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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

63–66

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Howell, Justin R.

Titel/Untertitel:

The Pharisees and Figured Speech in Luke-Acts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XII, 386 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 456. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-155023-2.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Rolle der Pharisäer in den kanonischen Evangelien erweist sich als ein unerschöpfliches Thema. Das liegt an dem Umstand, dass die antiken Quellen über die Pharisäer nur spärlich fließen, weshalb auch den Zeugnissen des Neuen Testamentes immer wieder ein unbestreitbarer, wenngleich mit Vorsicht zu beurteilender Quellenwert zukommt. Diese »evangelischen« Wahrnehmungen der pharisäischen Bewegung sind Ausdruck einer komplexen Beziehungskonstellation, die sich weder auf den schlichten Konflikt noch auf gemeinsame Interessenlagen allein reduzieren lässt. Zwischen historisch verlässlicher Information (auf unterschiedlichen Ebenen) und der theologischen Intention des jeweiligen Erzählzusammenhanges zu unterscheiden, ist deshalb eine bleibende Herausforderung. Lukas, der ein sehr viel differenzierteres Bild der Pharisäer entwirft als seine Evangelistenkollegen, bietet dafür eine ganze Reihe von Ansatzpunkten.
Die vorliegende Untersuchung von Justin R. Howell, eine Dissertation an der Divinity School in Chicago, stellt sich dieser Aufgabe vor allem unter dem Aspekt einer rhetorischen Analyse. Könnte es sein, dass die immer wieder beobachtete »Uneindeutigkeit« in den lukanischen Pharisäertexten Ausdruck einer bewussten rhetorischen Strategie ist?
Der erste Hauptteil (»Contextualizing the Question«) klärt zunächst die Voraussetzungen. Kapitel 1 legt eine Definition dessen vor, was nach dem Verständnis der antiken Rhetorik (vor allem nach Demetrius und Quintilian) mit »figurierter Rede« gemeint ist. Der lógos eschematisménos (lat. oratio figurata) stellt eine rhetorische Technik dar, bei der das Gemeinte nicht offen ausgesprochen, sondern hinter dem Wortlaut verborgen wird. Anders als im Falle von Ironie, die das Gegenteil des Gemeinten bemüht, geht es dabei eher um ein verhülltes oder verdecktes Sprechen, das mit Mehrdeutigkeiten spielt. Der aufmerksame Hörer soll das, was gleichsam »durch die Blume« gesagt ist, selbst herausfinden und verstehen. Für den Redner ist diese Technik besonders dort erforderlich, wo seine eigene Sicherheit in Frage steht. »Figurierte Rede« als téchne wird sodann anhand der Begriffe émphasis, euprépeia, aspháleia und parrhesia weiter entfaltet; auch die eironeia und die indirekte Rede finden dabei noch einmal Berücksichtigung. Bezogen auf die Darstellung der Pharisäer ist damit zu rechnen, dass Lukas verschiedene rhetorische Figuren verwendet. In Kapitel 2 gibt H. Auskunft über seine Methodologie, die sich einer Kombination aus »redactional, intertextual, interconceptual, rhetorical, literary and historical analysis« bedient. Eine kompakte Übersicht über die bisherige Forschungsgeschichte zu den Pharisäern füllt Kapitel 3, wobei die Quellenfrage und die bei Josephus zu erhebende Perspektive der römischen Öffentlichkeit leitend sind. Kapitel 4 fragt nach der Herkunft von Luke-Acts und diskutiert dabei Judäa, Ephesus, Antiochia sowie überhaupt die Frage von Pharisäern in der Diaspora; favorisiert wird letztlich das syr. Antiochien. Autor und Adressaten sowie die Datierung sind der Gegenstand von Kapitel 5: Hier fällt die Entscheidung für Lukas als Vertreter des Diasporajudentums, für ein Lesepublikum vorzugsweise unter »Gottesfürchtigen« sowie für den Zeitraum 105–120. Sind auch Pharisäer als intendierte Leser anzunehmen? Das zumindest ist die These, die sich im weiteren Gang der Untersuchung bewahrheiten soll.
Der zweite Hauptteil (»The Suppression of Free Speech«) befasst sich mit den literarischen und historischen Bedingungen, unter denen Lukas sein Pharisäerbild entwickelt. Die Begriffe aspháleia (Lk 1,4) und parrhesia (Act 28,31) scheinen wie ein Rahmen um das Doppelwerk gelegt zu sein und in programmatischer Weise eine Perspektive nach dem Muster »from figured to free speech« zu entwerfen. Was Lukas und »Theophilus« vorerst noch verwehrt bleibt, repräsentiert die literarische Figur des Paulus auf der Erzählebene dann als eine Art Zielvorstellung. Die Situation des Evangelisten scheint dadurch gekennzeichnet zu sein, dass Pharisäer immer wieder als »spies« in Erscheinung treten und die Freiheit der Verkündigung gleichsam »ausspionieren«. Das führt in Kapitel 7 zu der Frage nach Paulus und anderen früheren Pharisäern. Schlüssel szenen hinsichtlich »figurierter Rede« sind etwa die gespielte Ahnungslosigkeit des Paulus gegenüber dem Hohenpriester und dessen anschließende Bezeichnung als archon des Volkes (Act 23,5), die Berufung des Paulus vor dem Synedrion darauf, Pharisäer zu sein (Act 23,6 und 26,5), der Anspruch des Paulus auf das römische Bürgerrecht sowie der Einspruch der gläubig gewordenen Pharisäer in Act 15,5. In Kapitel 8 werden »Gamaliel and the God-Fighters« einer eingehenden Analyse unterzogen: Hier kommen vor allem Verfolgungserfahrungen der frühen Christenheit zum Vorschein, in die Pharisäer auf eine sehr diffizile Weise involviert sind. Die Freiheit der Rede bleibt für die Boten des Evangeliums gefährlich.
Der dritte Hauptteil (»Luke’s Moral Diagnosis of the Pharisees«) geht an den einschlägigen Aussagen entlang, in denen ein eher negatives Bild der Pharisäer zum Ausdruck gebracht wird. Kapitel 9 tut dies anhand jener Perikopen, die in Lk 4–6 »Initial Symptoms of Illness« reflektieren. Kapitel 10 zeichnet Aussagen zu »Passions of Injustice« der Pharisäer nach. Kapitel 11 kreist um das Stichwort des »Evil Eye«. In sorgfältigen Einzelanalysen wird hier die Hauptlinie der Arbeit weiter verfolgt unter der Fragestellung, inwiefern und warum gerade dieses Negativbild eher verdeckt als frontal entworfen ist.
Der vierte Hauptteil (»The Pharisees and the Kingdom of God«) stellt dem vorigen eine Reihe von positiven Schlüsseltexten entgegen. Das betrifft in Kapitel 12 die verschiedenen Zuordnungen der »Gottesherrschaft« zu ihren Adressaten. Kapitel 13 reflektiert die Rolle des Pharisäers Simon in Lk 7 im Vergleich zu PsSal 8. In Kapitel 14 geht es um Jerusalem im Bild des »verlassenen Hauses« da, wo in Lk 13–14 mehrfach die Hausmetaphorik durchgespielt wird. Besonderes Gewicht hat in Kapitel 15 der Einzug Jesu in Jerusalem, dessen Inszenierung ein Musterbeispiel »figurierter Rede« bietet. Den Abschluss stellt schließlich mit Kapitel 16 die Zachäus-Perikope dar, in der die Pharisäer zwar nicht vorkommen, durch einige versteckte Hinweise aber vielleicht doch anvisiert sein könnten – wie in dem Wortspiel von sykomoréa und sykofantein, im Auf und Ab am Baume und einer möglichen Allusion zwischen Zachäus und Jochanan ben Zakkai. Am Ende wird auch in allen diesen scheinbar positiven Zusammenhängen eine deutlich kritische Untertonreihe hörbar.
Das Fazit kann dann am Ende selbst der »figurierten« Rede nicht ganz entbehren. Die vielfach beobachtete »Uneindeutigkeit« des lukanischen Pharisäerbildes ist demnach nur die Spitze eines Eisberges, der unter der Textoberfläche mit Hilfe von Allusionen, Analogien, rhetorischen Vergleichen, Personifikationen, Wortspielen oder Ironien die polemischen Tendenzen sehr viel deutlicher verstärkt als bisher angenommen. Geht Lukas darin sogar noch weiter als Matthäus? Oder hört hier der Exeget im hellen Licht einer originellen These überall doch nur das Gras wachsen? Plausibel erscheint, dass Lukas tatsächlich die verdeckte Rede beherrscht und in diesem Geflecht aus mehr oder weniger kritischen Anspielungen auch die Pharisäer anvisiert. Warum aber sollte er so verfahren? Sind für ihn die »Pharisäer« etwa nicht nur kritikwürdig, sondern geradezu bedrohlich, so dass er selbst in seiner Erzählung den Aspekt der aspháleia tunlichst im Blick behält? Reagiert er damit auf eine reale politische Situation, oder baut er diese Konstellation lediglich als ein Paradigma für die Situation der Verkündigung im Allgemeinen auf, die – vorerst noch an Rücksichten gebunden – auf die freie und ungehinderte Rede hofft? Der letzte Satz des Buches deutet eine noch viel tiefer liegende Spannung an: »While Luke assumes that Pharisees could become Christians, the evidence that one could be a Pharisee and a Christian simultaneously is tenuous. The two groups appear to be devided over questions concerning what constitutes the kingdom of God, whether its king had arrived, and if so, whether they can speak this message openly.« (301) Das ist ein Statement nicht nur hinsichtlich des Pharisäerbildes, sondern hinsichtlich der Beziehung der lukanischen Gemeinde zu Israel im Ganzen! Sollte Lukas wirklich die Auffassung des Ignatius (Magn 10,3) teilen? Offenkundig ist, mit welcher rhetorischen Behutsamkeit der Evangelist delikate Fragen behandelt. Das lässt sich auch bei anderen Themen beobachten. Nur selten lehnt er sich aus dem Fenster; eher wägt er ab und überlässt seinem Lesepublikum die Schlussfolgerungen. Es ist das große Verdienst dieser Arbeit, diese lukanische »Unbestimmtheit« überhaupt als Ausdruck »figurierter« Rede nachgewiesen und anhand zahlreicher wichtiger Beobachtung bedacht zu haben. Auf diese Einsicht wird man nicht mehr verzichten wollen – auch wenn die exegetische parrhesia nicht umhin kommen wird, deren Implikationen noch einmal auf den Prüfstand zu stellen.