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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

72–74

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dohna, Lothar Graf zu, u. Richard Wetzel

Titel/Untertitel:

Staupitz, theologischer Lehrer Luthers. Neue Quellen – bleibende Erkenntnisse.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XII, 392 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 105. Lw. EUR 104,00. ISBN 978-3-16-156125-2.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die Herausgabe der Werke des sächsischen Adligen Johann von Staupitz scheint unter keinem guten Stern zu stehen. Seit der Mitte des 19. Jh.s hat es immer wieder Versuche gegeben, das gleichermaßen von römisch-katholischer Seite wie auch aus orthodox-reformatorischer Sicht als heterodox eingeschätzte Textkorpus zu erschließen. Bereits 1555 auf den Index librorum prohibitorum geraten, wurde es auch auf protestantischer Seite eher von marginalen und nonkonformen Kreisen bewahrt. Seit Mitte der 1970er Jahre haben sich erneut Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel der aufwändigen kritischen Edition der Werke des vormaligen Augus-tineremiten und späteren Benediktiners Johann von Staupitz ge­widmet. Drei Bände liegen inzwischen vor. Trotz mannigfaltiger Ankündigung und einer insgesamt weitgehend abgeschlossenen Textarbeit ist auf zwei weitere Bände (Salzburger Predigten, Briefe und Gutachten) noch zu warten. Umso verdienstvoller ist es, dass sich die beiden wohl besten Kenner der Schriften des sächsischen Gelehrten mit einer Zwischenbilanz zu Wort melden.
Freilich ist der Band weit mehr als das: Auf knapp 100 Seiten sind Dokumente eines Häresie-Verfahrens gegen den sich später unverhohlen reformatorisch äußernden Stephan Agricola dokumentiert und in der gewohnten, differenzierten Weise ediert. Sie werfen ein Licht auf die bislang in der Forschung nur stiefmütterlich behandelte Spätzeit von Staupitz. Ihre Beschreibung und Interpretation ist mehr von Mythen und Legenden als von wissenschaftlichen Untersuchungen geprägt. Dabei manifestiert sich eine in der heutigen Wissenschaft erstaunliche konfessionelle Enge. Die wiederaufgefundenen Akten lassen das Bild von Staupitz als eines vorsichtig abwägenden Mannes entstehen, der in den Prozess zur Abhaltung einer Disputation hineingezogen wird. Dabei geht es um den Umgang mit »lutherischen« Lehren nach dem Edikt von Worms und der Verurteilung des Wittenberger Reformators. Mit ihm verband Staupitz eine andauernde, sich freilich im Laufe der Zeit abkühlende und ein stückweit auch entfremdende Beziehung. Staupitz wird profiliert sichtbar als Bewahrer seiner hergebrachten Ansichten, nicht als Parteigänger der Reformation.
Dass er darin doch Luther entscheidend auf den Weg brachte und insofern zu den Schlüsselgestalten der Entwicklung des jungen Augustiners wurde, belegen sodann auch die weiteren Aufsätze, die dem Band beigegeben sind. Sie dokumentieren eindrücklich den Verlauf der wiederaufgenommenen Staupitz-Forschung seit den 1970er Jahren. Beiden Autoren liegt daran, die Kontinuität und Berechtigung ihrer Deutung nachzuweisen, wonach ein durchgängiger intensiver Einfluss von Staupitz auf Luther nachzuweisen ist. Der hat sich paradigmatisch in der Augustinrezeption konzentriert, geht dann aber doch auch deutlich darüber hinaus.
Es finden sich zehn Beiträge, die sich auf Einzelprobleme der Würdigung von Staupitz beziehen. Sie behandeln – zuerst aus der Feder von Lothar Graf zu Dohna – zunächst Leben und Werk des frommen Kirchenmannes und Gelehrten sowie einen Forschungsüberblick bis in das Jahr 1978. Sodann den Weg von der Ordensreform zur Reformation aus dem Jahre 1981. Hierbei steht Staupitz im Zentrum. Leider konnten die jüngsten Veröffentlichungen zum Thema (Günther, Schneider, et al.) hier nicht mehr aufgenommen werden. Das Verhältnis von Staupitz und Luther traktiert zunächst Lothar Graf zu Dohna und dann in zwei weiteren Aufsätzen Richard Wetzel. Seiner solennen Kenntnis der theologischen Tradition sind sodann auch zwei Beiträge zur Rezeption der heidnischen Antike und Augustins im Werk von Staupitz gewidmet. Den Ab­schluss bildet eine knappe Skizze von Lothar Graf zu Dohna zum Motiv von Gesetz und Evangelium in Staupitz’ frühreformatorischer Theologie. Er sucht die These zu plausibilisieren, dass die lutherische Akzentuierung des hermeneutischen Gegensatzes von Gesetz und Evangelium sich – dem Wortlaut einer Tischrede vom Herbst 1532 nach – Staupitz verdanke. Die unten noch auszuführende Problematik der Isolierung von Motiven und ihrer Inbezug-setzung wird hier sinnfällig illustriert. Es sind fraglose Analogien und Bezugnahmen zu erkennen, dennoch ist die Ausführung dieser Grundstruktur bei Luther von der seines Augustineroberen deutlich unterschieden.
Sowohl in aktualisierten Anmerkungen der Aufsätze wie auch in den Forschungsberichten (125–137 und 283–330) werden zahllose ältere Debatten aufgenommen, weitergeführt, präzisiert und korrigiert. So dokumentiert der Forschungsbericht seit 1979 minutiös die vergangenen fast vier Jahrzehnte der Forschung, würdigt, kritisiert und korrigiert die dabei veröffentlichten Ergebnisse im Licht der alles überscheinenden These von der wegweisenden Mittlerschaft von Staupitz für Martin Luther. Hier steckt eine lange Forschungsarbeit dahinter, die den Band neben dem Editionsteil wertvoll macht.
Methodisch ist bei allem Verdienst der vorgelegten Studien dennoch das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die in den letzten Jahren vermehrte Erörterung von rezeptionsgeschichtlichen und -ästhetischen Gesichtspunkten in Verbindung mit einer hermeneutischen Rechenschaft über das erkenntnisleitende Interesse so mancher Untersuchung hat sehr deutlich werden lassen, dass hier noch so einiges zu klären ist. Dazu gehört auch die Frage von Zitation und Urheberschaft in Texten, die vor dem 19. Jh. entstanden sind. Wie sind semantische Motive, Tropen etc. einzuordnen und zu berücksichtigen? Welche Rolle spielen die literarischen Genres der Quelle? Wie gut sind wir tatsächlich über den zur Verfügung stehenden etwa patristischen oder mittelalterlichen Quellenbestand, auf den Autoren etwa des 16. Jh.s zurückgreifen, informiert? Durch Kriegseinwirkungen, Feuer und allerlei Gewalt sind zahlreiche dieser Bestände für immer verloren und können nur noch sehr oberflächlich anhand von Schriftenverzeichnissen oder Zitationen in anderen Werken rekonstruiert werden.
Noch schwieriger wird die Frage zu beantworten sein, wie man Einflussnahmen auf und quellenmäßige Imprägnierungen der untersuchten Texte identifizieren kann. Neben der immer noch weitgehend unerforschten Kenntnis von Alltags- und Gelegenheitstexten, liturgischen Vorlagen – insbesondere aus den Klöstern – und im alltäglichen Sprachgebrauch verorteten Quellenbezügen sind auch die Literaturvermittlungen jenseits der klassischen Institutionen der lectio im Vorlesungssaal der Universität oder des klösterlichen Ordensstudiums zu identifizieren. Für die intensive Beziehung zwischen Staupitz und Luther ist insbesondere in der prägenden Zeit zwischen 1506 und 1516 nicht allzu viel bekannt. Die Korrespondenzen beziehen sich ja meist auf Phasen der wechselseitigen Abwesenheit. Was aber in den persönlichen Begegnungen gesprochen und bedacht wurde, ist nicht oder nur sehr schwer und quellenkritisch sorgsam analysiert zu gewinnen. Dabei spielt nicht selten das unreflektierte erkenntnisleitende Interesse eine nicht unerhebliche Rolle.
Die intime Kenntnis der Autoren mit den Quellen verleitet sie zu zuweilen apodiktischen Setzungen und einer sehr stark fokussierten Interpretation. Sie halten dezidiert an der Bezeichnung von Staupitz als eines vorreformatorischen Theologen und seiner Funktion als Lehrer Luthers fest. Dass die Entwicklung Luthers dabei in spezifischen Konstellationen zunächst im Erfurter und später im Wittenberger Kloster sowie den damit eng verbundenen Universitäten sich vollzieht, mithin von zahllosen Faktoren begleitet ist, die sich nicht ex-plizit in den Quellen niederschlagen, gerät zuweilen aus dem Blick. Auch die methodische Entscheidung, parallele, analoge und anklingende Zitate miteinander in Verbindung zu setzen, bedarf der weiteren Diskussion.
Schließlich ist auch die Vergleichbarkeit von theologischen Motiven nicht nur quellenkritisch, sondern auch rezeptionsästhetisch zu evaluieren. Erst langsam wird sichtbar, dass und wie sich die Protagonisten der vorreformatorischen – der Begriff ist hier rein chronologisch gemeint – Reformbewegungen in einem dicht verknüpften Netzwerk artikulieren und sich auch Luthers Veröffentlichung von Thesen und Disputationen erst in einem größeren Zusammenhang erschließen. Dass Staupitz Teil dieser reformorientierten Netzwerke ist, steht außer Zweifel. Ob und in welcher Weise Luther ihn nachträglich zum alleinigen Vertreter seiner reformatorischen Entdeckung stilisiert, bleibt weiterhin Gegenstand der Forschung – und damit auch der historiographischen Debatten.
Dass diese Diskurse durchaus hegemonialen Charakter haben, kann vor dem Hintergrund anderer Debatten um die Theologie des jungen Luther kaum geleugnet werden. Zu Recht rügen die Autoren daher manche scharf oder auch nur ungeschickt formulierte Aussagen von Rezipienten aus 40 Jahren über ihrer Arbeit. Diese Formulierungen verdanken sich, und das wird dann kaum mehr erkennbar, spezifischen Forschungskonstellationen und Positionierungen auf dem immer wieder zu Profilierungen missbrauchten Feld der theologischen Reformationsgeschichtsforschung. Be­merkenswert sind die Kontinuitäten und Persistenzen einzelner Einschätzungen und Positionierungen, die sich inzwischen über mehr als eine Forschergeneration hinweg erhalten haben.
Man muss nicht alles teilen, was die Autoren argumentativ anbringen. Aber man wird nicht umhinkommen, sich mit ihren Argumenten intensiv auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund dieser Arbeit sind etliche Urteile und Wertungen auch der neueren Staupitz-Forschung nicht mehr haltbar bzw. zu überarbeiten. Dennoch: Der Zwischenbericht stellt eine Momentaufnahme dar, die von weiterer Forschung ergänzt, überschritten oder auch falsifiziert werden kann. Alles in allem liegt ein wichtiger Band vor, der in keiner Bibliothek fehlen sollte und den überfälligen Abschluss der Edition als höchst dringlich vor Augen führt.