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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

645–646

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Krampitz, Karsten

Titel/Untertitel:

»Jedermann sei untertan«. Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Aschaffenburg: Alibri Verlag 2017. 352 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-86569-247-4.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Karsten Krampitz ist freier Journalist und Publizist in Berlin und wurde 2016 mit einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit zu Oskar Brüsewitz an der Humboldt-Universität promoviert. Sein flott geschriebenes Buch über die evangelische Kirche in Deutschland im 20. Jh., das er im Sommer 2017 in einer dreiteiligen Serie im »Neuen Deutschland« vorstellte, ist eine merkwürdige Mischung aus Schlaglichtern zu einzelnen Personen, Episoden und Aspekten der kirchlichen Zeitgeschichte, Sammlung von Quellentextaus-zügen, journalistischem Essay und Aufarbeitung subjektiver Erfahrungen.
In den zehn Kapiteln seines Buches geht K. chronologisch vor, wobei die Überschriften der Kapitel und Unterabschnitte einerseits insgesamt wenig aussagekräftig sind und andererseits die recht willkürliche Auswahl bestimmter Facetten offenbaren. So ist z. B. das Kapitel über die Zeit 1918 bis 1933 überschrieben mit »Evangelische Kirche in Deutschland« – die gab es nominell ja erst seit 1945 –, und die fünf Zwischenüberschriften lauten: »Im Konflikt mit der Obrigkeit«, »›Deutsche Christen‹«, »Martin Niemöller«, »Der Tag von Potsdam« und »Die Obrigkeiten des Otto Dibelius«. Gänzlich ausgespart bleiben u. a. die verschiedenen wirkmächtigen theologischen Aufbrüche, etwa die Lutherrenaissance und die Dialek-tische Theologie und die zum Teil sehr bedeutsamen verfassungsrechtlichen und institutionellen Innovationen im kirchlichen Be­reich.
K.s These ist denkbar einfach: »Gehorsam und Untertanengeist« seien »dem Protestantismus bereits in die Wiege gelegt« (16), und beide hätten nicht nur die Geschichte des Protestantismus bis heute entscheidend geprägt, sondern die »jahrhundertelange, unsägliche Bindung an Römer 13« sei zudem »nie wirklich reflektiert« worden (327). In der Tradition eines Karlheinz Deschner schreibt K. eine »Kriminalgeschichte« des deutschen Protestantismus, die er am Ende seines Buches mit ganz wenigen Schlagworten zusammenfassen kann: Was »gibt es in der Geschichte des deutschen Protes-tantismus eigentlich zu feiern? Den Bellizismus? Den Antisemitismus? Die Frauenverachtung? 500 Jahre Zank und Streit um eine Oblate? Oder etwa die Milliarden Euro Kirchensteuer im Jahr …?« (Ebd.) Es sind weniger die immer wieder auftauchenden sachlichen Fehler und Ungenauigkeiten, die irritieren – etwa wenn fälschlich behauptet wird, Friedrich von Bodelschwingh sei »durch ein Dreierkollegium […] zum ersten Reichsbischof ernannt worden« (112) oder Ludwig Müller habe den »Freitod kurz vor Kriegsende« ge­wählt (133) oder Albrecht Schönherr habe »im Christentum durchaus eine Ideologie zu sehen« geglaubt (291) –, verstörend ist vielmehr der einseitige Eklektizismus, mit dem Quellen und Sekundärliteratur durchforstet werden, verbunden mit einer gehörigen Portion Polemik – Beispiel: »… in der evangelischen Kirche hatte man das Vaterland, wenn nicht sogar die deutsche Nation erfunden.« (235) – und einem mitunter schwer erträglichen Aufklärungspathos, so als habe bisher noch niemand – von wenigen »nicht kirchengebundenen Historikern« abgesehen (107) – die Schattenseiten der jüngeren evangelischen Kirchengeschichte wahrgenommen. Dazu gehört auch die Chuzpe K.s zu behaupten, bei seinem Buch handele es sich »tatsächlich um eine erste Überblicksdarstellung zur Geschichte des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert« (28).
Zweifellos ist K. zuzustimmen, dass nationalprotestantische und judenfeindliche Mentalitäten ein gewichtiger Faktor der evangelischen Kirchengeschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus waren und auch die Bekennende Kirche, einschließlich ihres sogenannten radikalen Flügels, erfassten – das ist längst Konsens auch in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung –, aber etwa Otto Dibelius zum bloßen Steigbügelhalter der Nazis und bleibenden Antidemokraten zu stilisieren, wie K. es tut, ist eben doch viel zu undifferenziert. Typisch für sein Vorgehen ist, dass er etwa in dem abgedruckten Auszug aus Dibelius’ Predigt am »Tag von Potsdam« (62) Sätze wie den folgenden ausgelassen hat: »Aber wir wissen auch, daß Luther mit demselben Ernst die christliche Obrigkeit aufgerufen hat, ihr gottgewolltes Amt nicht zu verfälschen durch Rachsucht und Dünkel, daß er Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gefordert hat …« (zitiert nach KTGQ V [1999], 74). Man muss Dibelius nicht mögen und seine Ansichten nicht teilen, aber so zu tun, als habe er seit dem »Tag von Potsdam« im Grunde nichts dazu gelernt, und ihn in der Diktion der SED nahezu ausschließlich als »NATO-Bischof« wahrzunehmen, das wird der Ge­schichte wohl kaum gerecht, passt jedoch zum Geschichtsbild K.s, der die gesamte Adenauer-Ära unter dem Vorzeichen der Re­stauration und des Revanchismus und die Bundeswehr in bloßer Kontinuität zur Reichswehr Hitlers betrachtet und das Inkrafttreten des Grundgesetzes kaum als Zäsur anerkennt.
Die sowjetische Besatzung und das DDR-Unrechtsregime kommen bei K. demgegenüber vergleichsweise positiv weg. Im Sinne »antifaschistischer« Geschichtsdeutungen ist er sehr darauf be­dacht, dass nur ja nicht nationalsozialistisches Unrecht mit stalinistischem Unrecht verglichen wird – als ob das eine Unrecht das andere Unrecht relativieren könnte. Hatte er noch die Eidesleis-tung durch Pfarrer in der NS-Zeit scharf gerügt, hielt er die Erklärung der Unvereinbarkeit von Jugendweihe und Konfirmation durch die Kirchenleitungen der DDR für »weltfremd« (200) bzw. »völlig überzogen« (300). Die scharfe Kritik von Dibelius an der DDR-Obrigkeit wies K., der ja sonst stets die Obrigkeitstreue der Kirche geißelte, nicht minder scharf zurück, da sie durch den na-tionalprotestantischen Antikommunismus motiviert gewesen sei. Un­kommentiert zitiert er etwa Heinrich Grüber, der nach einem Besuch des als sowjetisches Speziallager weitergeführten KZ Sachsenhausen schrieb, die Gefangenen dort seien »gut angezogen […], gut gepflegt und normal ernährt« gewesen, die Frauen hätten sich sogar schminken können (227) – dass tatsächlich mindestens 12.000 Menschen, und keineswegs nur Nazis, dort meist an Unterernährung starben (vgl. http://www.stiftung-bg.de/gums/de/geschichte/speziallager/spezial01.htm), verschweigt K. Demgegenüber be­tont er, dass die stalinistische Diktatur unmittelbar nach 1945 »weltweite Anerkennung und Sympathie« genossen habe (175) und dass auch das DDR-Regime zunächst religiös tolerant und teilweise sogar kirchenfreundlich gewesen sei; erst später – und hierfür macht er dann vor allem wieder den »NATO-Bischof« verantwortlich – habe es Versuche gegeben, den kirchlichen Handlungsspielraum massiv einzuschränken. In den 1980er Jahren habe dann die seit 1969 unabhängige Kirche in der DDR gegen Unrecht aufbegehrt und sei zum Zufluchtsort der Bedrängten und Oppositionellen geworden. In dieser kurzen Phase kann K. der DDR-Kirche dann endlich auch einmal etwas Positives abgewinnen. Für die Kirche im Westen gilt das nur für bestimmte linksprotestantische Tendenzen, die sich letztlich aber nicht durchgesetzt hätten, was K. insbesondere an dem bis heute geltenden Militärseelsorgevertrag festmacht. Nach der Wiedervereinigung habe es rasch eine »Einverleibung« (316) der DDR-Kirche durch die staatsnahe EKD gegeben.
K.s Buch ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine bestimmte geschichtspolitische Sicht – zudem mit Enthüllungsattitüde – die Auswahl und die Deutung der historischen Sachverhalte völlig dominieren kann.