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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

221–223

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wendel, Susan J., and David M. Miller [Eds.]

Titel/Untertitel:

Torah Ethics and Early Christian Identity.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2016. 285 S. Kart. US$ 35,00. ISBN 978-0-8028-7319-4.

Rezensent:

Roland Deines

Dieser schmale Band ist eine Festgabe für den bekannten schwedischen Neutestamentler Stephen Westerholm, der sich vor allem durch seine nuancierten Beiträge zur Paulusforschung aus einer lutherischen Perspektive heraus einen Namen machte, oder, in seinen eigenen Worten, »my stubborn insistence on reading the apostle through a Lutheran lens« (211).
Wie kaum ein Zweiter hat sich Westerholm im englischsprachigen Raum dafür eingesetzt, gegenüber der durch E. P. Sanders ini-tiierten und gegenwärtig sehr prominent von N. T. Wright vertretenen Diskreditierung der reformatorischen Paulusexegese deren sachliche und theologische Angemessenheit zu verteidigen. Das bedeutet freilich nicht, dass dieselbe einfach wiederholt würde, wie auch sein eigener Beitrag deutlich macht, der diesen schmalen Band abschließt (»Canonical Paul and the Law«). Darin wendet sich Westerholm noch einmal Luther und Calvin als Paulusexegeten zu. Für diejenigen, die mit seiner Position weniger vertraut sind, bilden die ersten Sei-ten (208–211) eine knappe Zusammenfassung in neun Punkten. An Luther kritisiert er vor allem, dass er das Gegensatzpaar Gesetz und Evangelium nicht nur auf Paulus bezieht (wo es s. E. angemessen ist), sondern zum Generalschlüssel des ganzen Neuen Testaments bzw. der ganzen Bibel macht (221; anders, aber nicht weniger problematisch, Calvin, der die Torah zum alles umgreifenden Begriff für Gottes Handeln mit der Menschheit macht, s. 215). Die übrigen zwölf Beiträge des Bandes sind von prominenten Kolleginnen und Kollegen bzw. Schülern geschrieben.
Am Anfang stehen – nach einer Einleitung der Herausgeber – zwei Beiträge zur frühjüdischen Torahpraxis (Anders Runesson, »Entering a Synagogue with Paul: First-Century Torah Obser-vance«; John W. Martens, »The Meaning and Function of the Law in Philo and Josephus«). Diese bilden den Rahmen, in dem der neu-tes­tamentliche Umgang mit der Torah verstanden werden soll: Runesson betont die relative Pluralität des Torahverständnisses im an­tiken Judentum (wobei Reinheitsfragen überall eine zentrale Rolle spielen) und das Fehlen normierender Institutionen oder Gruppen (die Runesson m. E. allerdings unterschätzt). Er warnt damit auch vor der in der jüngeren Jesusforschung überschätzten Möglichkeit, die Torahobservanz Jesu anhand der zeitgenössischen jüdischen genau erfassen zu können. Denn das setzte voraus »that we know what keeping the law in the first century meant« (13), was eben gerade nicht der Fall ist. Nach Runesson sind es zudem die »Jewish associations« in der Diaspora, in denen kleinere Gruppen darüber diskutierten und entschieden »what was to be defined as Torah observances« (26), die das Vorbild für die christlichen Ge­meinden abgaben. Deren – erneut: relative – Gestaltungsfreiheit erlaubte Paulus u.  a., dass auch die proto-christlichen Gruppen innerhalb dieser Pluralität ihren Platz finden konnten. Martens hebt hervor, dass die Torah von Philo und Josephus, wenngleich sehr unterschiedlich, mit dem Naturgesetz identifiziert wurde und darum als Universalgesetz galt, nach dem alle Menschen leben können (und nach Philo auch sollen). Inwieweit dies das Verständnis neutestamentlicher Texte beeinflusst, wird in dem Beitrag selbst nicht angesprochen, doch nehmen manche der nachfolgenden Aufsätze dieses Thema auf (s. Register »law of nature«).
Im anschließenden umfangreichsten Teil (»Torah Ethics and the New Testament«) wird in acht Beiträgen nach der bleibenden Bedeutung der Torah für das Ethos der christlichen Gemeinden anhand einzelner neutestamentlicher Bücher oder einzelner Textpassagen gefragt: »If Torah stated the perfect will of God, how was it possible for early Christ-believers to conclude that they need not follow the entire law?« (2) Man könnte auf diese Fragestellung aus der Einleitung der Herausgeber nun allerdings mit Runesson einwenden: Woher wissen wir, dass die ersten »Christ-believers« nicht – zumindest ihrem eigenen Selbstverständnis nach – »the entire law« hielten? Impliziert nicht die Fragestellung bereits eine spätere Perspektive, in der das Gesetz zur Demarkationslinie zwischen Christen und Juden geworden war, und zwar von beiden Seiten aus: für Christen als ein positives Ergebnis des Kommens Jesu (mit der Folge, dass nicht mehr alle sämtliche Gebote der Torah zu halten hatten), und für Juden als ein Abfall von dem, was nicht nur für das eigene Volk, sondern für alle Menschen von Gott vorgesehen war?
Wesley G. Olmstead, »Jesus the Eschatological Perfection of Torah, and the imitatio Dei in Matthew«, bietet eine interessante Parallelisierung von Mt 5,17–48 mit 19,16–22. Gottes Ḥesed, d. h. sein »Erbarmen«, verstanden als Eigenschaft Gottes und nicht als eine Form menschlicher Barmherzigkeit, ist der Maßstab, an dem sich der neue Gehorsam misst. Was dies allerdings – abgesehen von dem Hinweis auf die Feindesliebe – konkret für die Alltagsfrömmigkeit heißt, bleibt unbestimmt. S. A. Cummins, »Torah, Jesus, and the Kingdom of God in the Gospel of Mark«, zeigt mittels eines erzähltheologischen Zugangs, wie Jesu Dienst Israels Not als Volk offenbart und heilt: Durch das Versagen der Führer Israels können Torah und Tempel die ihnen zugedachte heilvolle Rolle zur Ermöglichung der Gegenwart Gottes in seinem Volk nicht wahrnehmen. Jesus nimmt in seinem Tod deren Aufgabe auf sich und verwandelt sie dadurch. Nach dem Willen Gottes leben bedeutet von nun an ein Leben der Gottes- und Nächstenliebe, die auch die Ausgegrenzten miteinschließt. Nach David M. Miller, »Reading Law as Prophecy: Torah Ethics in Acts«, unterscheidet Lukas zwischen jüdischen Jesusgläubigen, für die die Torah weiterhin gilt, und Jesusgläubigen aus den Völkern, für die die Torah ähnlich wie die Propheten eine in Jesus erfüllte Geschichte darstellt, die als Grundlage ihrer neuen Existenz dient (»applied by analogy«, 91), aber als Gesetz im eigentlichen Sinn nicht mehr bindend ist. Scot McKnight, »The Law of the Laws: James, Wisdom, and the Law«, betont, dass das Torah-Verständnis des Jakobusbriefes (den er für authentisch hält) von dem geprägt ist, was er das Jesus-Credo (»Jesus Creed«) nennt, nämlich die innerjüdische singuläre Verbindung des Shema‘ Jisra’el mit dem Liebesgebot Lev 19,18. Wo immer im Jakobusbrief vom logos oder nomos die Rede ist, geht es um diese weisheitlich interpretierte Jesus-torah, die dazu dient, den eigenen Platz in der Gottesgeschichte und im Umgang mit dem Nächsten zu finden.
Den paulinischen Schriften sind die Beiträge von Richard B. Hays, »The Conversion of the Imagination: Scripture and Eschatology in 1 Corinthians« (der einzige schon anderweitig veröffentlichte Beitrag), Beverly Roberts Gaventa, »Questions about Nomos, Answers about Christos: Romans 10:4 in Context«, und Terence L. Donaldson, »Paul, Abraham’s Gentile ›Offspring,‹ and the Torah«, über die Abrahamsverheißung im paulinischen Torahverständnis gewidmet. Für Gaventa bedeutet das Kommen des Messias das Ende der Torah, die weder für Israels Zukunft noch für die der Gemeinde eine Rolle mehr spielt. Wie dies inhaltlich aussehen kann, zeigen die beiden anderen Beiträge: Donaldson sieht eine Kontinuität mit dem Naturrecht, für Hays dient die Torah primär der Welterklärung. Die Jesusgläubigen sollen mittels einer »ecclesiocentric hermeneutic« (161) in Israels Geschichte und Umgang mit der Torah ihren eigenen Weg im Blick auf das ihnen bevorstehende Endgericht typologisch präfiguriert sehen.
Es fällt auf, dass fast alle Autoren die Torah-Ethik der frühchristlichen Gemeinden weitestgehend im Sinne einer jesuanischen Re­formobservanz verstehen und auf das doppelte Liebesgebot (einschließlich der Feindesliebe) beschränken. Andere Bereiche wie die von Runesson hervorgehobenen Reinheitsfragen, aber auch Sabbat, Beschneidung, Festkalender und Opferkult, Ehe- und Familienethik, von Strafrecht und gesellschaftlichem Ethos ganz zu schweigen, werden nur knapp oder meist überhaupt nicht diskutiert. Erfrischend anders ist der Beitrag von Adele Reinhartz, »Reproach and Revelation: Ethics in John 11:1–44«, der sich von dem sonst beobachtbaren Bemühen, keinen Konflikt mit bzw. keine Missachtung der Torah von Seiten Jesu und seiner Nachfolger zu konstatieren, deutlich abhebt: Für sie ist Jesu Verhalten beim Sterben von Lazarus weder torahkonform noch vorbildhaft (»Jesus is behaving in a manner that is contrary to first-century biblically based Jewish ethical norms«, 94, auf S. 97 spricht sie von »Jesus’ breach of ethical norms«), sondern dient ihm als Mittel zum Zweck, seine eigene Messianität und Gottessohnschaft zu demonstrieren (105). So verstanden kann Joh 11,1–6 als Parallele zu Mt 8,19–22 par. Lk 9,57–62 gelesen werden.
Die letzten beiden Beiträge behandeln die nachneutestamentliche Zeit (Susan J. Wendel, »Torah Obedience and Early Christian Ethical Practices in Justin Martyr«; Peter Widdicombe, »The Law, God, and the Logos: Clement and the Alexandrian Tradition«).
Sie belegen die große Freiheit im Umgang mit der Torah, die einerseits als Gottes Offenbarung festgehalten wird und etwa bei Klemens Alexandrinus die Gabe desselben Logos ist, der später als der Inkarnierte kommt (»Clement’s high view of the law«, 197); andererseits wird das Halten der Torah in erstaunlich selbstverständlicher Weise auf die eigentlich ethischen Gebote beschränkt, wobei wiederum das Liebesgebot bestimmend ist. Die Apologeten (Wendel behandelt außer Justin auch Aristides und Theophilus von Antiochien) beriefen sich positiv auf Mose und seine Gesetzgebung, weil sie so das Altersargument gegen Griechen und Römer ausspielen konnten, während sie gegenüber jüdischen Einwänden auf die Erfüllung in Christus verwiesen. Das erlaubte es ihnen, die universalen, ewigen und für alle geltenden Gebote von denen zu unterscheiden, die nur für Israel als Volk galten. Inwieweit in dieser Konzentration auf ein universalisierbares Ethos Einwirkungen jüdischer Diasporafrömmigkeit eine Rolle spielten (worauf Donaldson S. 150 hinweist), wird leider nicht gefragt.
Bibliographie, Autoren-, Sach- und Stellenregister beschließen das Buch. Die einzelnen Artikel sind alle gut zu lesen und eher als Einführungen in die Diskussion über die Torah im frühen Christentum als einer (mehrheitlich) erfüllungstheologischen Perspektive zu verstehen. Einige Autoren nehmen auf die Arbeiten von Westerholm Be­zug, ansonsten fällt auf, dass Sanders selten, J. D. G. Dunn nur einmal in einem nebensächlichen Zusammenhang und Wright überhaupt nicht erwähnt sind (auch deutsche Beiträge sind äußerst selten), so dass die mit der New Perspective zu führenden Diskussionen fehlen.