wie Burkard postuliert er: »Man muss […] zunächst jeden einzelnen Akteur für sich oder zumindest möglichst viele Akteure je eigens in den Blick nehmen, um die überkommenen Pauschalurteile und Generalisierungen hinter sich zu lassen.« (130) Fraglich ist, ob Grafs eigenes Verdikt der »Lutherrenaissance« (125) nicht doch etwas zu pauschal ist. In kritischer Abgrenzung zu seinem Lehrer Trutz Rendtorff, dem zufolge »›das Fach‹ von der nationalsozialistischen Ideologie nur am Rande affiziert worden sei« (119), erkennt Graf »eine Mentalität«, die zwischen »partieller Resistenz oder Nonkonformität und punktueller Anpassungs- und Kooperationsbereitschaft changierte« (155). Der Erlanger Kirchenhistoriker Hanns Christof Brennecke entmythologisiert die verbreitete Meinung, das konservativ-konfessionelle – insbesondere auch Erlanger – Luthertum sei besonders anfällig für den Nationalsozialismus gewesen. Zum einen zeigt er, dass die Erlanger Fakultät keineswegs homogen war, zum anderen, dass die mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Theologen Werner Elert und Paul Althaus gerade modern sein wollten. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Mitherausgeber der Edition der Faulhaber-Tagebücher, charakterisiert den Münchner Erzbischof als einen mutigen Verteidiger der Kultfreiheit, der zugleich »immer wieder in eine weltanschauliche Affinität zum Nationalsozialismus« geriet (216). Der Historiker Mark Edward Ruff, St. Louis/USA, geht der Frage nach, warum die katholische Kirche in der Nachkriegszeit wegen ihrer Rolle im Nationalsozialismus viel stärkerer Kritik als die evangelische ausgesetzt gewesen sei. Seine These ist, dass dies »ein unmittelbares Produkt der weltanschaulichen und politischen Kämpfe der Adenauer-Ära« gewesen sei (227). Der Hamburger Historiker Axel Schildt erläutert, dass im Protestantismus der Nachkriegszeit der Nationalsozialismus zunächst weithin »als Kulminationspunkt jahrhundertelanger Säkularisierung« gedeutet worden sei (245). Erst allmählich habe man sich in der evangelischen Kirche selbstkritisch der eigenen politischen Verantwortung gestellt. Der Band vermag es, eine mit der Materie wenig vertraute Leserschaft für die Komplexität der Thematik zu sensibilisieren.
Auftraggeber und Layout hätten allerdings die Dokumentation von Bild- und Textquellen erwarten lassen (vgl. die Onlineausstellung: »Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus«).