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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

77–78

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Osiander, Andreas

Titel/Untertitel:

Ob es wahr und glaublich sei …Eine Widerlegung der judenfeindlichen Ritualmordbeschuldigung. Hrsg. v. M. Morgenstern u. A. Noblesse-Rocher.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 125 S. = Studien zu Kirche und Israel. Kleine Reihe, 2. Kart. EUR 18,00. ISBN 978-3-374-05661-3.

Rezensent:

Gerhard Müller

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Osiander, Andreas: Est-il vrai et crédible que les juifs tuent en secret les enfants chrétiens et utilisent leur sang? Une réfutation des accusations de crime rituel. Introduction, traduction et notes par A. Noblesse-Rocher et M. Morgenstern. Genève: Labor et Fides 2017. 112 S. Kart. EUR 20,90. ISBN 978-2-8309-1635-5.


In der Reformationszeit gab es nur einen Text Osianders, der in französischer Übersetzung erschienen ist: das Reformationsmandat Herzog Ottheinrichs von Pfalz-Neuburg, das der Nürnberger für den Fürsten verfasst hatte. Sonst beschränkte sich das Interesse in Paris und Genf auf O.s »Evangelienharmonie«. Auf den ersten Blick hin wirkt es überraschend, dass ein Text O.s, der wohl 1540 gedruckt wurde, jetzt kurz hintereinander in heutigem Französisch und Deutsch erscheint. Auf den zweiten Blick hin aber ist diese Entscheidung umso einleuchtender. Denn sowohl im französischen wie im deutschen Sprachbereich gibt es heute einen antirationalistischen Antisemitismus. Dagegen waren aber O.s Worte schon vor knapp 500 Jahren gerichtet.
Wegen eines Mordes an Juden, denen der Tod eines christlichen Jungen zur Last gelegt wurde, hat der Nürnberger Prediger 1529 auf Bitten eines Unbekannten hin ein Gutachten über die Frage geschrieben, ob solche Ritualmorde denkbar seien. Viele Menschen meinten damals, das könne man Juden durchaus zutrauen. Sie erfanden einen besonders abstrusen Grund (neben anderen), dass nämlich jüdische Männer an Blutfluss litten, dem durch das Blut von Christen Abhilfe verschafft werden würde. O. tat nichts anderes, als dass er zur Vernunft rief. Er nannte Gründe, die solche Morde als ausgeschlossen beweisen. Wegen der Anwendung von Folter werden »Geständnisse« abgelegt. Danach werden ganze Familien einschließlich der Kinder getötet. Es werden Justizmorde vollzogen, weil man vielleicht sogar Schuldner der Getöteten ist. Diese klare Sprache hat den Prediger wohl veranlasst zu bitten, seine Stellungnahme nicht zu veröffentlichen. Der Bittsteller ist wohl unter Juristen zu suchen. Seine Identifizierung war bisher nicht möglich.
Martin Luther hatte 1523 den Vorwurf jüdischer Ritualmorde mit den Worten abgelehnt, dies sei alles »Narrenwerk«, es handle sich um »Lügengeschichten«. Die Vorsicht O.s sechs Jahre später ist dennoch verständlich, weil die Konsequenzen für die christlichen Mörder sehr deutlich geworden waren. Das Gutachten blieb zu­nächst unbekannt. Erst 1540 dürfte es gedruckt worden sein. Es endet mit den Worten: »geben zu N.«. Hiermit dürfte »Nürnberg« gemeint sein. Der Autor wird nicht genannt. Auch Jahres- und an­dere Ortsangaben fehlen. Jedenfalls wurde der Druck 1540 von Juden wegen eines neuen Vorwurfs eines Ritualmordes vorgelegt. »Entdeckt« wurde der Verfasser von Johann Eck. Er benannte O. als Autor und »widerlegte« ihn. Diese 1541 gedruckte Schrift ist bisher nicht kritisch ediert worden und verdiente größere Beachtung in der Forschung.
Das kurze Gutachten ist wohl nur in einer kleinen Auflage erschienen und nicht nachgedruckt worden. Widersprach es zu sehr dem Empfinden des »gemeinen Mannes«? Die Herausgeber des von ihnen übersetzten Textes denken mit Recht ganz anders über es. Die französische Übersetzung sei »à destination d’un large public« geschaffen worden. In der deutschen Fassung wird von einem »wichtigen Text« gesprochen. Das ist er auch. Denn mit Vernunft hat auch heute der Antisemitismus nichts zu tun. Das aufzuzeigen kann nur hilfreich sein, damit möglichst viele Menschen zur Sachlichkeit zurückkehren. Die Texte sind sehr sorgfältig übersetzt. Nicht die Einleitungen sind den Bearbeitern das Wichtigste, sondern die genaue Erfassung des von O. Gemeinten. Anmerkun gen werden bei ihrer Übersetzung zu Hilfe genommen, um schwierige Stellen zu erläutern. Beide Fassungen sind sehr ähnlich, aber nicht identisch. So hat die französischsprachige Ausgabe eine Bibliographie der Quellen und der Sekundärliteratur, während im Deutschen O.s Gutachten durch Zwischenüberschriften gegliedert ist. Durch die Stellung der Namen der beiden Herausgeber auf den Titelblättern wird deutlich, wem der Hauptanteil an der Arbeit zukommt. Beide haben sehr gut zusammengearbeitet, wie die Überschneidungen bei den Einleitungen und den Anmerkungen zeigen. Beim Geburtsjahr O.s sind sie sich allerdings nicht einig. So wird formuliert, der Nürnberger Theologe sei »1496 ou 1498« geboren worden. Im deutschen Buch wird gesagt, sein Geburtsjahr sei »1496/1497« gewesen. In einer Analyse in ZBKG 2015 wurde nachgewiesen, dass der in Gunzenhausen Geborene 1496 zur Welt kam. O. war also ein Jahr älter als Philipp Melanchthon.
Besonders hervorzuheben ist, dass die judaistischen Kenntnisse O.s in beiden Publikationen gut herauskommen. Wir wussten, dass er hierfür wie auch für die jüdische Kabbala großes Interesse besaß. Von den Autoren wird auf Zitate aus der Mischna, aus dem Jerusalemer und dem Babylonischen Talmud sowie auf mittelalterliche jüdische Quellen verwiesen. Unter den führenden deutschen Re­formatoren war O., der zeitweise als Hebräischlehrer gearbeitet hat und der das Aramäische mit Hilfe eines Juden erlernte, der bestgebildete Judaist. Das wird aus beiden Publikationen erkennbar.
In beiden Schriften gibt es auch einen Abschnitt über Luthers Stellung zum behaupteten Ritualmord. Der Wittenberger hat seltsamerweise 20 Jahre nach dessen Bestreitung in »Von den Jüden und ihren Lügen« 1543 diese Feststellung nicht wiederholt. Vielmehr hat er gemeint, den Juden sei alles zuzutrauen. Sie behaupteten zwar, sie begingen keine Ritualmorde. Luther erklärt, dies könne wahr sein oder auch nicht. An ihrem Willen, Böses heimlich oder öffentlich zu tun, fehle es ihnen jedoch nicht. Deswegen müssten die Christen vorsichtig sein. Obwohl sich die Situation zwischen 1523 und 1543 in dieser Frage nicht grundsätzlich verändert hatte, weicht der alt gewordene Reformator von seiner klaren Linie von 1523 leider ab. O. war hier anders eingestellt und hat eine antikabbalistische Schrift Luthers aus dem Jahr 1543 einem Juden gegenüber kritisiert. Zum christlich-jüdischen Gespräch kann O.s Freisprechung der Juden von Ritualmorden hilfreich sein.