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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

81–83

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Brink, Gijsbert van den, and Gerard den Hertog [Eds.]

Titel/Untertitel:

Protestant Traditions and the Soul of Europe.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 296 S. = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 110. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04854-0.

Rezensent:

Christina Aus der Au

Tagungsbände werden vor allem von denjenigen gelesen, die an der Tagung dabei waren – oder von Doktorierenden, die dort entsprechende Thesen prägnant zusammengefasst zu finden hoffen. Wenn dann die Tagung auch noch ein paar Jahre her ist, ist meist die nächste Tagung interessanter als das Buch zur letzten. Nicht so bei diesem Band. Die Leitfragen der Comenius-Konferenz 2014 in Amsterdam sind heute aktueller denn je – jedenfalls, wenn man sie nicht nur historisch, sondern auch politisch liest: Was hat der Protestantismus zu einer gemeinsamen europäischen Mentalität und Identität beigetragen? 19, meist kurze, in der großen Mehrheit nied erländische und durchwegs reformierte Beiträge aus den verschiedenen Disziplinen der Theologie, der Philosophie und der Geschichte graben noch tiefer: Kann man überhaupt von einer gemeinsamen europäischen Identität sprechen? Hat nicht Jacques Delors 1992 vor der Konferenz der Europäischen Kirchen dringend dazu aufgerufen, Europa eine Seele zu geben?
Im ersten historischen Teil sind es Schlaglichter auf geschichtliche und regionale Entwicklungen wie Ibolya Ballas Ausführungen zu Péter Méliusz, der mit seiner ungarischen Bibelübersetzung aus dem 16. Jh. wesentlich dazu beigetragen hat, dass nicht nur die reformierte Kirche, sondern auch Ungarn als Nation eine Identität erhielt. Oder Herman Speelman, der ausleuchtet, wie die franzö-sischen Hugenotten mit ihrem Kampf um Religionsfreiheit die Trennung von Kirche und Staat angedacht haben, während Henk van den Belt dagegen argumentiert, dass erst Descartes’ und der von der Aufklärung beeinflusste »neue Protestantismus« die Bindung an eine allgemeinverbindliche externe Offenbarungsautorität zerbrochen hat. Einen solchen frühen neuen Protestanten stellt Hans-Martin Kirn mit Balthasar Bekker vor, der lange vor Max Weber die Welt im Lichte eines vernünftigen Bibelglaubens von Geistern und Dämonen entzaubern wollte. Die tschechische Philosophin Olga Navrátilová sieht trotz Hegel die Zukunft einer de-mokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht zwingend in einem vernünftigen Protestantismus begründet, sondern in einer gemeinsamen Rationalität, die einen respektvollen Diskurs auch ohne religiös begründete Werte fundieren kann. Diesen Gedanken führt Henri A. Krop von Hegel über Harnack und Troeltsch zu Tillich wieder zum Protestantismus zurück, wenn er mit Letzterem das Protestantische Prinzip letztlich versteht als Autonomie, die weiß, dass sie nicht absolut ist. Ad de Bruijne zeichnet die Entwicklung des Calvinismus nach, der sich von einer ur­sprünglich europäischen Bewegung zu einer nationalistischen Theologie entwi-ckelte, die den alttestamentlichen Bund zwischen Gott und seinem Volk nationalstaatlich interpretierte. Ein vereinigtes Europa er­scheint hier als Hybris von Babel, die aus eigenen Kräften den Weltfrieden herstellen will. De Bruijne selber lässt offen, ob Europa in einer Welt von Großstaaten nicht auch als Nationalstaat gesehen werden könnte. Schließlich bietet Heleen Zorgdrager einen Einblick in die Entwicklungen in der Ukraine, wo die jüngere Generation die Angst vor einem säkularen und dekadenten Europa überwunden hat und selbstbewusst darauf verweist, dass von hier aus der »Zauber des Säkularismus« gebrochen werden könnte.
Im systematischen Teil loten die Autorinnen und Autoren die Frage nach Europas Seele explizit aus. Gerard den Hertog diskutiert, ob der Beitrag des Protestantismus in den Menschenrechten (Wolterstorff) bestehe oder in der – analog zu Gottes Richten – Unterscheidung zwischen Gut und Böse, welche neue Handlungsräume eröffne (O’Donovan). Auch wenn die beiden Positionen nicht leicht vereinbar sind, sind sie sich doch einig, dass Christen poli-tische Verantwortung zu übernehmen haben, weil Gott auch in Europa präsent ist, unabhängig von einer mythischen europäischen Seele.
Jenö Kiss bezieht sich explizit auf Delors’ »Europa eine Seele geben« und sieht den Ansatzpunkt in der Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte Europas. Martin Bubers alttestamentliches Konzept der Seinsordnung dient ihm als Deutungsrahmen für den Umgang mit Schuld und Versöhnung, die nicht einfach Altes wiederherstellt, sondern eine »neue Zuverlässigkeit« (171) für die Zukunft ermöglicht.
Theo L. Hettema provoziert mit der These, dass die Seele Europas nicht um ihrer selbst willen gesucht werden soll, sondern in der reformatorischen Tradition um des Reiches Gottes willen. Mehr strukturell orientiert sieht Leo Koffeman den Beitrag des Protestantismus im Vorbild der GEKE, der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Das Konzept der Einheit in versöhnter Verschiedenheit lässt Raum für kontextuelle Vielfalt und anerkennt, dass Europa ein durch und durch »weltlich Ding« ist. Dies bewahrt vor jeder ideologischen Überhöhung Europas, und Koffeman schließt mit einem Zitat aus der Charta Oecumenica: »and in all things compassion« (200).
Der letzte Teil wirft einen Blick auf einige offensichtlich protes-tantisch beeinflusste Aspekte der europäischen Kultur: den Kapitalismus, die Kunst, den typisch europäischen Säkularismus und die föderalistische Struktur der calvinistischen Kirchen.
So argumentiert Willem van Vlastuin, dass Max Weber in sei-ner berühmten These Calvins Schöpfungstheologie vernachlässigt habe. Er verweist darauf, dass Calvin in der heutigen Zeit auch für eine Ethik der Bescheidenheit und der Sorgsamkeit (ethics of care) fruchtbar gemacht werden könne. Yelena Mazour-Matusevich zeigt, wie Calvin in der Kunst gegen das verspielte, sinnliche Chaotische kämpfte. Kunst hatte ordentlich zu sein und didaktischen oder rein dekorativen Zwecken zu dienen. So wurde Europa geprägt vom Streben nach Klarheit, Ordnung und Harmonie. Jasper Bosman hingegen zeigt, dass Calvin die Kunst sehr wohl schätzte, nur nicht im liturgischen Zusammenhang. So säkularisierte sich die Kunst – Bosman beobachtet heute aber eine neue Offenheit auch in reformierten Gottesdiensten für die visuellen Künste als Tor zur Transzendenz.
Pieter Vos liest die Geschichte von Isaaks Opferung in Gen 22 vor der Frage des Eutyphron-Dilemmas. Er sieht bei Calvin keinen Konflikt zwischen Gottes Gebot und dem Guten, wohingegen Kierkegaard die Spannung bis zum Zerreißen herausarbeitet. Gegen die säkulare Kritik an der Überordnung Gottes über die Moral kritisiert Kierkegaard damit seinerseits die Verabsolutierung der Ethik, was nach Vos mindestens ebenso viel Raum eröffnet für Freiheit wie die säkulare Option. Zsolt Görözdi schließlich führt wesentliche demokratische, partizipative und subsidiäre Werte in der mitteleuropäischen Politik auf das reformierte Kirchenverständnis zurück.
Abschließend lotet Henk de Roest am Beispiel die Zukunft der protestantischen Theologie aus. Wenn diese ihre christliche Tradition reflektiert, klärt, vermittelt und in einem internationalen Horizont neu sehen lernt, dann wird sie eine befreiende Relevanz im gesellschaftlichen Zusammenleben haben können.
Und was trägt dies nun zur europäischen Seele bei? Theo Hettema weist darauf hin, dass Delors nicht die Seele Europas (»soul of Europe«) gesucht habe, sondern eine Seele für Europa (»soul for Europe«) (175). Dies sei keine statische Entität, sondern eine fortwährende Aufgabe. Er plädiert mit Ricœur und Parfit für eine dialektische Identität sowohl des Protestantismus als auch Europas, die sich selber nicht so wichtig nimmt, sondern danach fragt, wie sie zu einer lebenswerten Zukunft beitragen kann. Dass der Protes-tantismus dafür seine eigenen Wurzeln reflektieren und weiterdenken muss – aber auch kann –, wird bei dieser Lektüre auf vielfältige Weise anschaulich gemacht.