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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

602–603

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rüterswörden, Udo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ist die Tora Gesetz? Zum Gesetzesverständnis im Alten Testament, Frühjudentum und Neuen Testament. M. Beiträgen v. J. Dochhorn, K. Finsterbusch, J. Gärtner, C. Hezser u. S. Krauter.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 161 S. = Biblisch-Theologische Studien, 167. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-7887-3127-4.

Rezensent:

Kristin Weingart

Ist die Tora ein Gesetz- oder Geschichtsbuch? Ist sie überhaupt ein spezifisches Buch oder nicht vielmehr ein Welt- und Gottesbeziehung des Menschen ordnendes Prinzip? Geht es um konkretes Recht oder ein allgemeineres Ethos und ab wann war es in Geltung? Die fünf Beiträge des Bandes gehen diese Fragen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an.
Jan Dochhorn skizziert die »Entwicklungsgeschichte der Theologie des Gesetzes im Urchristentum« und stellt dabei zwei Faktoren heraus: eine Krise der Gerechtigkeit und ein Verständnis des Menschen als Krone der Schöpfung. Beide stehen im Zusammenhang mit jüdischen Diskursen, die schon der historische Jesus aufnahm. Die Gerechtigkeit des Gerechten konnte zum Problem werden, wenn sie eine Distanz zu Gott schuf. Die kosmische Suprematie des Menschen(sohns) stellt ihn über das Gesetz. Im Ur­chris­tentum, noch verstärkt durch die frühen Erfolge in der Heidenmission, bildete sich ein flexibler Umgang mit den konkreten Bestimmungen des Gesetzes heraus, der zu einer Pluralität im Um­gang mit ihm, aber auch zu Auseinandersetzungen über das Gesetz führte. Bei Paulus erfolgt dann eine Systematisierung in der spezifischen Verbindung eines abrogativen (das Gesetz ist kein Heilsweg) mit einem konstruktiven (im Glauben frei vom Gesetz ist der Mensch in der Lage und aufgefordert, es zu tun) Argumentationskomplex.
Karin Finsterbusch untersucht die »Rezeption von Torageboten als ›Gesetzen‹ in (der hebr. Vorlage) der LXX-Jer und im MT-Jer«. Das Jeremiabuch dient hier als Testfall für die Frage, ob und inwiefern die Tora bereits in persischer Zeit normative Kraft hatte. Am Beispiel von Regelungen zur Ehescheidung, Sabbatheiligung und Sklavenfreilassung und deren Rezeption in Jer 3,1–5; Jer 17 bzw. Jer 41 LXX/Jer 34 MT argumentiert Finsterbusch, dass die Aufnahme der Vorschriften aus dem Pentateuch in LXX-Jer und MT-Jer zwar jeweils mit unterschiedlicher Profilierung geschieht, aber in jedem Fall die betreffenden Bestimmungen aus dem Pentateuch als be­kannt und in Geltung stehend voraussetzt. Hermeneutisch gibt der Umgang mit der Tora dabei eine Notwendigkeit der Aktua-lisierung und situationsbezogenen Auswahl von Bestimmungen sowie eine Verbindung von Normativität und gleichzeitiger Freiheit im Umgang mit ihren sprachlichen und inhaltlichen Elementen zu erkennen.
Judith Gärtner reflektiert die Bedeutung des Tora-Begriffs in den Geschichtspsalmen Ps 78; 105 und Neh 9 (»Tora als Geschichte. Zur hermeneutischen Funktion der Pentateuchtexte im Psalter und in Neh 9«) und knüpft dabei an das Tora-Verständnis der Weisheitspsalmen an, in welchen Tora nicht als identifizierbare Buch-, Wort- oder Offenbarungsgröße, sondern als umfassende Ordnungsstruktur der Welt verstanden sei. In den untersuchten Texten, welche von Tora im Zusammenhang mit Geschichtsdarstellungen bzw. Geschichtsdeutung reden, finden sich unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs – als Mittel zur Vergegenwärtigung der Wundertaten JHWHs (Ps 78), mit Fokus auf die Bundeszusage und Landverheißung (Ps 104) bzw. als Orientierungsgröße für ein gelingendes Leben (Neh 9) –, die jeweils im Zusammenhang mit der entfalteten Geschichtstheologie stehen.
Catherine Heszers Beitrag »Torah als ›Gesetz‹? Überlegungen zum Torahverständnis im antiken Judentum« fragt danach, ab wann die Tora überhaupt als normatives Rechtskorpus und faktische Rechtsgrundlage im Judentum fungierte. Den in der Tradition genannten Zeitrahmen, d. h. seit der Einführung durch Esra, hält sie für deutlich zu früh angesetzt: Welches Gesetz Esra einführte, ist unsicher; frühe Belege für die Observanz gegenüber konkreten Rechtsvorschriften (abgesehen von Sabbat und Be­schneidung) oder für ihre Auslegung sind ausgesprochen selten. Bis 70 n. Chr. spielte die Tora primär als Ethos und als ein jüdischer Identitätsmarker unter anderen eine Rolle. Danach setzte ein Wandel ein, der aber erst im Mittelalter in der weitgehenden Durchsetzung der Tora als Rechtsgrundlage im Judentum ge­mündet habe.
Stefan Krauter konzentriert sich auf das »›Gesetz‹ in der Esratradition« und dabei auf den Vergleich von Esr/Neh und 4. Esra. Er widerspricht einer verbreiteten Deutung, wonach das Wirken Esras im 4. Esra auf die Restitution und den Neuanfang nach dem Ende des zweiten Tempels zu beziehen sei. Dem steht entgegen, dass die Zeitstruktur im 4. Esra die Offenbarung des Gesetzes zeitlich vor den Geschehnissen des Esrabuches ansetzt und dass sich mit der doppelten Offenbarung eines exoterischen und eines esoterischen Gesetzesanteils neue Akzente ergeben: Das Gesetz bleibt etwas Ge­schriebenes, das gelernt und praktiziert werden soll. Der verborgene Teil ist aber nur wenigen zugänglich, praktiziert wird die Tora nicht mehr kollektiv, sondern individuell. Ihr letztes Ziel ist nicht mehr das gelingende Leben des Volkes Israel in seinem Land, sondern ein postmortaler Heilszustand.
Der Band geht auf ein gleichnamiges Symposion an der Universität Bonn zurück und bietet sehr anregende, wenn auch disparate und stellenweise kaum vermittelbare Perspektiven auf die titelgebende Frage. So kommen – um nur ein Beispiel zu nennen – K. Finsterbusch und C. Heszer bezüglich der frühen normativen Geltung der Tora zu komplett konträren Ergebnissen. Es ist daher kaum überraschend, dass – wie das äußerst knappe Vorwort bemerkt – die Beiträge im Symposion eine lebhafte Diskussion ausgelöst haben. Diese wird sich neben diskutierenswerten und zum Teil auch diskussionsbedürftigen Aspekten der einzelnen Beiträge sicher auch auf ihre Zusammenschau bezogen haben. Im Sinne dieser Zusammenschau wäre eine ausführlichere Einführung, die die einzelnen Beiträge stärker aufeinander bezieht oder Erkenntnisse aus der genannten Diskussion spiegelt, für die Rezeption des durchaus lesenswerten Buches sicher hilfreich gewesen.