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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

903–905

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Marsilius von Padua

Titel/Untertitel:

Defensor Pacis. Der Verteidiger des Friedens. Deutsch/Lateinisch. Übers. v. W. Kunzmann. Neu eingel. v. J. Miethke.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017. CLXI, 1177 S. = Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Mittelalter, 50. Geb. EUR 129,00. ISBN 978-3-534-74281-3.

Rezensent:

Volker Leppin

Der »Defensor Pacis« des Marsilius von Padua († 1342/43) gehört zu den gewichtigsten Werken der Politiktheorie überhaupt – und ist als solches auch für Theologie und Kirchengeschichte von besonderem Interesse. Marsilius zeichnet darin im 14. Jh. ein Bild von Gesellschaft und Verfassung auf Grundlage einer Vertragstheorie: Nicht der Natur nach, sondern infolge eines eigenen Entschlusses haben die Menschen sich vergesellschaftet, um gemeinsam die äußere Not abzuwehren. Ihr Leben regulieren sie durch Gesetze, die zu erlassen eigentlich ihnen selbst zustünde. Als Bürger aber haben sie die Vollmacht hierzu der pars principans übertragen. Herrschaft also begründet sich aus dem willentlichen Zusammenschluss der Bürger – und nicht durch eine Einsetzung durch den Papst. Entsprechend ist der Ort, den Marsilius in seiner Theorie der verfassten Kirche zumisst, bemerkenswert gering. Deren Hauptaufgabe besteht in der religiösen Versorgung der Gemeinschaft – sie ist nicht ein Gegenüber der weltlichen Herrschaft, sondern in diese integriert. Schließlich habe, so Marsilius, auch Christus selbst keine Herrschaft für sich beansprucht, sondern zur Unterordnung unter den Kaiser aufgefordert. Es ist offenkundig, dass aus einem solchen Gesellschaftsmodell eine Fülle von kirchen- und papstkritischen Konsequenzen gezogen werden konnte, sei es in der konkreten Anwendung, als Marsilius sich im Konflikt mit Johannes XXII. auf die Seite Kaiser Ludwigs des Bayern schlug, sei es auf dem Feld der politischen Theorie mit Wirkungen weit über das 14. Jh. hinaus.
Der beste Kenner der politischen Theorie des späten Mittelalters ist Jürgen Miethke, emeritierter Historiker in Heidelberg. So ist es ein besonderer Glücksfall, dass er sich der Mühe unterzogen hat, die zweisprachige Neuedition des »Defensor pacis« im Rahmen der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe zu betreuen. Die 60 Jahre alte Ausgabe von Horst Kusch besaß hohe Qualität, war aber mittlerweile vergriffen.
Miethke geht mit der Vorlage des postum erschienenen Werkes – Kusch war im März 1958 mit 34 Jahren gestorben – behutsam um. Edition und Übersetzung erscheinen vollständig, d. h. auch hinsichtlich des Druckbildes unverändert. Das entspricht dem von M. selbst in seiner Vorbemerkung festgehaltenen Befund, dass die Übersetzung sachlich schnörkellos und in ihrer Gesamtheit präzise war. Die Edition ihrerseits beruhte, wie in der Reihe üblich, auf der Ausgabe in den MGH, die in diesem Falle Richard Scholz be­sorgt hatte.
Man kann also bisherige Zitate weiter problemlos finden, und wer die alte Ausgabe im Schrank stehen hat, mag sie weiter nutzen und zitieren. Man darf aber fragen, ob er oder sie gut daran täte, denn die Teile, die M. beigesteuert hat, mehren Gewinn und Vergnügen der Lektüre erheblich: Bis auf die von M. direkt übernommenen philologischen Bemerkungen von Kusch, der selbst Latinist war, hat M. die Einleitung komplett neu bearbeitet. Aus spärlichen Bemerkungen zum Leben des Marsilius sind nun rund 30 Seiten »Lebensumstände des Marsilius« geworden. M. ordnet den Mediziner Marsilius mit großer Souveränität in die Zeit des frühen 14. Jh.s ein: Die Welt der Pariser Universität um 1300 wird hier lebendig, ebenso der genannte Konflikt zwischen Kaiser und Papst, vor allem aber das Bemühen, die aristotelischen Vorgaben für politische Theorie zeitangemessen aufzugreifen und weiter zu entfalten. Mit aus der Beherrschung des Themas gespeister Leichtigkeit lässt M. dabei Quellenprobleme durchscheinen, Konfliktstrategien erkennen und führt en passant auch in Rechtsfragen ein. Liest man diese Passagen, so möchte man hoffen, das M. diese Biographie in nuce zu einem größeren Werk ausbaut, das den politischen Denker des späten Mittelalters und seine Zeit für ein breiteres Publikum erschließen könnte.
Die intime Kenntnis der Quellen und Probleme der Zeit zeigt sich dann auch in M.s Inhaltsdarlegung des Defensors im Rahmen der Einleitung. Was bei Kusch mehr oder minder eine Nacherzählung war, in der Regel auch ohne sprachliche Distanzierungsmerkmale, wird bei M. zu einer paraphrasierenden Interpretation, in welcher auch der engagierte Zeitgenosse der eigenen Gegenwart zu Wort kommt, wenn es etwa heißt: »Im Einzelnen kommt es Marsilius darauf an, eine unmittelbar göttliche Beauftragung von Petrus als Bischof von Rom und princeps apostolorum durch eine alternative Lesart der angeführten Belege abzulehnen und das […] plausibel zu belegen. […] Marsilius bewältigt alle Schwierigkeiten mit Geschick und macht schließlich zahlreiche Aussagen, die auch heute noch eine Diskussion vertragen« (LXXV). Da spricht der genaue Historiker, der seinem Gegenstand zugleich Wertschätzung und munteres Interesse entgegenbringt. Als Leser wird man angeleitet, Marsilius’ Hauptwerk als Dokument seiner Zeit ebenso ernst zu nehmen wie als profunde denkerische Arbeit von über den eigenen Zeithorizont hinausreichender Bedeutung.
Neben Text und Übersetzung sind auch die Registerbeigaben unverändert geblieben – auch hier muss man sich also nicht umgewöhnen. Eine zusätzliche Hilfe hat der neue Herausgeber aber noch gegeben: Verknappte Verweise von Kusch auf Anmerkungen in der MGH-Ausgabe hat er in einem eigenen Abschnitt aufgegriffen und aus Scholz’ Erläuterungen das Nötigste extrahiert, teils auch aus eigener Forschung ergänzt. Auch wenn die MGH-Bände aufgrund der vorbildlichen Digitalisierung des Münchener Forschungsinstitutes mittlerweile bequem online zugänglich sind, ist dies für die Benutzung eine erhebliche Hilfe.
Angesichts der bemerkenswerten Beigaben sollte man es sich nun also zweimal überlegen, ob die alte Kusch-Ausgabe im Regal noch reicht. Für die Zukunft, vor allem für die Benutzung in akademischen Lehrzusammenhängen, ist jedenfalls die Neuausgabe des »Defensor pacis« von Jürgen Miethke der unaufgebbare Standard.