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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1001–1004

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schjørring, Jens Holger, u. Norman A. Hjelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte des globalen Christentums.

Verlag:

Teil 1: Frühe Neuzeit. Übers. v. G. Baumann. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. 709 S. m. 8 Abb. = Die Religionen der Menschheit, 32. Kart. EUR 179,00. ISBN 978-3-17-021931-1. Teil 2: 19. Jahrhundert. Übers. v. N. Reck. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. 583 S. m. 6 Ktn. = Die Religionen der Menschheit, 33. Kart. EUR 179,00. ISBN 978-3-17-021932-8.

Rezensent:

Klaus Hock

Die seit 1960 erscheinende Buchreihe »Die Religionen der Menschheit« gehört zu den wohl renommiertesten und ehrgeizigsten religionswissenschaftlichen Publikationsprojekten. In ihr finden sich »Klassiker« wie Friedrich Heilers »Erscheinungsformen und Wesen der Religion«, jener Band, der als Band 1 die Reihe eröffnete, oder Geo Widengrens »Die Religionen Irans« aus dem Jahr 1965. Manche Bände sind inzwischen hoffnungslos veraltet – wie der von Ernst Dammann über Afrika (1963) –, einzelne sind in einer völlig neu überarbeiteten Auflage erschienen – so etwa Christiane Zivie-Coches und Françoise Dunands »Die Religionen des Alten Ägypten« in der Nachfolge von Siegfried Morenz’ Band, der zeitlich noch vor Heilers Band erschienen war. Dass »Die Religionen des Hindukusch« mehr Umfang beanspruchen als »Das Judentum«, gehört zu den Unwuchten, die bei solchen Großprojekten immer wieder zu beobachten sind und vielleicht auch nur schwer vermieden wer-den können. Noch bedeutsamer ist die Unwucht mit Blick auf das Christentum, das doch signifikant mehr Berücksichtigung findet als andere, vergleichbar »große« Religionen. Auch das ist erklärbar und hat wohl unter anderem mit der in diesem Falle besseren Forschungslage zu tun – aber eventuell auch mit einer europäischen P erspektive auf Religionsgeschichte, der noch nicht hinreichend postkolonial gegengesteuert wurde. Die bislang auf drei Bände angelegte »Geschichte des globalen Christentums«, von denen 2017 zwei erschienen sind, birgt die Chance, eine entsprechende Perspektiverweiterung vorzunehmen. Im Großen und Ganzen, so viel lässt sich sagen, wurde diese Chance auch genutzt.
Die Autorinnen und Autoren sind größtenteils Kirchengeschichtler – unter den wenigen anderen finden sich mehrheitlich Profanhistoriker –, was manche zum Anlass für skeptische Fragen nach Positionalität, gar Parteilichkeit oder Voreingenommenheit, nach einem Überhang emischer gegenüber etischen Perspektiven, aber auch nach dem Verhältnis von (ökumenischer oder konfessioneller) Kirchengeschichte zu einer Religionsgeschichte des Chris-tentums nehmen könnten. Auch wenn sich im Rahmen der beiden Bände keine konkrete »Gegenprobe« machen lässt, sind Befürchtungen, hier würde quasi konfessionelle Kirchengeschichtsschreibung auf Kosten der Religionsgeschichte betrieben, nicht zu substantiieren. Nur im Detail scheint bisweilen der christlich-theologische Hintergrund mancher Begrifflichkeiten durch, wenn etwa von »Aberglaube« die Rede ist – einem Begriff, der im religionswissenschaftlichen Diskurs so nicht ohne Weiteres verwendet würde.
»Geschichte des globalen Christentums« wird nicht nur als titelgebend, sondern durchaus programmatisch verstanden, wie bereits die Einführung von Hartmut Lehmann zu »Teil 1: Frühe Neuzeit« zeigt: Gewissermaßen ex negativo werden nationale Vorurteile, konfessionelle Wertungen, europazentrische Positionen und patriarchale Strukturen als Problemfelder bestimmt, mit denen als Einflussfaktoren auf eine Geschichtsschreibung des globalen Christentums zu rechnen ist, ganz abgesehen von weiteren Schwierigkeiten, wie der Frage nach der angemessenen Berücksichtigung der komplexen Wechselwirkungen von politischen, sozialen, kulturellen und anderen Faktoren auf der einen und religiösen Kräften auf der anderen Seite. Entsprechend geraten unterschiedliche Erklärungsmodelle – so beispielsweise das »Konfessionalisierungs-Paradigma« oder das der »religiösen und kirchenpolitischen Differenzierung« bis hin zum jüngeren der »polyzentrischen Struktur des Weltchristentums« – miteinander in Konkurrenz und s ind entsprechend mit zu reflektieren. Dieser Zugriff eröffnet einen durch theoretische Reflexion begleiteten Umgang mit der Thematik, bei der es unter anderem darum geht, verschiedene Spannungsfelder zu identifizieren, um auf dem Weg zum Weltchristentum »Kontinuitäten, Diskontinuitäten, Widersprüche« (39) benennen zu können. Bei allen möglichen – auch widersprüchlichen – Antworten beispielsweise auf die Frage nach dem Prozess der Säkularisierung bleibt dabei auch mit Blick aufs Ganze der Ge­schichte des globalen Christentums der Eindruck »von einer dy-namischen Vielfalt und von einem dynamischen Reichtum« (42) ungebrochen erhalten.
Eine große Herausforderung für ein solches Projekt besteht darin, das äußerst komplexe und umfangreiche Material in eine geordnete Systematik zu bringen und zugleich so zu elementarisieren, dass das Dargebotene nicht oberflächlich bleibt oder gar allzu verkürzt wiedergegeben wirkt. Das den thematischen Bänden zu­grundeliegende Ordnungsprinzip besteht aus einer Mischung von historisch-periodisierenden, konfessionellen, geographischen und thematischen Zuordnungen. Die daraus resultierende Darstellung ist notwendigerweise das Resultat von vielen Kompromissen, die jedoch, insgesamt betrachtet, gelungen sind. Grundlegend ist da­bei die Periodisierung in Frühe Neuzeit, 19. Jh. und – für den ausstehenden dritten Teil – 20. Jh., wobei Unschärfen in der Natur der Sache liegen: Unter der Perspektive »19. Jahrhundert« beginnt selbstverständlich die protestantische neuzeitliche Missionsbewegung im (späten) 18. Jh. und erfährt, wie globale Entwicklungen generell, 1914 einen signifikanten Einschnitt; ähnliche Unschärfen ergeben sich für das Christentum in Afrika (mit Beginn im späten 18. Jh.), wieder leicht abweichende für das Christentum in Russland (1700–1917). Die geographischen Zuordnungen gehen nicht selten mit der konfessionellen eine gemeinsame Logik ein, wobei sich in einigen Regionen konfessionelle Hegemonien durchsetzen (La­teinamerika), in anderen sich eine mehr oder weniger ausgeglichene Ausdifferenzierung entlang kolonialer Zuordnungen ergibt (Afrika) bzw. die bereits vorhandene weitere Brechungen erfährt (das Christentum des »Nahen Ostens« im Kontext des Osmanischen Reiches und dessen einsetzender Desintegration). Thematische, im positiven Sinne »querliegende« Kapitel wie »Hungersnot, Seuchen, Krieg: Die dreifache Herausforderung der mitteleuropäischen Christenheit, 1570–1720« (Bd. 32, 491 ff.), »Die Revolutionen und die Kirche …« (Bd. 33, 53 ff.), »Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert« (Bd. 33, 235 ff.) oder »Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen …« (Bd. 33, 515 ff.) stellen noch einmal die Signifikanz übergreifender, die Christentumsgeschichte insgesamt prägender Entwicklungen heraus. Dabei ist nachvollziehbar, dass entsprechend der Bedeutung des Christentums alleine schon vom Umfang her Schwerpunktsetzungen vorgenommen werden müssen; Ozeanien und Australien etwa sind mehr oder weniger ausgeblendet, aber die Christentumsgeschichte hat auch dort erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbarere Konturen ausgebildet.
Positiv wirkt sich auf die Leseerfahrung aus, dass die Last der Bearbeitung dieser umfänglichen Thematik auf verschiedene Schultern verteilt wurde, denn alle Autoren – und nur, aber immerhin, vier Autorinnen für die ersten beiden Bände – nähern sich in unterschiedlichem Schreibstil und Temperament ihrem jeweiligen Gegenstand an, was die Lektüre durchaus abwechslungsreich macht. Die Beiträger sind allesamt ausgewiesene Experten und Expertinnen auf ihrem Gebiet, wobei sich das Gesamtspektrum von »Altgedienten« wie Klaus Koschorke oder Kevin Ward bis zu »Jüngeren« wie Ulrike Schröder oder Jan Stievermann erstreckt. Die Internationalität der Autorenschaft ist der Thematik angemessen, obgleich als weitergehender Schritt auch die Akquise beispielsweise afrikanischer oder lateinamerikanischer Beiträgerinnen und Beiträger denkbar gewesen wäre – was dann allerdings tatsächlich für den folgenden dritten Band geschehen ist. Gleichermaßen international ist die Publikationsstrategie ausgerichtet, denn die englische Version wird bei Brill auf Englisch und auch als elektronische Ressource vertrieben. Für den deutschen Kontext ist jedoch bedeutsamer, dass die Bände in deutscher Sprache vorliegen – nicht nur, weil aller Internationalisierung zum Trotz manche Studierende sich mit der Rezeption und Lektüre englischsprachiger wissenschaftlicher Li-teratur immer noch schwertun, sondern auch, weil die Christentumsgeschichte des globalen Südens zumindest im Kontext der traditionellen Kirchengeschichte bislang ein Schattendasein gefristet hatte: Von den 39 Bänden der »Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen« (KGE) waren nur drei mit diesen Regionen befasst.
Eine große und fast durchgängige Stärke der Bände ist, dass die Beiträge nicht völlig theoriefrei auf ihren jeweiligen Gegenstand und die unüberschaubare Materialfülle zugreifen. Die von Hartmut Lehmann (für die Frühe Neuzeit) und Hugh McLeod (für das 19. Jh.) besorgten Einleitungen skizzieren diesbezüglich konzeptuell reflektierte und anspruchsvolle Perspektiven, die für die Lektüre systematische Leitlinien anbieten und dadurch einen geordneten Blick aufs Ganze eröffnen. Umgekehrt bieten die von denselben Autoren für die beiden Bände je verfassten konkludierenden Kapitel nicht nur eine Retrospektive auf den verhandelten Zeitraum, sondern stellen auch die Verknüpfung und den Zusammenhang mit den je folgenden historischen Phasen her. Besonders hervorzuheben ist, dass sich in den Darstellungen fast durchgängig und zumindest perspektivisch verflechtungsgeschichtliche Ansätze finden, dass Querschnittsthemen wie gender-Aspekte Aufnahme finden, dass sich immer wieder hilfreiche (bisweilen in Fußnoten versteckte) Querverweise auf andere Kapitel der jeweiligen Bände finden, oder dass sich die Autorinnen und Autoren der Herausforderung nicht verweigern, globalgeschichtliche Periodisierungen vorzunehmen und damit das Wagnis auf sich nehmen, die Ge­schichte des globalen Christentums jenseits einer bloß linear-historisch-deskriptiven Präsentation zu strukturieren. Tatsächlich lassen die Bände in ihrer Zugangsweise traditionelle »Kirchengeschichte« hinter sich. Dies betrifft insbesondere die radikal kontextualisierende, zugleich differenzierende und integrierende Perspektive, aus der heraus nicht nur institutionelle oder dogmatische Einflüsse der Kirchen auf das Leben der Menschen in den Blick genommen werden, sondern »Kultur im weitesten Sinne« – und damit »die zahlreichen Wechselwirkungen, die zwischen dem Christentum und den einzelnen Gesellschaften, der Politik, der Ökonomie, der Philosophie, der Kunst sowie den vielfältigen Be­mühungen bestehen, welche die Kulturen, Nationen und menschlichen Gesellschaften ausmachen« (Bd. 32, 16).
Selbstverständlich lassen sich bei genauerem Besehen immer auch Desiderate benennen: Während sich in den meisten Beiträgen ein zusammenfassendes Fazit findet, fällt umso schmerzlicher auf, wenn es – zumindest als eigenständiger, vom Gesamttext abgehobener Abschnitt – einmal fehlt, so z. B. in »Christen unter osmanischer Herrschaft« Bd. 32 oder in »Katholizismus, Europäischer Ul­tramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil« in Bd. 33. Dass bei aller vorbildlichen redaktionellen Sorgfalt einmal Flüchtigkeitsfehler vorkommen können (und beispielsweise aus den westafrikanischen Akan die »Aka« werden, Bd. 33, 243), sollte nicht der Rede wert sein; bedauerlich ist allerdings das Fehlen eines Sachregisters.
Die beiden Bände sind von herausragender Bedeutung für das Bemühen, die globale Christentumsgeschichte tatsächlich in einer Gesamtschau zusammenzustellen und unter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Verflechtungen und komplexen Transformationsprozesse als Ganzes in den Blick zu nehmen. Damit markiert das Publikationsprojekt einen wichtigen Meilenstein im Bereich vergleichbarer Gesamtdarstellungen – und annonciert zugleich die Notwendigkeit, noch intensiver über die Herausforderungen und Perspektiven globaler Religionshistoriographie nachzudenken.