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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

51–53

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Niehoff, Maren R., u. Reinhard Feldmeier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Abrahams Aufbruch. Philon von Alexandria, De migratione Abrahami. Eingel., übers. u. m. interpretierenden Essays versehen v. H. Detering, L. Doering, R. Feldmeier, R. Hirsch-Luipold, H.-G. Nesselrath, M. R. Niehoff, P. Van Nuffelen, F. Wilk.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 292 S. = Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia, XXX. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153819-3.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Die Serie SAPERE widmet sich der Herausgabe, Übersetzung und dem interdisziplinären Kommentar von griechischen und lateinischen Texten der ersten vier Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Erstmalig wird in dieser Reihe ein Buch Philons von Alexandrien herausgegeben. »Philon ist der erste uns bekannte monotheistische Philosoph, der die biblischen Erzählungen als Allegorien platonischer Ideen verstand und ihre Protagonisten als Figuren einer individuellen Seelenlehre las« und für den das Judentum eine »universale Religion« darstellte (VII). Der Band ist das Ergebnis einer Tagung in Göttingen. Er enthält den griechischen Text mit einer Übersetzung des klassischen Philologen Heinz-Günther Nesselrath (Göttingen).
Die Einführung mit Biographie und Würdigung der Schrift im Rahmen von Philons Gesamtwerk stammt von Maren Niehoff, einer international anerkannten Expertin für Philon (Jerusalem), die auch den größten Teil der Anmerkungen zum Text beigetragen hat. Der zweite Teil des Bandes besteht aus drei Beiträgen zum geistigen und religiösen Hintergrund, zwei vertiefenden Untersuchungen zentraler Aspekte der Migratio und zwei Essays zur Figur Abrahams. So verortet Maren Niehoff die Schrift innerhalb der jüdischen Gemeinde in Alexandrien und sieht Philon als Repräsentant der Elite und des philosophisch-frommen Spektrums, in dessen Schriften es deutlich wird, dass allein schon die alexandrinische Gemeinde – um wie viel mehr also das Diasporajudentum – eine Mischung verschiedenster Ansätze war.
Lutz Doering, Professor für Neues Testament und antikes Ju­dentum (Münster), untersucht die Beziehungen zwischen dem Diasporajuden Philon und Palästina und findet Korrelationen zu halachischen und haggadischen Details unterschiedlicher Herkunft. Meist ist Philon der Empfänger, wobei sich die von ihm übernommenen Traditionen gelegentlich sogar auf Randgruppierungen wie die Gemeinde von Qumran zurückführen lassen. In einigen Fällen lässt sich jedoch auch erkennen, dass das alexandrinische Judentum auf Palästina gewirkt hat. Rainer Hirsch-Luipold, Professor für Neues Testament und antike Religionsgeschichte (Bern), betrachtet Philon vor dem Hintergrund des Platonismus der Kaiserzeit, insbesondere das Motiv des Weges als Wanderung aus der Verstrickung in körperlichen Interessen vermittels der Bildung, das Philon mit religiös-philosophischen Autoren wie Plutarch und Tatian verbindet.
Zu Einzelaspekten der Migratio untersucht der Neutesta-mentler Reinhard Feldmeier (Göttingen) den Zusammenhang von Selbst- und Gotteserkenntnis und beschreibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Philons Darstellung der aus der Gotteserkenntnis resultierenden Selbsterkenntnis mit Seneca, Plutarch und Paulus. Der Althistoriker Peter Van Nuffelen (Gent) stellt die Migratio in den Kontrast zu der antiken Exilliteratur. Während das Exil in der griechisch-römischen Kultur negativ als Verlust von Land, Sozialkontakten und Ansehen gedeutet wird, sieht Philon Abrahams Auszug positiv, da der Verlust an sozialen Bindungen mit einem Gewinn an Tugend und Ansehen einhergeht. Philons Abraham ist der stoische Weise als Bürger des Kosmos.
Der Neutestamentler Florian Wilk (Göttingen) stellt den Abraham der Migratio, der allegorisch den Weisen repräsentiert, der Abrahamfigur im Neuen Testament gegenüber. Er warnt vor übertriebener Parallelomanie, findet aber auch Entsprechungen zum Galater- und Hebräerbrief aufgrund der Tatsache, dass derselbe Text mit ähnlichen Methoden ausgelegt wird. Der Band wird mit einem Beitrag des Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering (Göttingen) zu dem Abrahamkapitel in Thomas Manns Joseph und seine Brüder, das sich mit der »Gotteserfindung« Abrahams beschäftigt, abgeschlossen.
Der Band ist die einzige kommentierte Edition der Migratio überhaupt. Diese Edition ist wirklich gelungen. Die Übersetzung ist klar und verständlich und die Anmerkungen eröffnen zusätz-liche Perspektiven. Die Essays vertiefen bestimmte Aspekte der Schrift und verknüpfen sie mit anderen Forschungsbereichen. Auf diese Weise zeigt sich die Relevanz der Migratio gut zur Geltung, ohne dass methodisch vorschnelle Parallelen gezogen werden. Die unterschiedlichen Ansätze der Autoren kommen deutlich zur Geltung, und dennoch ist eine gemeinsame Mitte erkennbar. Allein der letzte Beitrag zu Thomas Mann hat nichts mit Philons Schrift zu tun und sprengt den Gesamtrahmen.
Der einzige Mangel der Edition ist, dass die Einleitung und der Kommentar an prominenter Stelle Niehoffs Theorie der Datierung der philonischen Schriften und seiner Entwicklung durch den Besuch in Rom übernimmt, wie sie sie in einer kürzlich veröffentlichten Monographie vertritt (Philo of Alexandria: An Intellectual Biography, New Haven 2017). Niehoff argumentiert, dass Philons Besuch in Rom im Rahmen der Gesandtschaft an den Kaiser Gaius Caligula eine grundlegende Wende in seinem Denken von platonischer Allegorie zu stoischen Ansätzen verursacht hat. Sie datiert den allegorischen Kommentar Philons in seine Jugend und sieht die Auslegung der Gesetze als Spätwerk. Dieser Theorie steht die Mehrheit der Philonexperten skeptisch gegenüber, wie in einer eigens Niehoffs Biography gewidmeten Sitzung des Philo Seminars der Society of Biblical Literature bei dem Annual Meeting in Boston 2017 deutlich geworden ist. Die Schriften Philons lassen sich nicht so eindeutig datieren, und die allegorischen Schriften werden meist eher einem späteren Lebensstadium Philons zugeordnet. Einige der Beiträge zur Migratio belegen selbst, dass sich Niehoffs biographische Trennung von stoischer und platonischer Ausrichtung an dem Text nicht ohne Weiteres belegen lässt. Die vorliegende Ausgabe der Migratio ist vor der SBL Sitzung veröffentlicht worden, jedoch steht sie, wie sich durch sie herausgestellt hat, durch die Entscheidung, sich so auf Niehoffs Theorie zu stützen, in einer Außenseiterposition, ohne dass das in der Edition kenntlich ge­macht werden könnte. Dieses Problem betrifft jedoch hauptsächlich Einleitung und Kommentar. In den Essays schlägt sich Niehoffs Grundannahme nur selten nieder. In jedem Fall stellt der Band einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Migratio dar. Im Blick auf das hier Erreichte steht zu wünschen, dass weitere Schriften Philons ihren Weg in die Reihe SAPERE finden.