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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

68–70

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Somov, Alexey

Titel/Untertitel:

Representations of the Afterlife in Luke-Acts.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2017. 268 S. = The Library of New Testament Studies, International Studies in Christian Origins. Geb. £ 90,00. ISBN 978-0-567-66711-3.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Vorstellung eines »Lebens nach dem Tod« hat die frühe Chris-tenheit naheliegenderweise stark beschäftigt. Besonders das lukanische Erzählwerk lässt hier eine große Vielfalt an Aussagen erkennen, in denen sich die Einflüsse seiner jüdischen wie auch paganen Umwelt widerspiegeln. Darüber besteht seit Langem Konsens. Ob sich daraus aber bei Lukas auch ein einheitliches, in sich stringentes Bild gewinnen lässt, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. An dieser Stelle setzt die vorliegende Untersuchung von Alexey Somov, eine Dissertation an der VU Amsterdam aus dem Jahr 2014, an. Ihr Fokus richtet sich darauf, der Adaption dieses disparaten Erbes durch Lukas nachzuspüren sowie seinen Gewinn für ein neues eschatologisches Konzept zu ermitteln.
Teil I (»Eschatology and the Abode of the Dead«) steckt den thematischen Rahmen der Untersuchung ab. In Kapitel 1 wird Eschatologie dabei zunächst ganz konservativ als Auseinandersetzung mit den »letzten Dingen« jenseits der Todesgrenze in kollektiver wie individueller Perspektive verstanden. Ein erster Survey gilt den Gerichtsvorstellungen in der paganen und jüdischen Literatur. Vor diesem Hintergrund werden sodann alle Gerichtsaussagen in Luke-Acts evaluiert und auf ihren zeitlichen Aspekt hin befragt. Das Ergebnis lautet (wenig überraschend): »Luke does not develope a systematic eschatological doctrine in Luke-Acts« (72); seine eschatologischen Erwartungen stellen für ihn auch kein zentrales Thema dar. Kapitel 2 fragt daraufhin nach der Darstellung jenseitiger Orte – genauer nach der Unterwelt und dem Ort der Gerechten. Erneut stehen Luke-Acts dabei im Licht paganer und jüdischer Traditionen. Dabei bleibt jedoch unentschieden, inwiefern der Hades Ort aller Toten oder ein spezifischer Strafort ist. Ähnlich verhält es sich mit Blick auf die Gerechten; das Konzept der Gottesherrschaft bietet eine Brücke zwischen diesem und jenem Leben an, stellt sich im Jenseits dar als Festbankett oder steht unter der Chiffre des Paradieses. Eine räumliche Zuordnung lässt sich indessen nicht erkennen. Allein die strikte Trennung von Gerechten und Frevlern ist konstitutiv.
Teil II (»Forms of Afterlife Existence«) setzt die Untersuchung in derselben stereotypen Weise fort. In jedem Kapitel werden zuerst die paganen und jüdischen Quellen gesichtet, um dann mit großer Gründlichkeit den Textbestand in Luke-Acts zu beschreiben. Kapitel 3 beginnt mit der Hoffnung auf eine allgemeine Auferstehung der Toten, deren allmähliches Erwachen in Israel zu den faszinierendsten Themen alttestamentlicher Theologie gehört. Bei Lukas stehen dabei die Auferstehung aller und die Auferstehung der »Gerechten« relativ unverbunden nebeneinander; das prominen-teste Beispiel individueller Auferstehung bieten die Ostererzählungen. Ob auch die Totenauferweckungswunder hierher gehören, bleibt zu fragen; sie stellen lediglich gleichsam extreme Heilungswunder dar – gerade dann, wenn man Lukas die mediterrane Sicht des Todes als eines schrittweisen Prozesses unterstellt. Die Ganzheitlichkeit bzw. Körperlichkeit der Auferstehung wird von Lukas mit Nachdruck vertreten. Am Beispiel der Auferstehung Jesu zeigt sich jedoch, dass diese Körperlichkeit bereits an einer anderen Wirklichkeit teilhat. Kapitel 4 setzt der jüdischen ganzheitlichen Vorstellung deshalb noch einmal die griechische Idee von der Fortexistenz der unsterblichen Seele entgegen, der sich Lukas ebenso zu öffnen scheint. Besonders Lk 20,35–38 fungiert hier als Schlüsseltext, in dem die Idee der unsterblichen Seele mit angelomorphen Vorstellungen verbunden ist. Auch hier steht Lukas mit seiner Unentschiedenheit nicht allein. In seiner jüdischen Umwelt lässt sich eine entsprechende Offenheit schon längst beobachten. Mit Blick auf die Auferstehung bezeichnet Unsterblichkeit für Lukas vor allem die Hoffnung auf »ewiges Leben«. Angelomorphe Vorstellungen haben die Funktion, die Verwandlung der Auferstandenen zu einer neuen Existenzweise zum Ausdruck zu bringen.
Teil III (»Can the Various Views of the Afterlife in Luke-Acts Be Reconciled?«) wendet sich schließlich der Frage zu, inwiefern aus dem Konglomerat verschiedener Traditionen, Vorstellungen und Konzepte ein einigermaßen stimmiges Bild entstehen kann. Gibt es hier »interrelations«, oder bleiben die lukanischen Aussagen mehr oder weniger unausgeglichen nebeneinander stehen? Die Antwort fällt verhalten aus. Ob der Verweis auf den metaphorischen Charakter der lukanischen »representations of afterlife« hier schon ausreicht, um eine Gesamtsicht unterstellen zu können, lässt sich hinterfragen. Denn anders als mit Hilfe bildhafter, analoger Sprache lässt sich ja über Fragen, die sich unserem Wirklichkeitsverständnis grundsätzlich entziehen, ohnehin nicht handeln. Das betrifft auch die Frage des Zeitverständnisses, die zum Ab­schluss noch einmal unter dem Stichwort von »realized and individual aspects of eschatology« zur Sprache gebracht wird. Kann man dieser Frage im Rahmen geschichtlich linearen Denkens überhaupt gerecht werden, oder wird hier nicht zwangsläufig schon die Relation von Zeit und Zeitlosigkeit auf grundsätzliche Weise aufgeworfen? Das abschließende Statement hält fest: Die Vielfalt und scheinbare Disparatheit jener »ideas dealing with the afterlife in Luke-Acts« sind für Lukas kein Widerspruch. »He regards this ideas as consistent; they are coherent in his conceptual system …« (230). Die Konturen eines solchen lukanischen »Systems« wären freilich noch klarer herauszuarbeiten.
Wenn Eschatologie in der herkömmlichen Weise als Frage nach »letzten Dingen« formuliert wird, müssen die Antworten beinahe zwangsläufig bei einem Puzzle bunter Bausteine stehen bleiben. Hier lässt sich aber inzwischen auch in der Exegese von den Einsichten der Systematischen Theologie lernen, die Eschatologie nicht mehr als »das Finale, sondern das Ferment der Theologie« (G. Sauter) oder als »die Hoffnungsdimension des christlichen Glaubens« (U. Kühn) begreift. Eine solche Sicht vermag die Dynamik lukanischer Eschatologie sehr viel besser zu erfassen, anstatt nur das mehr oder weniger unausgeglichene Nebeneinander verschiedener »Hoffnungsgüter« zu konstatieren. Sie würde auch die temporalen Spannungen bei Lukas leichter auflösen können, da »Gottesherrschaft« und »Leben« dann nicht mehr zeitlich zu platzie-ren wären, sondern vor allem Perspektiven christlichen Selbstverständnisses beschrieben. Der Appellcharakter von Lk 16,19–31 macht ja deutlich, dass die Entscheidungen für das, was auf den Menschen zukommt, bereits hier und in diesem Leben fallen – was die Untersuchung auch überzeugend herausarbeitet: »Luke’s un­derstanding of repentance and salvation can serve as a key for the interpretation of the reasons for the seeming transfer of eschato-logical resurrection issues to the present […]« (223). Zu fragen wäre weiterhin auch nach dem Modell horizontaler und vertikaler Eschatologie bzw. nach der Verflechtung zeitlicher und räumlicher Vorstellungen (vgl. z. B. N. Walter, »Hellenistische Eschatologie« im Frühjudentum – ein Beitrag zur »Biblischen Theologie«?, ThLZ 110 [1985], H. 5, 331–348). Im frühen Judentum hat sich die Vorstellung von den beiden aufeinander folgenden Äonen ja bereits zu jenem Modell entwickelt, das diesen (zeitlichen) Äon von jenem (zeitlos en) Äon räumlich umschlossen sieht; aus »Weltzeitaltern« sind dabei unter der Hand Wirklichkeitsbereiche geworden, die sich sehr viel komplexer aufeinander beziehen als in einem schlichten »jetzt-dann«. Lukas ist zweifellos prominenter Vertreter einer solchen vertikalen/räumlichen Eschatologie, die alle zeitlichen Aspekte ebenso wie alle individuellen oder kollektiven Zugänge zu integrieren vermag.
Die vorliegende Arbeit wirft alle diese Fragen von Neuem auf – und legt zu ihrer Lösung eine umfassende, in dieser Gründlichkeit bislang noch nicht geleistete Aufarbeitung des textlichen Befundes vor. Nicht allein die lukanische Bildwelt, sondern auch ihre vielfältige Verflechtung mit der religiösen Umwelt des Lukas wird dabei sorgfältig und detailliert beschrieben. Dieser Fundus an Material, der mit seinen intertextuellen Bezügen die religiöse Matrix des Themas sichtbar macht, wird für alle künftigen Arbeiten zu Eschatologie bei Luke-Acts schlicht unverzichtbar sein! Was daraus für ein lukanisches Konzept von »resurrection and afterlife« folgt, bleibt indessen weiter zu diskutieren.