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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1392–1393

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Szyrwińska, Anna

Titel/Untertitel:

Wiedergeborene Freiheit. Der Einfluss des Pietismus auf die Ethik Immanuel Kants.

Verlag:

Wiesbaden u. a.: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017. X, 291 S. Kart. EUR 33,99. ISBN 978-3-658-15183-6.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Wenn man das aktuelle Kant-Lexikon (s. ThLZ 141 [2016], 834–837) auf das Verhältnis Kants zum Pietismus befragt, dann erhält man eine Auskunft, die sich im Wesentlichen auf seine Biographie be­zieht und eine philosophische Einschätzung vornimmt: Kants Elternhaus wie auch sein Gymnasium waren pietistisch geprägt. Er selbst hat im »Streit der Fakultäten« die Aufgabe des Religionsvortrages in der Moralisierung der Menschen – als in der Vernunft begründet – anerkannt, wie sie der Verfasser der pietistischen Programmschrift »Pia Desideria« (1675), Philipp Jakob Spener, ausgeführt hat. Da der Pietismus diese Aufgabe jedoch nicht im Rahmen autonomer Moral angeht, sondern dazu auf einen übernatürlichen Beistand angewiesen ist, was zur Passivität der Menschen führt, gelangt Kant zu seiner Ablehnung dieser Geistesrichtung.
An dieser Stelle wird die hier vorzustellende Dissertation von Anna Szyrwińska interessant, denn sie geht davon aus, »dass es in der praktischen Philosophie Kants Elemente gibt, die sich auch in der pietistischen Lehre finden lassen« (3) und für die Entwicklung seiner Ethik wichtig waren, zumal er auch über Spener hinaus weitere pietistische Autoren gelesen haben dürfte (51–58).
Nach der Aufarbeitung der bisherigen Forschungsgeschichte zu diesem Thema (5–18), der Darlegung der Methode dieser Arbeit (19–26), die darin gipfelt, »pietistische Texte als Quellen und Träger philosophischer Theorie zu betrachten« (26), sie aber nicht auf ihren genuin theologischen Gehalt zu befragen, bestimmt S. den Pietismus (27–58) als religiöse Erneuerungsbewegung mit Betonung der Individualisierung des religiösen Lebens, klassifiziert sie Kants Aussagen zum Pietismus (59–69): Die von Kant verwendeten Be-g riffe wie Kampf der Buße, Wiedergeburt, Wiedergeborene, Zermalmung des Herzens, Veränderung des Herzens, haben ihren Ursprung im Pietismus, wie Georg Holmann bereits 1899 in seiner Untersuchung der Religionsphilosophie Kants dargelegt hat. Da­mit, so das Zwischenergebnis, interessiert Kant besonders die innerliche moralische Metamorphose, in der der Mensch seinen Hang zum Bösen überwindet und sich zu einem Guten macht, womit sich Kants Interesse an der pietistischen Konzeption der Wiedergeburt (71–85) erklärt.
Allerdings lehnt Kant die pietistische Annahme eines übernatürlichen Einflusses bei der Sinnesänderung der Menschen ab. Nachdem S. herausgearbeitet hat, dass sich Kant tatsächlich mit der pietistischen Auffassung der Wiedergeburt im Zusammenhang seiner eigenen Reflexionen der Veränderung der Handlungsmotivation vom bösen zum guten Menschen auseinandergesetzt hat, stellt sie im Folgenden die Motivationskonzeption Speners dar (87–132): Der Motivationsprozess eines »Wiedergeborenen zum Handeln nach dem Gesetz« (123) Gottes setzt die freiwillige Anerkennung der Pflichten voraus. So kann sich der Wiedergeborene rational entschließen, die entsprechende Handlung zu vollziehen, da sie die richtige ist. Das handelnde Individuum wählt also seine Handlungsmöglichkeiten kontrolliert aus. Auch wenn Spener den Sachverhalt der Wiedergeburt auf übernatürlichen Einfluss zurückführt, so ist die Ausführung der gebotenen Handlung jedoch dem freien Willen vorbehalten, denn das handelnde Individuum hat auch die Freiheit zu einer gegenteiligen Handlung.
Diesen Gedanken des rationalen Entschlusses von Spener nimmt Kant – entkleidet von theologischen Bezügen – in sein eigenes Motivationskonzept (133–177) auf. S. arbeitet für beide Konzeptionen den Willen als handlungsauslösenden Faktor heraus, der als guter Wille zu einer Handlung mit moralischem Wert motiviert. Die Umsetzung dieser Motivation geschieht individuell, jedoch »nach allgemeinen universellen Regeln« (176).
Im Vergleich der Konzeptionen Kants und Speners (179–214) hält S. zunächst noch einmal das wissenschaftliche Interesse Kants an Speners Theorie der Wiedergeburt fest. Der Hauptunterschied beider Auffassungen liegt in Speners theologischer Grundlage, die Kant nicht teilt, während sich in den beiden Theorien der Motivation Parallelen feststellen lassen, da die Rationalität die Gründe für ein Handeln gemäß dem moralischen Gesetz sichert, selbst motiviert durch den guten Willen.
S. charakterisiert die Motivationstheorie Speners und Kants im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Theorien als innovativ (215–275), da beide keinem Externalismus verpflichtet sind, für den »die Quelle der Moral außerhalb des Subjekts liegt« (215). Den in dieser Gestalt vorher nicht vertretenen Internalismus Speners und Kants, bei dem das Subjekt über Handlungsmotive verfügt, charakterisiert S. als »schwachen Internalismus« (223), da die handelnde Person zugleich die Möglichkeit hat, sich zu einer Tat zu entscheiden, die der Moral entgegensteht. Damit sieht S. sowohl bei Spener als auch bei Kant eine radikale Auffassung der Willensfreiheit vertreten. Zusammenfassend ist für S. mit diesen Ausführungen die »Hy­pothese« erwiesen, »dass sich Kants Philosophie tatsächlich unter pietistischem Einfluss ausgestaltet hat« (277).
S. hat ihre Aussagen umsichtig aus den Quellen gearbeitet und durch die Heranziehung wichtiger Literatur abgesichert. Die Thematik Kant und der Pietismus ist mit dieser gründlichen Untersuchung entscheidend bereichert und es ist zu wünschen, dass dieses eigenständige Buch breit diskutiert wird.