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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

859–872

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Paul-Gerhard Klumbies

Titel/Untertitel:

Soteriologische Wirklichkeitserschließung1


Der Beitrag der synoptischen Evangelien



Die Entfaltung der Soteriologie führt unmittelbar vor die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis, das dem Reden von der Erlösung des Menschen zugrunde liegt. Wie die Wirklichkeit erfahren und in welcher Weise von ihr gedacht wird, prädeterminiert in hohem Maße, ob und, wenn ja, in welcher Weise die Erlösungsbedürftigkeit und die Erlösung des Menschen Elemente des Wirklichkeitsverständnisses sind. Angesichts konkurrierender Ansätze bei der Bemühung um eine adäquate Erschließung der Wirklich keit geht es für die Theologie darum zu zeigen, inwiefern das christliche Reden vom Handeln Gottes in Jesus Christus wirklichkeitserhellende und -konstituierende Kraft besitzt.


I Die soteriologische Interpretation der Wirklichkeit2 in den synoptischen Evangelien

1 Das gemeinsame Anliegen der Synoptiker


In den synoptischen Evangelien wird anders als in der Begriffssprache des Paulus die soteriologische Perspektive auf die Wirklichkeit in Form von Erzählungen entfaltet. Im Folgenden wird nachgezeichnet, auf welche Wirklichkeit sich die synoptischen Evangelien wie beziehen und in welcher Weise sie darauf hinwirken, neue heilvolle Wirklichkeit zu schaffen.

In allen drei Evangelien dient die Darstellung der Person Jesu dazu, Menschen in einen für sie heilsamen Lebensraum zu stellen. Das gilt für die geschilderten Ereignisse in der erzählten Welt Ende der 20er Jahre des 1. Jh.s. Es betrifft ebenso die Erzählwelt nach dem Jahr 70, der die Evangelienschriften entstammen. Die retrospektive Erzählung der Jesus-Geschichte dient der Orientierung in der Gegenwart der Gemeinden, für die die Evangelien be­stimmt sind. Die Präsentation der vergangenen Geschehnisse zielt auf die Erschließung gegenwärtiger Wirklichkeit.

Christina Metzdorf hat auf die hermeneutische Differenz hingewiesen, zu der die Aufklärung durch die Beseitigung von Inspiration, Christologie und Ekklesiologie als Leitlinien des exegetischen Bezugs auf Jesus gegenüber der patristischen Exegese geführt hat. Las die Alte Kirche »von ihrem inkarnatorischen Denken her alle menschlichen Eigenschaften und Wesenszüge Jesu als Schlüssel zur Erkenntnis des Logos«,3 brach dieser Horizont im Rahmen der historischen Kritik weg. Während die altkirchliche Exegese den »›historischen Jesus‹« aus christologischem Interesse in den Blick nahm, um »den Durchblick zum inkarnierten Logos (zu) erhellen, dessen Erkenntnis Heil für die Menschen bedeutet«,4 hat die aufgeklärte Jesusforschung ein eher mattes Jesusbild gezeichnet. Statt seiner ἐξουσία sei Jesus lediglich charismatische Ausstrahlung zugeschrieben worden. Das 19. Jh. habe ihn als kultkritischen »Reformator« gewürdigt, das 20. Jh. sich auf Jesus als Juden konzentriert. An die »Stelle des Chris-tusdogmas (trat) das Jesusbild der entsprechenden Zeit«5. Solle Exegese ihre ursprüngliche theologische Ausrichtung wiedergewinnen und »zur Erkenntnis des Heilshandelns Gottes«6 beitragen, sei ihre christologische und soteriologische Dimension neu zur Sprache zu bringen.

Der soteriologische Bezug auf die Wirklichkeit findet innerhalb der Einzelepisoden seinen Niederschlag in den Charakteristika der Person Jesu, im Umgang mit den Problemen der Menschen, denen Jesus begegnet, in der Perspektive auf Israel sowie in dem zugrunde liegenden Bild Gottes.

Wenngleich Begriffe aus der Soteriologie vorkommen, begegnen sie dennoch eher selten. Χάρις taucht von einigen wenigen Belegen bei Lukas abgesehen gar nicht auf.7 Angesichts des narrativen Charakters der drei synoptischen Jesuserzählungen empfiehlt es sich daher, anstelle der Orientierung an Begriffen auf das Beziehungsgeflecht zwischen den handelnden Personen in der erzählten Welt zu achten. Dabei zeigt sich: Statt der Substantive Gnade, Heil oder Erlösung als termini technici nimmt in den personalen Beziehungen Jesu zu anderen Menschen der Vorgang der Zuwendung breiten Raum ein. Pointiert lässt sich sagen: Jesu gesamtes Wirken und Reden in den drei ersten Evangelien ist ein Akt der Zuwendung. Den Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, versucht er die Lebensperspektive wiederzugeben, zu erneuern oder zu er­weitern. Das Geltendmachen der Gottesherrschaft bei Markus, die Ausrichtung auf einen Himmel und Erde umfassenden Gerechtigkeitszustand bei Matthäus, das Erreichen einer gottgemäßen Le­bensführung bei Lukas markieren den Horizont, innerhalb dessen der von den Evangelien vertretene Glaube gelebt wird. Der übereinstimmende Wirklichkeitsbezug aller drei synoptischen Entwürfe ergibt sich aus der Überzeugung, dass menschliches Leben sich in einem heilsamen Raum entfalten darf. Ihn erschließen die drei Evangelienschriften auf je eigene Weise. Nicht das Dass der Heilserwartung ist die Frage, sondern worin angesichts unterschiedlicher religiöser und kultureller Vorprägungen die heilsame Gabe besteht.

2 Soteriologie in den synoptischen Jesuserzählungen


2.1 Die Gabe des Geistes im Markusevangelium8

Jesus wird mit seiner Taufe in die erzählte Welt des Markusevangeliums eingeführt. Vertikal von oben wird ihm der Geist verliehen, er selbst durch die Anrede der Himmelsstimme als geliebter Sohn gewürdigt (1,9–11).9 Seine erste Aktion besteht in einem Gipfeltreffen in der Wüste mit dem obersten der gegengöttlichen Geister (1,12–13).

Mit dieser Eröffnung breitet Markus eine polare Weltsicht über seine Jesuserzählung. Er setzt eine zweigegliederte Wirklichkeit als Axiom voraus. Die Prämisse, unter der alles Folgende erzählt wird, besteht in einer Dualität. Zwei Geister rivalisieren um die Vorherrschaft in der Welt. Jesus, der Träger des göttlichen Pneuma,10 tritt in die Auseinandersetzung mit widergöttlichen Dämonen. Das Wüstentreffen mit dem Satan präfiguriert die wiederkehrenden Duellsituationen zwischen dessen Trabanten und dem Gottessohn.

Die Jesusgeschichte nach Markus findet in einer Welt statt, die ein Schauplatz zerstörerischer Geister, ein Sammelbecken beschädigter Menschen, ein Kampfplatz um hierarchische Positionen, eine Bühne für Machtdemonstrationen ist. Die Erzählperspektive des Markusevangeliums zeigt eine Wirklichkeit, in der der göttliche und der satanische Geist um die Herrschaft über die Menschen ringen. Als Agent Gottes kämpft Jesus darum, dem göttlichen Geist Raum in den menschlichen Beziehungen zu verschaffen.

In anthropologischer Hinsicht werden Menschen wiederholt als von bösen Geistern Besessene dargestellt.11 Dämonen haben die Herrschaft über sie erlangt. Jesus befreit sie davon (1,21–28; 5,1–20). Beschwert sind die Menschen im Markusevangelium auch durch andere Lasten. Wes Geistes Kind jemand ist, zeigt sich nicht erst in den wahnhaften Extremzuständen der Besessenen in Mk 1 und 5. Es sind die Alltagsanforderungen, die deutlich machen, welche Mächte die Jünger und die vielen Menschen beherrschen, auf die Jesus trifft.

Eine Bootsfahrt in stürmischer See offenbart die Existenz- und Todesangst der Jünger (4,35–41)12. Jesus wendet die Bedrohung ab – und markiert gleichzeitig die Furcht als Mangel an Glaube. Krankheiten wie Lähmung (2,1–12), Blutfluss, gar der Tod (5,21–43), Taubheit und Stummheit (7,31–37), Blindheit (8,22–26; 10,46–52), Epilepsie (9,14–29) beeinträchtigen die Lebensmöglichkeiten. Sorge um die tägliche Ernährung (6,30–44; 8,1–10; 8,14–21), moralisch-ethischer Rechtfertigungsdruck (2,18–28), Leidensscheu (8,32), selbst Größenphantasien (8,29–33) und Karriereträume (9,33–35; 10,28–31; 10,35–45) sowie der Umgang mit Konkurrenz (9,38–40) und die Erfahrung gesellschaftlicher Hierarchie (12,38–44) gehören zum Tableau der Belastungen, mit denen die Betroffenen kämpfen. Körperliche und seelische Not, persönliche Affekte und Glaubensprobleme, ethische Schwierigkeiten und soziale Anforderungen, das Spektrum dessen, was nach Unterstützung schreit, ist bei Markus weit gefasst.

In der Summe ist der Anforderungs- und Anfechtungscharakter gelebten Lebens die Herausforderung, der sich der markinische Jesus stellt. Menschen werden unter dem Beschädigungsaspekt wahrgenommen. Jesu Zuwendung orientiert sich an der Art ihrer Beeinträchtigung oder Behinderung. Permanent sind es die persönliche Begegnung, die körperliche Zuwendung und das direkte Wort, mittels derer Jesus Abhilfe schafft. Zum Erfolg gelangt der durch Jesus verbreitete Geist dort, wo die Wiederherstellung der guten Gottesgemeinschaft gelingt. Geheilte Gottesbeziehung und physische Zuwendung in konkreten Notlagen korrespondieren miteinander (2,1–12). Die konkrete Hilfeleistung ist die Außenseite der Restitution einer guten Gottesgemeinschaft. Die Glaubensbeziehung stellt die Grundlage für Befreiung und Heilung dar. Der Verflechtungszusammenhang von Körper und Geist, von Materialität und Spiritualität, der für eine mythische Weltsicht charakte-ristisch ist, klingt in den markinischen Episoden nach.13

Das Sterben Jesu bezeichnet der Erzähler mit dem Verb ἐκπνέω als das Aushauchen des Geistes (15,37). Die Frage, wohin das Pneuma im Moment des Todes Jesu entweicht, findet ihre Antwort in den Worten des Centurio in 15,39.14 Sein Begreifen der Gottessohnschaft Jesu macht ihn als Empfänger des Geistes kenntlich. Der Jesus bei der Taufe senkrecht von oben verliehene Geist hat sich mit seinem Tod horizontal unter die Menschen auszubreiten begonnen. Er wirkt als die bleibende heilsame Gabe über die Phase des irdischen Lebens Jesu hinaus weiter.15

In soteriologischer Hinsicht ist Jesus bei Markus der Ermöglicher eines gelingenden Lebens. Das Bild von menschlicher Gottesgemeinschaft in körperlicher Unversehrtheit und sozialer Integration beschreibt den Horizont der markinischen Heilserwartung. Jesu Gabe besteht in seinem personalen Einsatz zugunsten bedürftiger Menschen. Dass immer wieder der Bezug auf das unabänderliche Leiden und Sterben dieses Retters hergestellt und auf Zeiten der Verfolgung und Zerstörung vorausverwiesen (13) wird, zeigt die realitätsbezogene Wahrnehmung der conditio humana jen-seits illusionär-enthusiastischer Religiosität. Der Tod bleibt die menschliche Lebensperspektive, auch für Jesus. Zugleich wird dieses Ende in die heilvolle Perspektive des auferweckenden Gottes gerückt.

2.2 Die Gabe der Lehre im Matthäusevangelium

Die Gefährdung menschlichen Lebens durch Unwägbarkeiten prägt das Wirklichkeitsverständnis im Matthäusevangelium. Die Gefahren tragen dabei vielfältige Gesichter.16 Auf Jesus dringen sie im wahrsten Sinne des Wortes bereits mit seiner Geburt ein. Seine Eltern müssen außer Landes fliehen, damit er nicht ermordet wird. Wie sein Lebensweg gleich zu Anfang von Bedrohung gezeichnet ist, so endet er. Am Schluss stirbt Jesus in Jerusalem als Opfer eines Gewaltakts.

Not durch Flucht entsteht aufgrund der Machtbesessenheit des Herodes (2,1–23). Versuchungen des Diabolos, der Größenvorstellungen zu befriedigen verspricht (4,1–11), dringen auf Jesus ein. Alltägliches Sorgen (6,19–34) oder das Richten anderer (7,1–5) verweisen auf Problemzonen im durchschnittlichen Leben. Kleinglaube (8,26; 14,31), Verfolgungen (10,16–23), Zurückweisung aufgrund nationaler Herkunft (15,21–28), Diskrepanz zwischen Worten und Taten (23,3), das Beiseiteschieben der wichtigsten Aspekte des Gesetzes: κρίσις, ἔλεος und πίστις (23,23),17 der Widerspruch zwischen innerer Haltung und äußerem Eindruck (23,26), Katastrophen, die auf das kommende Ende vorausweisen (24,1–31), vorzeitige Ermüdung beim Warten auf das Ende (24,32–25,30), das alles zeigt Menschen in bedrängter Lage.18 Ignoranz gegenüber Bedürftigen (25,31–46) und perfides Verhalten sind allgegenwärtig: Die Hohenpriester und Ältesten wollen Jesus mit List ergreifen und töten; gleichzeitig möchten sie vermeiden, dass durch eine Hinrichtung am Passafest das Volk in Aufruhr gerät (26,5). Bei Petrus klaffen Selbsteinschätzung und Blindheit gegenüber den eigenen Abgründen auseinander: Und wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen (26,35). Die Bereitschaft, gegen Geld Verrat zu üben, demonstriert das Elend menschlicher Verwerflichkeit (27,3) genauso wie der Blutdurst des Pöbels und der Versuch des Pilatus, die Verantwortung für das Todesurteil von sich zu schieben (27,22–26). Selbst nach Ostern melden sich Lug und Trug zurück. Die Hohenpriester versuchen die Auferstehungsnachricht durch Bestechung in die Geschichte eines Leichendiebstahls umzumünzen (28,11–15). Menschen, von allen guten Geistern verlassen, drängen in den Vorhof zur Hölle. Und das Gericht wird kommen (25,31–46).

Neben die äußeren und inneren Bedrängnisse tritt eine weitere Defiziterfahrung. Sie wird als Folie der Verkündigung Jesu in der Bergpredigt transparent.19 Die Einsicht in den Verlust des ungetrübten Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen und die Tatsache, dass die Himmelsherrschaft und ein umfassender Ge­rechtigkeitszustand nur noch als gebrochen erlebt werden, stellen die Voraussetzungen für die Seligpreisungen dar (5,3–10). Diese reagieren darauf, dass das Gemeinschaftsverhältnis in religiöser und sozialer Hinsicht verlorengegangen ist. Gleichzeitig öffnen sie den Blick für den Horizont, der diese Bedürftigkeit heilvoll umfängt. Direkt zugesagt ist die βασιλεία τῶν οὐρανῶν zwar den Armen τῷ πνεύματι und den um der δικαιοσύνη willen Verfolgten. Aber als Ring um alle acht Seligpreisungen geben die Himmelsherrschaft und die Gerechtigkeit den Rahmen für alles ab, was darüber hinaus an Leidensfähigkeit und Gerechtigkeitssehnsucht erhofft, und ebenso für das, was durch Sanftmut, Barmherzigkeit, Herzensreinheit und Friedfertigkeit geschaffen wird. Erlittene Not wie gelingendes Leben stellt der matthäische Jesus in die umfassende Himmelsperspektive der Herrschaft Gottes. Angesichts der inneren Einheit von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit stellt es daher eine Verkürzung dar, wenn in der Debatte um das matthäische Gerechtigkeitsverständnis die eschatologische bzw. chris-tologische und die ethische Interpretation zu Alternativen erklärt werden. 20 Der Gedanke, dass der matthäische Jesus primär ein ethisches Verhalten einfordert, ist unter der Voraussetzung des faktisch erlebten Gerechtigkeitsverlusts zwar nachvollziehbar. Vor dem Hintergrund, dass der geglaubte Zusammenhang von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit den bleibenden Referenzrahmen abgibt, zielen der Zuspruch wie die Forderung von Gerechtigkeit allerdings auf die Rückkehr in ein nach wie vor bestehendes und von Gott selbst gestiftetes Relationsgeschehen zwischen Himmel und Erde.21

Unter dieser Voraussetzung ist es gleichfalls nicht zweckvoll, im Widerspruch gegen die ethische Deutung eine Exklusivität der Ge­rechtigkeitserfüllung für Jesus zu postulieren;22 denn zwar stellt in der erzählten Welt die Erfüllung des Gesetzes durchaus ein Alleinstellungsmerkmal für Jesus dar. Aber der umfassende Sinnzusammenhang von βασιλεία τῶν οὐρανῶν und Erfüllung des Gotteswillens impliziert, dass in die δικαιοσύνη mit Jesus auch die Glaubenden einbezogen sind.23 Der damit verbundene Tataspekt, der verschiedentlich zum Differenzmerkmal gegenüber dem paulinischen Glaubensbegriff erklärt wird,24 sollte nicht zum Werk herabgestuft werden. Gottesbeziehung und zwischenmenschliches Verhalten stehen in einem unlöslichen inneren Zusammenhang. Gerechtigkeit auf Seiten der Menschen ist »das dem Willen Gottes entsprechende Verhalten«25. Sie ist ebenso wenig eine exklusiv ethische Handlungsweise wie eine vom Verhalten zu abstra-hierende rein innerliche Einstellung. Gerechtigkeit als Ausdruck einer Glaubenshaltung wird getan,26 so gewiss auch der paulinische Glaube als Tat gelten darf. Polarisierungen auf der Ebene der Begriffssprache lassen sich zwar schon in Jak 2 beobachten und sind seit der Reformation Tradition geworden.27 Aber der gemeinsame Sachverhalt besteht darin, dass Glaube als eine Lebenshaltung mit Tatcharakter die Rückkehr in den Ursprungszustand des intakten Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Gott und Mensch sowie un­ter den Menschen bedeutet.28

Vor diesem Hintergrund erhält der matthäische Bezug auf die theologische Tradition Israels resp. der Umgang Jesu mit der Tora seinen Sinn.29 Hier versucht Matthäus ein weiteres Mal, einer krisenhaften Entwicklung entgegenzuwirken. Er stellt sich dem Eindruck entgegen, die religiöse Tradition Israels könnte ihre Lebendigkeit und ihre erschließende Kraft für die Rückkehr in das durch Gerechtigkeit gekennzeichnete und unter der Herrschaft Gottes stehende Gemeinschaftsverhältnis verloren haben. Nicht hinnehmbar sei auch, wenn der Rekurs auf die Tora als Alibi für sozial unverträgliches Verhalten missbraucht wird. Ebenfalls gelte es, der Versuchung zu widerstehen, sich durch den formalen Rekurs auf Althergebrachtes der Verantwortung gegenüber der Situation und der ethischen Herausforderung in Gestalt der eigenen Mitmenschen zu entziehen.

In den Antithesen der Bergpredigt tritt Jesus in radikalisierter, d. h. an den intentionalen Ursprung der Überlieferung zurückführender Weise für die Wiederherstellung des Situationsbezugs traditioneller religiöser Normen ein. Der zu seinem eigenen Schaden lebende Mensch hat versäumt, seine religiöse Tradition zu reaktualisieren. Der Bergprediger übernimmt diese hermeneutische Aufgabe. Er führt vor, wie die Vergegenwärtigung für die Jetzt-Zeit des Matthäus aussieht. Zwischen alt und neu müssen die Horizonte neu verschmolzen30 und die Leben stiftenden Potentiale der Überlieferung erneut freigesetzt werden. Auf diese Weise bringt Jesus die Tora zur Erfüllung. Die Vorstellung der Pharisäer und Schriftgelehrten von Gerechtigkeit greift hingegen zu kurz. Die Kritik Jesu in 5,20 zielt nicht auf eine quantitative Steigerung der Gerechtigkeit. Gefordert ist ein qualitatives Umdenken. Die bessere Gerechtigkeit ist die von Jesus »zur Geltung gebrachte ›Gerechtigkeit Gottes‹«,31 die an das himmlische Herrschen Gottes gebunden ist. Das Ziel der matthäischen Denkbewegung über die Gerechtigkeit liegt darin, die Vorstellung von der Gerechtigkeit davor zu bewahren, ihre Transparenz für die Herrschaft Gottes zu verlieren. Die δικαιοσύνη wird der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen. Sie gehört in die Himmelssphäre Gottes und ist zugleich die Kontaktzone, in die der Mensch in seinem Bemühen um die Gottesbegegnung eintritt.

Abgesehen von seiner Tätigkeit als Traditionsausleger und Hermeneut vertritt der matthäische Jesus seine Botschaft auch direkt in eigenen ἐντολαί. Wie bei seiner Toraauslegung geht es in diesen vielfältigen religiösen Einzelhinweisen um die Darlegung des Willens Gottes. Die Fülle von Einzelregularien bekundet freilich auch das Bemühen, der Vielgestaltigkeit von Wirklichkeitserfahrungen an möglichst vielen Stellen normativ zu begegnen. In der Dominanz des Redens und der Inhaltsvermittlung in Form lehrhafter Sätze wird darüber hinaus die Bedeutung des kognitiven Zugangs zum Glauben im Matthäusevangelium sichtbar.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Weisungen Jesu und den Geboten der Tora des Mose löst Matthäus nicht konfrontativ.32 Die Weisungen Jesu bringen vielmehr unmittelbar zum Ausdruck, was die Mosetora in der Interpretation des matthäischen Jesus ebenfalls bereits zu sagen intendiert hat. Insofern stehen die ἐντολαί Jesu ihrem Selbstverständnis nach in Kontinuität zur Tora.33

Die Belehrung über den Glauben ist ein dominantes Kennzeichen des matthäischen Jesus. Demgegenüber könnte man kritisch einwenden: Wo viel über den Glauben gelehrt wird, erfährt man etwas über die Lehre vom Glauben, aber nicht zwangsläufig etwas über den Glauben selbst. Willi Marxsen hat hierin das matthäische Dilemma gesehen. Die Christozentrik des Matthäusevangeliums führe zu einer Jesusdarstellung aus ungezählten Fingerzeigen, die darauf zielten, die Person Jesu zu exponieren. Allerdings versetze dieses Verfahren Jesus letztlich in splendid isolation und führe nicht ohne Weiteres zurück in die Wirklichkeitsbewältigung der Glaubenden.34

Gleich der Eingangssatz in die matthäische Evangelienschrift bekundet in der Tat die christologische Konzentration des Werkes. Aus der markinischen Eröffnung ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ wird bei Matthäus das »Buch von der Entstehung Jesu Christi«.35 Jesu Einbettung in die Geschichte Israels und sein auf Abraham zurückführender Stammbaum zeigen seine Besonderheit an. Die Reflexionszitate kehren seine Einbindung in Gottes Geschichte mit Israel heraus. Sein rhetorisches Talent, das er in den fünf großen Redekomplexen unter Beweis stellt, seine hermeneutischen Fähigkeiten als vollmächtiger Ausleger und Erfüller der Tora, die Vielzahl seiner Wundertaten,36 die ethischen Impulse, die er mit den spektakulären Aktionen Jesu verknüpft, seine didaktische Kompetenz, die in seinen Gleichniserzählungen zum Ausdruck kommt und die nicht zuletzt darin sichtbar wird, wie er in Mt 13,13 die markinische Parabeltheorie zurechtrückt – alles dient der Profilierung der einzigartigen Persönlichkeit Jesu durch Matthäus. Dass der matthäische Jesus als Pädagoge dem markinischen überlegen ist, wird auch in seiner Reaktion auf das Christusbekenntnis des Petrus in Mt 16,13–20 deutlich. Aus pädagogischer Perspektive hat Jesus in Mk 8,30 und 33 die Jünger und Petrus brüskiert. Seine Reaktion auf die an sich richtige Antwort des Petrus ist schroff und abweisend. Bei Matthäus hingegen zeigt Jesus Empathie und Wertschätzung. Petrus wird bestätigt und gelobt, seine Aussage unterstrichen. Darüber hinaus wird seine Antwort durch ein Versprechen für die Zukunft honoriert. Auch die matthäische Passions- und Ostergeschichte festigt den außerordentlichen Rang Jesu bei Matthäus. Die Umstände bei seiner Hinrichtung und Auferstehung zeigen: Die Kräfte des Kosmos sind auf der Seite Jesu. Die Erde bebt, die Gräber tun sich auf, Tote erstehen auf. Apokalyptische Szenen spielen sich ab (27,52–54). Matthäus scheut sich nicht, die himmlische Machtdemonstration bis an den Rand dogmatischer Korrektheit auszureizen. Schon zwei Tage vor Jesu eigener Auferstehung stehen die verstorbenen Heiligen in ihren Gräbern auf. Damit wird freilich ein kreuzestheologischer Akzent gesetzt, der dem des Markus und selbst dem eines Paulus nicht so fern steht: Das Sterben Jesu bewirkt die Auferstehung anderer Menschen. Der matthäische Karfreitag verknüpft wie der markinische den Tod Jesu mit einer Heilsaussage. Am Ostersonntag schließlich sitzt ein Engel demonstrativ auf dem weggerollten Stein. Wieder bebt die Erde (28,2). Die Botschaft ist deutlich: Die Macht des Himmels steht hinter Jesus. Alle diese Facetten antworten in ihrer Gesamtheit auf die matthäische Frage: ποταπός ἐστιν οὗτος (8,27)?

Die matthäische hommage an Jesus stellt vor die Frage:37 Kann eine solche Hochstilisierung der Person Jesu den Leserinnen und Lesern soteriologische Gewissheit vermitteln?38 Der Skepsis Marxens entgegenhalten lässt sich: Die Zuschreibungen und Attribute, die dem matthäischen Jesus zuteilwerden, begründen zwar eine personale Christologie, die primär der Sicherung der Qualität39 des Traditionshermeneuten Jesus dient. Allerdings bildet das nur die Grundlage für das soteriologisch relevante Werk Jesu. Dieses besteht darin, auf dem Weg der Rückgewinnung und Neuerschließung der jüdischen Lehrüberlieferung einen Beitrag zur soteriologischen Be­wältigung einer Wirklichkeit zu leisten, deren Anfechtungen und Bedrohungen in vielfältiger Weise sichtbar werden. Darüber hinaus wird sein Tod zur Initialzündung für eine neue Lebenswirklichkeit im Zeichen der Auferstehung (27,52–53; 28,7).

2.3 Die Gabe der Selbsterkenntnis im Lukasevangelium

Lukas schreibt das Evangelium der Rückbezüglichkeit. Der Bezug auf Vorwissen, die Anknüpfung an Bekanntes, die Erinnerung an erlernte Inhalte und die Rückkehr zum eigenen Ursprungsort sind die Signatur des dritten Evangeliums.40 Der lukanische Rekurs auf die Vergangenheit dient der Reorientierung in der Gegenwart. Im Vorgang der Aneignung der Tradition äußert sich die lukanische Idee vom heilsamen Leben.

Darstellungsleitend für das Lukasevangelium ist der Wunsch nach Optimierung gegenüber den Vorgängerwerken. Deren Un­vollkommenheit stellt der Prolog (1,1–4) Kriterien entgegen, die die Qualität der Inhalte verbürgen sollen. In Verbindung mit sorgfältiger Recherche, gestützt auf Augenzeugen und im Glauben verankerte Verkündiger, sollen diese Merkmale zu einer διήγεσις führen, die die gegenwärtige Katechese auf verlässliche Grundlagen stellt.

Die durch die drei Adverbien ἄνωθεν, ἀκριβῶς, καθεξῆς und das Indefinitpronomen πᾶσιν charakterisierte Untersuchung soll gewährleisten, dass dem geschätzten Gottesfreund die angestrebte ἀσφάλεια zuteilwird.41 Das lukanische Bestreben zielt auf die Sicherung des Erreichten. Von vorn an (ἄνωθεν) schildert Lukas über die Markusvorgaben hinaus die vorgeburtlichen Ereignisse in der Familie Jesu wie der des Täufers. Über den Stammbaum Jesu in 3,23–38 führt er den Rahmen der Erzählung durch die gesam-te Menschheitsgeschichte zurück bis auf Gott. Vollumfänglich (πᾶσιν) und eben nicht selektiv wie die – aus seiner Sicht – defizitären Vorgängerwerke, hat er sich kundig gemacht. Damit spielt der Erzähler auf seine diversen Zusatzüberlieferungen an. Und er dehnt den Bogen seiner Darstellung auf die Ereignisse aus, die auf den Tag der Auferstehung Jesu folgen.42 Exaktheit (ἀκριβῶς) der Darstellung und Genauigkeit der Reihenfolge (καθεξῆς) garantieren die detailgetreue Verlässlichkeit. Inhalt und Form sind auf die größtmögliche Perfektion hin ausgerichtet. Beide entsprechen einander in ihrem Maximalanspruch. Das vollständige und richtige Wissen soll die Sicherheit im Blick auf die Lehrgrundlagen verbürgen. Die in dieser Weise durchgearbeitete Jesusgeschichte soll die Stabilisierung der bereits grundgelegten Lehre gewährleisten. Das Fundament ist laut V. 4 durch die Unterweisung der Worte gelegt. Deren Absicherung dient die anschließende Gesamterzählung. Sie basiert auf überprüften Fakten und der exakten Reihenfolge der geschilderten Ereignisse. Vollständige Information und geordnete Präsentation gelten als Garanten der Sicherheit.

In seiner Erzähldynamik weist das Lukasevangelium nach vorn. Die Jesusgeschichte dauert länger als bei Markus, der Ostertag dehnt sich, und die Himmelfahrt ist noch Teil der erzählten Welt.43 Neben diesem nach vorn deutenden Grundzug des lukanischen Werks steht freilich ein zweiter Richtungspfeil, der zurück weist. Der Kenntnis der vorherigen Geschichte, der Zeit davor, kommt bei Lukas tragende Bedeutung für die Gegenwart zu. Die Gegenwart gründet auf einer qualifizierten Vergangenheit. Die Denkbewegung, die der Prolog benennt – gegenwärtige ἀσφάλεια durch den Rekurs auf Vergangenes und Bekanntes zu erreichen –, findet ihre Parallele in der Struktur vieler lukanischer Einzelerzählungen.

Das Bedürfnis des Erzählers, Ergebnisse zu sichern, durchzieht das Lukasevangelium wie ein roter Faden. Das Motiv der Anknüpfung an vorgängig Bekanntes ist ein Charakteristikum der lukanischen Erzählweise. Michael Wolters These, derzufolge das lukanische Doppelwerk die »Geschichte der Trennung von Christentum und Judentum erzählt«,44 und zwar aus jüdischer Erzählperspektive »als eine Epoche der Geschichte Israels«,45 deckt sich mit der in Einzelfacetten zu beobachtenden lukanischen Tendenz, einen gegenwärtigen Sachverhalt unter Rekurs auf seine Vorgeschichte als plausibel darzustellen.

Bereits die Antrittspredigt Jesu in 4,16–30 lässt dieses Muster erkennen. In der Synagoge als dem traditionellen Ort des jüdischen Gottesdienstes liest Jesus aus dem Buch des Propheten (Trito-)Jesaja. Der Erzähler stellt auf diese Weise das Programm Jesu in die Kontinuität zur prophetischen Vorgeschichte Israels.46 Kein brandneuer Verkünder wird inszeniert.47 Jesus nimmt als Geistträger in An­spruch, in seiner Person erfülle sich die Schrift. In der erzählten Welt führt das zur Empörung der Anwesenden. Gleich Jesu erstes öffentliches Auftreten eröffnet damit die Passionsperspektive. Für die Erzählwelt der lukanischen Zeit ist dies ein Verweis darauf, dass Jesus für den Brückenschlag zwischen der prophetischen Wahrheit und der auf ihn als den Christus bezogenen Missionsverkündigung steht. Das Neue ruht auf den Schultern des Alten.

Die Folie der lukanischen Jesuserzählung ist eine Welt der Kontraste. In ihr kollidiert vieles unvermittelt und scheint nicht zusammenzupassen. Bereits in Lk 1–2 prasseln die Unvereinbarkeiten aufeinander. So werden in der Figur Jesu königliche Attribute mit einem niedrigen sozialen Status kombiniert. Die diversen Verkehrungen gesellschaftlicher Wertvorstellungen in der lukanischen Vorgeschichte lassen sich als Nachhall kynischer Tradition und der menippeischen Satire lesen.48 Da Jesu Herrschaft auf Weisheit beruht, schadet es seiner Bedeutung nicht, in einem Stall geboren zu sein. Dass himmlische Heere in Kontakt zu Viehhirten treten, ist ein Novum.49 Der Regelfall ist, dass Gottesboten in Verbindung mit ausgezeichneten Persönlichkeiten treten.

Auf seinen Wanderungen wird Jesus mit Krankheit und Tod und der Armut und Not vieler Menschen konfrontiert (7,11–17; u. a.).50 Reichtum als die andere Seite sozialer Wirklichkeit wird von ihm wiederholt wegen des ihm innewohnenden Gefahrenpotentials thematisiert (12,13–21; 15,11–32; 16,1–12; 16,19–31; 18,18–27; 19,11–27). Integrierte Persönlichkeiten wie der Richter und der Pharisäer stehen an den Rand gedrängten Menschen wie der Witwe und dem Zolleinnehmer gegenüber (Lk 18,1–14). Ein Ziel der Erzählungen liegt darin, bewusst zu machen, dass die schwächere Seite in der Gefahr steht, verlorenzugehen. Der lukanische Jesus verweist die beati possidentes im Gegenzug auf die Vergänglichkeit ihrer privilegierten Position.51 Sein soteriologisches Anliegen richtet sich auf die Integration von üblicherweise ausgegrenzten Personen.

In einer Welt mit suboptimalen Zuständen und prekären Verhältnissen52 steht der lukanische Jesus permanent vor der Aufgabe, Personen und deren missliche Lebenslagen zu bessern. Das Stichwort für den gewünschten Neuanfang heißt μετάνοια53 – Sinnesänderung.54 Dem Wunsch nach Kurskorrektur liegt eine Anthropologie zugrunde, die den Menschen als »corrigendus«55 ansieht. Die Chance auf Rettung steht allen offen, die bereit sind, in sich zu gehen und ihr Leben zu ändern. Als Störfaktoren eines gelingenden Lebens gilt, wenn Menschen hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben (18,23), falsche Wege gehen (15,11–32) und das zu spät erkennen (16,19–31), in beruflich-biographischen Sackgassen stecken (18,9–14; 19,1–10) oder Fehlentscheidungen treffen (23,34). Alle erzählten Episoden dienen dazu, Richtungswechsel bei der Leserschaft zu initiieren. 56

Eine erkenntnistheoretische Schlüsselszene im Lukasevange-lium ist der Wortwechsel Jesu mit einem Gesetzeskundigen in 10, 25–28. Auf die Frage: »Was soll ich tun, damit ich ewiges Leben er-erbe?« reagiert Jesus statt mit einer Antwort mit der doppelten Gegenfrage: »Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du?« Jesus verweist den νομικός an seine eigenen Voraussetzungen. Seine Rückfragen zielen auf die Selbsterkenntnis des Fragestellers. Via Erinnerung57 verhilft Jesus seinem Gegenüber zur Einsicht. Dessen prompte Antwort bestätigt den Erfolg des Verfahrens. Die Selbsterkenntnis ist in den Status des Wissens übergegangen. Dem setzt Jesus einen Handlungsimpuls hinzu.

Die Trias aus Selbsterkenntnis, Wissen und Handeln reflektiert die Struktur der sokratischen Maieutik. Angesichts der Frage nach dem ewigen Leben offenbart Jesus nicht eine bisher unbekannte neue Botschaft. Stattdessen reaktiviert er die vorhandenen Quellen der Erkenntnis und das mitgebrachte Wissen. Rückbezüglichkeit und Erinnerung bilden für den lukanischen Jesus die Grundlagen auf dem Weg zur Erlösung.58

Ein Paradigma lukanischer Soteriologie ist die Parabel von der Heimkehr des verlorenen Sohnes in 15,11–32. Bereits das narrativ entfaltete Motiv der Rückkehr in die Heimat bildet die Thematik der Reflexivität ab. Kontrovers diskutiert wird die Frage nach dem Verhältnis von Reue und Annahme in dieser Szene. Ist die Selbsterkenntnis des jüngeren Sohnes in V. 18.19 konstitutiv für die An-nahme durch den Vater in V. 20,59 oder erfolgt die Wiederaufnahme bedingungslos, zumal der Vater die bedauernden Worte seines Sohnes ja erst nach der Umarmung zu hören bekommt (V. 21)?60 Eine Polarisierung lässt sich bei Beachtung der Erzählperspektive vermeiden. Innerhalb der erzählten Welt werden zwei Akzentuierungen vorgenommen.61 Der eine Fokus liegt auf der Selbstwahrnehmung des im Unheil versunkenen Sohnes. Er will seinem Vater un­geschönt seine Verfehlung eingestehen (V. 18.19). Der zweite Akzent liegt auf dem davon unberührten Verhalten des Vaters. Er läuft seinem Sohn einzig aus eigenem Antrieb entgegen. Aus der Perspektive der Gesamterzählung folgt daraus: Ohne die Beteiligung des Sohnes ist keine Begegnung mit dem Vater möglich, so gewiss der Akt der Annahme unabhängig von der inneren Haltung des Sohnes bleibt. Die Selbsterkenntnis auf der einen Seite und die bedingungslose Annahme auf der anderen stehen erzählerisch in keinem Abhängig keitsverhältnis. Sie fallen jedoch ineinander. Auf der Ebene des Erzählers bildet das eine mit dem anderen eine Einheit.

Diese Koinzidenz bestätigt die Erzählung vom Pharisäer und Zöllner in 18,9–14. Der Blick des betenden Pharisäers geht buchstäblich von sich selbst weg. Er richtet sich auf die Personen, von denen er sich abgrenzt.62 Der Zöllner bleibt im Unterschied dazu gedanklich und mit seiner Blickrichtung bei sich selbst.63 Seine Bitte um Gnade ist Ausdruck seiner Selbsterkenntnis und des Bewusstseins der eigenen Situation vor Gott. Ihm wird das Votum Jesu zuteil, ein von Gott Gerechtfertigter zu sein. Die Wahrnehmung seiner selbst und das Verhältnis Gottes zu ihm fallen ineinander.

Beide Erzählungen dokumentieren ein austariertes Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität auf Seiten der Protagonisten. Weder die Selbsterkenntnis des Sohnes in der Fremde noch die spontane Äußerung des Zolleinnehmers dienen strategischen Zielen. Über ihre Annahme verfügen weder der jüngere Sohn noch der einsichtige Zöllner. Beide sind in soteriologischer Hinsicht Empfangende.

Unter anthropologischer Perspektive präsentiert Lukas eine Theologie der Selbstfindung des Menschen. Wer zu sich selbst zurückkehrt (15,18.19) oder bei sich selbst bleibt (18,12), der ist auch von Gott gefunden.64 Unter theologischer Perspektive kommt darin eine Suchbewegung Gottes zum Ziel. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis im Sinne des Von-Gott-erkannt-Werdens fallen ineinander. Sie bilden bei Lukas die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

In puncto Soteriologie meldet sich in der wechselseitigen Durchdringung von menschlichem und göttlichem Handeln ein hellenis-tisches Erbe an, das letztlich auf das γνῶθι σαυτόν des Orakels von Delphi und die Worte des Arat aus Apg 17,28 zurückführt. Das Leitthema von verlorengehen und gefunden werden bei Lukas verweist auf eine ausbalancierte Relation von Aktivität und menschlicher Passivität. Ohne die tätige Teilnahme der Menschen, denen Heil widerfährt, kommt es nicht zu der Erfahrung des befreienden Wirkens Jesu bzw. Gottes. Zugleich verfügen die Menschen nicht darüber, dass ihnen die göttliche Zuwendung zuteilwird.

II Das Geschenk der Zuwendung in den synoptischen Evangelien


Im Markusevangelium ist die Wirklichkeit ein Ort des Konflikts und des beschädigten Lebens. Sie ist der Schauplatz des Kampfes zweier widerstreitender Geister. Jesus tritt als derjenige auf, der den Geist Gottes unter den Menschen ausbreitet und sie in die heilsame Gottesbeziehung zurückführt. Für das Matthäusevangelium ist die Wirklichkeit ein Hort der Gefährdung durch unwägbare Widrigkeiten. Jesu heilsame Lehre zielt darauf, das menschliche Leben in den alles umschließenden Horizont der durch Gerechtigkeit qualifizierten göttlichen Himmelsherrschaft zurückzustellen. Verlusterfahrung prägt die Wirklichkeitswahrnehmung des Lu­kasevangeliums. Dem sollen die Bewahrung und Neuausrichtung der Überlieferung wehren. Traditionsaneignung und Selbsterkenntnis als Grundlage für sicheres Wissen und hilfreiches Handeln sind die Mittel, auf die der lukanische Erzähler seinen Protagonisten Jesus setzen lässt.

Ein signifikanter Zug aller drei synoptischen Jesuserzählungen ist der Bedrohungscharakter der Wirklichkeit, dem das menschliche Leben ausgesetzt ist. Auf seine Bewältigung richtet sich das soteriologische Anliegen. Während nach Paulus der Mensch sich selbst als Ressource der Erlösung abhanden gekommen ist,65 gilt hinsichtlich der Anknüpfungsmöglichkeit der Erlösung beim Men­schen für Matthäus und Lukas: Die anthropologische Basis ist zwar beschädigt. Sie ist aber nicht in derart desaströser Verfassung, dass eine Restitution unmöglich wäre. Bei Markus lautet die Antwort auf die Frage, unter welcher Bedingung der Mensch überhaupt in der Lage ist, ein gnädiges Geschenk resp. geschenkte Gnade anzunehmen: indem ihm ein Geist verliehen wird, den er sich selbst nicht geben kann.

Trotz ihrer Differenzen untereinander stimmen die synoptischen Evangelien darin überein, dass der Ansatz für ihre Soteriologien in dem Akt der Zuwendung besteht. Unisono wird in dem Verhalten Jesu die Bewegung Gottes zum Menschen abgebildet. Dieser Vorgang heilsamer Relationierung markiert das Verhältnis zur Wirklichkeit und macht zugleich die besondere Qualität der durch Jesus erschlossenen Wirklichkeit aus.

Abstract


The synoptic narratives of the life of Jesus show three specific soteriological interpretations of reality. Although they agree that human life may develop in a salvific manner, they present Jesus in their own way. In the Gospel of Mark the world is a battle-field of two hostile powers. Jesus acts as God’s agent bringing God’s spirit among the people and driving out the evil spirit of satan. The gift of Jesus is his engagement for those in need. In the Gospel of Matthew the endangerment of life is characteristic for the understand-ing of reality. Jesus lives under a constant threat. In this situation he tries to reactualize theological traditions of Israel to win back God’s »better justice«. Matthew depicts him as a hermeneut of traditional knowledge.

In the Gospel of Luke Jesus is the teacher of self-knowledge. He appeals to the past in order to give orientation in the presence. From an anthropological perspective Luke presents a theology of human self-discovery. From a theological point of view, God’s search of man comes to the goal. Regardless of their differences, the three presentations of Jesus share the conviction that the attention to the human being is the basis of soteriology.

Fussnoten:

1) Überarbeitete Fassung eines ursprünglich unter dem Titel »Gift und Grace in den synoptischen Evangelien. Soteriologische Ansätze bei Markus, Matthäus und Lukas« gehaltenen Vortrags in der von Christof Landmesser und Mark A. Seifrid geleiteten Seminargruppe »Inhalte und Probleme einer neutestamentlichen Theologie« beim »71st General Meeting of the SNTS« an der McGill University Montreal am 4.8.2016.

Die jetzige Titelformulierung erfolgt in Anlehnung an U. H. J. Körtner, Dogmatik, Leipzig 2018, Lehrwerk Evangelische Theologie, Bd. 5. Die »soteriologische Interpretation der Wirklichkeit« (aus der Überschrift von Kapitel 1) bzw. die »Erschließung der Wirklichkeit« (Überschrift Kapitel 2) bildet die erkenntnisleitende Mitte von Körtners Darstellung. Ich danke Ulrich Körtner, dass ich das Werk bereits vorab als Manuskript lesen durfte, und widme ihm diesen Aufsatz zum 60. Geburtstag, den er im letzten Jahr feierte.
2) Zu dieser Formulierung s. Körtner, Dogmatik, Überschrift Kapitel 1.
3) Ch. Metzdorf, Die Tempelaktion Jesu. Patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich, WUNT 2/168, Tübingen 2003, 259.
4) Metzdorf, Tempelaktion, 261.
5) Metzdorf, Tempelaktion, 258.
6) Metzdorf, Tempelaktion, 263.
7) Lk 1,30; 2,40.52; 4,22; 6,32–34; 17,9.
8) J. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, Michigan/Cambridge, U. K. 2015, verwendet den Begriff gift (Gabe/Geschenk) als eine Leitkategorie, der er grace ein- und unterordnet. Auf diese Weise will er in seiner Paulusdarstellung einem seiner Meinung nach reformatorisch-konfessionell verengten Zugang zur paulinischen Gnadentheologie entgegenwirken.
9) Zum Gewicht der Geistthematik für das Verständnis des Markusevangeliums und ihrer Bedeutung für das Verständnis der Gottessohnschaft Jesu vgl. J. E. Aguilar Chiu, A Theological Reading of ἐξέπνευσεν in Mark 15:37,39, in: CBQ 78 (2016), 682–705, und J. E. Aguilar Chiu, Jésus ou le »Fils de Dieu« (Mc 1,1) dans le cadre historique et la structure narrative de l’évangile de Marc, in: J. E. Aguilar Chiu/K. J. O’Mahony/M. Roger (Eds.), Bible et Terre Sainte. Mélanges Marcel Beaudry, New York u. a. 2008, 219–232, 227.232.
10) Zur Verbindung zwischen Jesus, der von ihm verkündigten Reich-Gottes-Botschaft und Gott vgl. J. U. Beck, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016, 277–296.
11) Vgl. G. Klein, Der Mensch als Thema neutestamentlicher Theologie, ZThK 75 (1978), 336–349, 340–342.
12) Zu vergleichen ist auch 6,45–52.
13) Vgl. dazu ausführlich P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 63–99.
14) »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.«
15) Vgl. im Einzelnen P.-G. Klumbies, Das inszenierte Sterben Jesu, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 50–70, 53–61.
16) Zu den machtpolitischen und sozio-ökonomischen Hintergründen unter der römischen Herrschaft vgl. W. Carter, Matthew: Empire, Synagogues, and Horizontal Violence, in: E.-M. Becker/A. Runesson (Eds.), Mark and Matthew I. Comparative Readings: Understanding the Earliest Gospels in their First-Century Settings, WUNT 271, Tübingen 2011, 285–308, bes. 298–303.
17) Vgl. Ch. Landmesser, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9–13, WUNT 133, Tübingen 2001, 141.
18) U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, Düsseldorf/Zürich/Neukirchen-Vluyn 2002, 465, spricht von einer »›inklusiven Geschichte‹«, in der Jesu Schicksal mit dem seiner Jünger und den Erfahrungen der Gemeinde verflochten ist.
19) Im Matthäusevangelium können die »Verkündigung vom Reich und die Lehre vom gottgewollten Handeln nicht voneinander getrennt werden«. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich/Neukirchen-Vluyn 31992, 183.
20) U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 166, betont in seiner Auslegung des matthäischen Gerechtigkeitsverständnisses einseitig den menschlich-ethischen Aspekt. Gerechtigkeit »ist für Matthäus […] das, was Gott in seiner Liebe vom Menschen verlangt. ›Gerechtigkeit‹ meint den menschlichen Weg, den die Jünger/innen Jesu zu gehen haben«. Zur Darlegung der Differenz vgl. die »Kontroverse: ›Gerechtigkeit‹ bei Matthäus: Ethisch oder christologisch?« zwischen R. Deines, Gerechtigkeit, die zum Leben führt. Die christologische Bestimmtheit der Glaubenden bei Matthäus, ZNT 36 (2015), 46–56, und M. Vogel, Die Ethik der ›besseren Gerechtigkeit‹ im Matthäusevangelium, ZNT 36 (2015), 57–63. – Statt auf synchroner Ebene über eine Alternative zwischen Ethik und Soteriologie, Indikativ und Imperativ zu diskutieren, plädiert W. Popkes, Die Gerechtigkeitstradition im Matthäus-Evangelium, ZNW 80 (1989), 1–23, 3, für die diachronisch-formgeschichtliche Rückfrage, »um an den Wurzelboden der matthäischen Gerechtigkeitstradition zu gelangen«. Nach Popkes’ Auffassung bezieht »sich Matthäus auf frühchristliche Tauf- bzw. neophytenkatechetische Tradition« (5). Das Verhältnis zwischen eschatologischer und ethischer Auslegung im Blick auf die Namensheiligung in der ersten Vaterunserbitte untersucht K. Juschka, »Geheiligt werde dein Name«. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung zur Namensheiligung im Vaterunser, ABG 50, Leipzig 2015, hier 329–358 und 359–437.
21) Zutreffend P. Fiedler, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 84: Der »einheitliche Verstehens-Horizont« hinsichtlich der Gerechtigkeit der Jünger und der Gottes ergibt sich daraus, dass die Gerechtigkeit »sich primär von Gottes Verhalten her (bestimmt)«. »Wenn sich der Mensch in seinem Verhalten davon bestimmen lässt, dann ist er selbst einer, der Gerechtigkeit verwirklicht […]. Auf diese Weise ist die menschliche Gerechtigkeit von derjenigen Gottes nicht zu trennen, sondern ist und bleibt durch sie gestiftet und ermöglicht.« »Dieser einheitliche Verstehens-Horizont ist bei Mt christologisch akzentuiert.«

Gegen die Reduzierung der δικαιοσύνη auf den ethischen Aspekt und für den bleibenden Zusammenhang mit der Theologie vgl. auch K.-W. Niebuhr, Gerechtigkeit und Rechtfertigung bei Matthäus und Jakobus. Eine Herausforderung für gegenwärtige lutherische Hermeneutik in globalen Kontexten, ThLZ 140 (2015), 1329–1348, 1341. Vgl. auch Ch. Landmesser, Gerechtigkeit und Leben. Ambiguität und Ambivalenz eines Grundbegriffs bei Matthäus und Paulus, in: Ch. Landmesser/E. E. Popkes (Hrsg.), Gerechtigkeit verstehen. Theologische, philosophische, hermeneutische Perspektiven, Leipzig 2017, 51–70, der von der »relationalen Dimension der Gerechtigkeit« (62) spricht, der »die soteriologische Dimension« (63) vorausgehe.
22) Vgl. R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 128.132, in Anknüpfung an Mt 3,15. Zur Beziehung zwischen Tora und Taufe bei Mt vgl. E. Lohmeyer, Das Evangelium des Matthäus, hg. v. W. Schmauch, KEK Sonderband, Göttingen 21958, 51: Die »Taufe (ist) die letzte und höchste Forderung, die Gott jetzt zu allen Geboten des Gesetzes noch auferlegt; mit ihr ist dann ›alle Gerechtigkeit erfüllt‹.«
23) Vgl. H. Giesen, Christliches Handeln. Eine redaktionskritische Untersuchung zum δικαιοσύνη-Begriff im Matthäus-Evangelium, EHS.T 181, Frankfurt a. M./Bern 1982, 40.
24) Vgl. Luz, Jesusgeschichte, 165.
25) H.-J. Eckstein, Die ›bessere Gerechtigkeit‹. Zur Ethik Jesu nach dem Matthäusevangelium, ThBeitr 32 (2001), 299–316, 304. Zur Verbindung der Thematik mit Taufe und Passion Jesu vgl. M. Konradt, Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17), in: P. Lampe/M. Mayordomo/M. Sato (Hrsg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium, FS Ulrich Luz, Neukirchen-Vluyn 2008, 257–273, 272: »Übergreifendes Thema ist der Gehorsam des Got- tessohnes. […] Solcher Gehorsam ziemt sich für alle Menschen.« Gleichwohl bleibt Jesu Sonderstatus als Gottessohn von solcher verbindenden Gemeinsamkeit unberührt.
26) Vgl. Niebuhr, Gerechtigkeit, 1341. Vgl. auch U. Luck, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK NT 1, Zürich 1993, 36.
27) Vgl. Niebuhr, Gerechtigkeit, 1329–1336 (zur lutherischen Hermeneutik), sowie 1343–1346 (zum Jakobusbrief).
28) Landmesser, Gerechtigkeit und Leben, 55.62.63, stellt die Verbindung von Gerechtigkeitsthematik, Person Jesu und dem Ertrag für die Glaubenden mit einer christologischen Pointierung her.
29) Vgl. M. Konradt, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, der »die fundamentale Bedeutung der theologischen Tradition Israels« bei Matthäus hervorhebt (393). »(M)aßgebliche Instanz« für die Auslegung der Tora ist »die Unterweisung Jesu als des einen und wahren Lehrers« (380).
30) Sprachliche Anleihe bei H.-G. Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 51986, 311–312.
31) Eckstein, Die ›bessere Gerechtigkeit‹, 307.
32) J. Gnilka, Das Matthäusevangelium. Erster Teil. Kommentar zu Kapitel 1,1 – 13,58, HThK (Ungekürzte Sonderausgabe), Freiburg/Basel/Wien 2000, 147, plädiert berechtigterweise dafür, zwischen »dem Willen Gottes« und »dem Gesetz« keinen Gegensatz zu konstruieren. Der Wille Gottes werde »(n)atürlich« aus dem Gesetz abgeleitet. »Aber zu beachten ist, daß es Jesus ist, der dies tut.« Pointierter ließe sich die Bedeutung der Christologie zum Ausdruck bringen, wenn man sagt: Jesu Auslegung macht die Tora transparent für den hinter ihr stehenden Willen Gottes. Der matthäische Christus ist also gerade nicht »der Tora ›untertan‹« – gegen Fiedler, Matthäusevangelium, 30.
33) Vgl. Eckstein, Die ›bessere Gerechtigkeit‹, 312.
34) W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, Gütersloh 41978, 154: Jesus wird bei Matthäus zum »Bringer« von »›Evangelien‹«. Er ist jedoch »nicht mehr ihr Inhalt«. Vgl. ebenso bereits W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 21959, 92.93.
35) Nach Luz, Mt 26–28, 461, kreiert Matthäus damit eine »neue Grundgeschichte«, »welche die bisherige Grundgeschichte Israels, die biblische Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten und von der Offenbarung Gottes am Sinai, ersetzt«.
36) Im Vergleich zu Markus erzählt Matthäus Jesu Wundertaten meistens knapper. Er konzentriert sie auf das Eigentliche: Jesus erweist umstandslos und ohne Verzögerung seine Macht.
37) Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Hochschätzung Jesu und der Einzigkeit Gottes vgl. die Studie zum Verständnis von προσκυνέω bei Matthäus von J. E. Leim, Matthew’s Theological Grammar. The Father and the Son, WUNT 2/402, Tübingen 2015, 9–12.227–230.240–243.
38) Marxsens Antwort ist eindeutig: Die matthäische Christologie dient »nur mittelbar der Verkündigung […]. Sie hat nicht mehr ein primär soteriologisches Interesse« (Einleitung, 154). – Fast wirkt es so, als werde in dem überdeutlichen Bemühen, Jesus in seiner Besonderheit zu rühmen, ein Mangel an Plausibilität innerhalb der matthäischen Erzählung kompensiert. Auch Landmesser, Jüngerberufung, 2, stellt seine Untersuchung unter »die Frage nach der innermatthäischen Kohärenz seiner christologischen und soteriologischen Ausführungen«.
39) Marxsen, Einleitung, 154, spricht von der »Qualifizierung« und Legitimierung (151.153) des Verkündigers.
40) M. Bauspieß, Geschichte und Erkenntnis im lukanischen Doppelwerk. Eine exegetische Untersuchung zu einer christlichen Perspektive auf Geschichte, ABG 42, Leipzig 2012, 223, spricht von der »Ursprungsgeschichte der Glaubensgemeinschaft«.
41) Vgl. Bauspieß, Geschichte, 218.
42) Angesichts des Vollständigkeitsanspruchs liegt es nahe, in dieses enzyklopädische Programm auch die Apostelgeschichte als Band II bereits eingeschlossen zu sehen, einerlei, ob der Verfasser sie zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellt oder noch als Projekt vor sich hatte.
43) Dass damit der Zeitraum um vierzig Tage verlängert wird, vermerkt allerdings erst Apg 1,3.
44) Vgl. M. Wolter, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 261–289, 270. Hinzuzufügen ist, dass auch eine solche jüdische Erzählperspektive als in erheblichem Maße von hellenistischen Anschauungen durchdrungen anzusehen ist.
45) Wolter, Doppelwerk, 278. Vgl. auch 281–284 und 288. M. Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 27, nennt dafür »drei Merkmale()«: Die Ähnlichkeit mit der »Erzählweise der Septuaginta«, die Deutung der geschilderten Ereignisse »als Erfüllung der heiligen Schriften« und die Verankerung Jesu als des »Messiaskönig Israels […] in der Geschichte Israels«.
46) Vgl. H. J. Sellner, Das Heil Gottes. Studien zur Soteriologie des lukanischen Doppelwerks, BZNW 152, Berlin/New York 2007, 482.
47) Das schließt nicht aus, dass zugleich signifikante Veränderungen der Überlieferungen vorgenommen werden, hier durch Umgestaltung von Jes 61,1–2; vgl. dazu M. Wolter, »Reich Gottes« bei Lukas, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum, WUNT 236, Tübingen 2009, 290–310, 303–304; vgl. Th. Frauenlob, Die Gestalt der Zwölf-Apostel im Lukasevangelium. Israel, Jesus und die Zwölf-Apos-tel im ersten Teil des lukanischen Doppelwerks, fzb 131, Würzburg 2015, 73–81.
48) Vgl. N. Neumann, Lukas und Menippos. Hoheit und Niedrigkeit in Lk 1,1–2,40 und in der menippeischen Literatur, NTOA/StUNT 68, Göttingen 2008.
49) Neumann, Lukas und Menippos, 302–303.
50) Über die von Markus und aus Q übernommenen Szenen in Lk 4,31–41; 5,12–26; 6,6–11; 7,1–10; 8,26–56; 9,10–17; 9,37–43; 11,14; 18,35–43; 21,2–4 hinaus vgl. Lk 7,11–17; 8,1–3; 13,10–17; 14,1–6; 17,11–19; 18,1–8.
51) Beispielsweise mit Hilfe der Erzählungen in Lk 12,13–21; 16,19–31; 18,18–25. Vgl. dazu im Einzelnen N. Neumann, Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie, SBS 220, Stuttgart 2010, 73–83.96–117.
52) Vgl. H. Kramer, Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um »Armut und Reichtum« und den »Umgang mit materiellen Gütern«, NET 21, Tübingen 2015, 331.
53) Vgl. die lukanische Erweiterung der aus der Markusvorlage übernommenen Formulierung am Ende von Lk 5,32.
54) W. Wrede, Μετάνοια Sinnesänderung?, ZNW 1 (1900), 66–69, 67, insis-tierte demgegenüber auf der Bedeutung Buße, Umkehr, Bekehrung. Vgl. dazu die Darstellung bei J. W. Taeger, Der Mensch und sein Heil. Studien zum Bild des Menschen und zur Sicht der Bekehrung bei Lukas, StNT 14, Gütersloh 1982, 142–147. Zur Begriffsbestimmung vgl. auch Sellner, Heil Gottes, 141–143.
55) Den Terminus prägte Taeger, Mensch, 225.
56) Unter Rekurs auf die von G. Sellin, Lukas als Gleichniserzähler, ZNW 65 (1974), 166–189, und 66 (1975), 19–60, eingeführte Bezeichnung »dramatisches Dreieck« (Teil 1: 180) für eine charakteristische narrative Konstellation in den fünf lukanischen Sonderguterzählungen Lk 7,36–50; 15,11–32; 17,11–19; 18,9–14; 19,1–10 beschreibt N. Neumann, Bewegungen im Dreieck: Heil als Begegnung im erzählten Raum des lukanischen Sonderguts, Biblica 97 (2016), 375–394, 376–380.382–384, wie das dritte Evangelium die Distanz zwischen gegensätzlichen Menschentypen und im Verhältnis zwischen Gott und Sündern durch Richtungswechsel im erzählten Raum in eine soteriologische Perspektive umkehrt.
57) Vgl. auch die Bedeutung des Erinnerungsmotivs für die lukanische Ostergeschichte in Lk 24,6.
58) Zu Lk 10,25–28 vgl. P.-G. Klumbies, Der Nachhall hellenistischer Literatur bei Lukas, in: P.-G. Klumbies/I. Müllner (Hrsg.), Bibel und Kultur, Leipzig 2016, 35–50, 44–45.
59) Vgl. Taeger, Mensch, 204–205.
60) So Ch. Landmesser, Die Rückkehr ins Leben nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11–32), ZThK 99 (2002), 239–261, 254.
61) Vgl. Neumann, Bewegungen im Dreieck, 282.
62) Lk 18,11–12: »Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen …«.
63) Lk 18,13: »Der Zöllner … wollte nicht einmal die Augen aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sagte: Gott, sei mir Sünder gnädig.«
64) Die Raumsemantik und die mit ihr verbundenen Richtungswechsel im Raum bilden den inneren Gehalt des Geschehens in der äußeren Visualisierung der Verhältnisse von Nähe und Distanz ab. »(D)ie Raumvorstellung (trägt) […] zur Charakterisierung der auftretenden Figuren […] bei«. Vgl. Neumann, Bewegungen im Dreieck, 384; vgl. auch 386.391.
65) Entsprechend greift sein Sündenverständnis tiefer als das eines Matthäus oder Lukas.