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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1388–1389

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Moos, Thorsten, Ehm, Simone, Kliesch, Fabian, u. Julia Thiesbonenkamp-Maag

Titel/Untertitel:

Ethik in der Klinikseelsorge. Empirie, Theologie, Ausbildung.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 403 S. m. 5 Abb. u. 7 Tab. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 84. Kart. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-62431-9.

Rezensent:

Michael Klessmann

Angesichts der fast grenzenlosen Möglichkeiten moderner Hoch-leis­tungsmedizin, der Pluralisierung von Werthaltungen bei Krankenhauspersonal und Patienten sowie dem zunehmenden Gewicht ökonomischer Faktoren im Krankenhausalltag gewinnt Ethik in der Medizin und im Krankenhaus allgemein und speziell auch in der Klinikseelsorge wachsende Bedeutung. Vor diesem Hintergrund verfolgt der im Rahmen der FEST von einem interdisziplinären Autorenteam vorgelegte Band mehrere Ziele: Mit Hilfe einer em-pirischen Studie aus dem Jahr 2011 (qualitative Interviews, teilnehmende Beobachtung), an der 32 Klinikseelsorger und -seelsorgerinnen mit theologischer Ausbildung in acht evangelischen Krankenhäusern beteiligt waren (so dass eine »moderate« Verallgemeine- rung, wie die Autoren und Autorinnen schreiben, legitim erscheint), soll gezeigt werden, wie Seelsorger mit ethischen Themen in ihrer Praxis interdisziplinär befasst sind, welche Probleme und Spannungen dabei auftreten und welche Kompetenzen sie für dieses Segment ihrer Tätigkeit brauchen. Aus dieser den größten Teil des Buches umfassenden empirischen Seelsorgeforschung werden am Ende Folgerungen für die Seelsorge-Ausbildung abgeleitet. Zugleich wird deutlich, dass die ethischen Herausforderungen, die Klinikseelsor gern begegnen, im Grunde von allen professionellen Theologen (nicht nur in der Krankenhausseelsorge) in unserer pluralisierten Gesellschaft bedacht und beantwortet werden müssen.
Von Klinikseelsorge wird inzwischen erwartet, dass sie sich als kompetente Gesprächspartnerin auch für ethische Fragestellungen erweist. Therapiebegrenzung am Lebensende, Eruieren des Patientenwillens, Umgang mit pränataldiagnostischen Befunden, Umgang mit religiös-weltanschaulichen Differenzen, Konflikt­-situationen im Behandlungsteam sind einige der wiederkehrenden Themen, bei denen Seelsorge zur Entscheidungsfindung oder zur Entscheidungsbewältigung herangezogen wird, und zwar so­wohl in institutionalisierten Settings wie einem klinischen Ethikkomitee als auch inoffiziell in Gesprächen mit Betroffenen und Personal. Seelsorger bringen mehrheitlich ein weites Ethikverständnis mit; sie sehen deren Funktion darin, auf Defizite und Unklarheiten in Behandlungsprozessen zwischen den Beteiligten aufmerksam zu machen. Gleichzeitig rücken sie mit diesen Aufgaben näher an die Klinik und die interdisziplinären Abläufe heran, was manche schätzen und andere eher skeptisch betrachten.
Im dritten, sehr umfassenden Hauptteil wird nun detailliert ge­zeigt, wie Seelsorger mit ethischen Problemen umgehen. Seelsorger eröffnen und gestalten ethische Kommunikationsräume, in­dem sie z. B. aus dem medizinisch anscheinend fraglos Notwendigen einen Gegenstand des Abstimmens und Abwägens machen; indem sie die Organisation, ihr Leitbild und ihre Kommunikationskultur anfragen und zu »Agenten einer ›Unterbrechungskultur‹« (108) werden. Mit einer beziehungsorientierten Care-Haltung, die einen wichtigen Teil ihres beruflichen Selbstverständnisses darstellt, fokussieren Seelsorger auf die Bedürfnisse und den (mutmaßlichen) Willen der Patienten, machen sich zu deren Sprachrohr und Anwalt. Der Begriff »Gewissen« spielt eine zentrale Rolle in bestimmten Konfliktlagen; damit wird für jeden Menschen ein moralisches Subjektsein reklamiert, wodurch Seelsorge einerseits anschlussfähig an die medizinische Ethik wird, andererseits aber auch zur Diskursvermeidung beitragen kann. Konkret werden diese Spannungsfelder bei Verhandlungen über das Personsein von Einzelnen am Lebensende. Hier zeigt sich, wie sich Seelsorger aus ihrer seelsorglichen Kenntnis eines Menschen an den Verhandlungen über das Personsein (am Beispiel von Erinnerungen, Vorlieben, Kommunikationsfähigkeit, Willensäußerung etc.) und den daraus folgenden Kon-sequenzen beteiligen. Besonders eindrücklich ist, wie sie durch »personalisierende Praktiken« (Segen, Taufe, Beerdigung) am Le­bensanfang dazu beitragen, dass Föten und tot geborene Säuglinge den Status des Personseins zugesprochen bekommen.
Bei allen ethischen Interaktionen spielt das Thema Sprache eine wichtige Rolle: Die Autoren zeigen, wie die Dominanz der medi-zinischen Sprache die Seelsorger zu Unwissenden und Fremden macht, wie die Seelsorger aber auch als Übersetzer fungieren und die verschiedenen Sprachwelten zusammenbringen können; der Be­griff der Nächstenliebe, der anschlussfähig ist an Empathie, Mitgefühl, Fürsorge, bekommt hier eine integrierende Funktion. Religiöse Sprache – differenziert als biblische Bildsprache, religiöse Glaubenssprache und theologische Theoriesprache – spielt dabei interessanterweise eine größere Rolle, als die Seelsorger selbst meinen. Moralisches Sprechen im Krankenhaus operiert häufig mit juridischen Kategorien, verbindend fungiert der Begriff der Würde des Patienten. Seelsorger lernen, auf die nonverbale Dimension von Kommunikation und die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten zu achten. So entsteht eine hilfreiche »hermeneutische Vorsicht« (233), die vor Absolutierungen schützt. Auch Rituale sind im Umfeld von ethischen Entscheidungen von Bedeutung, sie helfen, eine ethische Entscheidung zum Abschluss zu bringen und Räume zu öffnen, in denen Unterschiede und Ambivalenzen der Beteiligten nicht aufgelöst werden müssen, sondern ausgehalten werden können.
Grundsätzliche Zuordnungen von Ethik und Seelsorge, das wird im vierten Kapitel diskutiert, sind schwierig; sinnvoller er­scheint es, den Umgang mit einzelnen materialen ethischen Themen aus Sicht der theologischen Perspektive von Seelsorgern anzugehen. Theologische Kernthemen wie Schuld und Vergebung, Ohnmacht, Zeitlichkeit, fragmentarische Identität des Einzelnen, Gewissen, Chancen und Grenzen von Sprache ermöglichen Brücken­schläge zur klinischen Ethik der Institution des Krankenhauses. Dabei sind verschiedene Diskursebenen zu unterscheiden: verschiedene Orte, verschiedene Rollen, notwendige ethische Kompetenzen und die Unterscheidung verschiedener Fachlogiken und Reflexionsformen. Daran anschließend werden ethische und seelsorgliche Kompetenzen definiert und in einer ethischen Metakompetenz zusammengeführt. Für den Seelsorgeberuf gehört ethische Kompetenz integral dazu. Ein letzter Abschnitt zeigt konkret, wie in einem »Heidelberger Modul« Ethik in die seelsorgliche Professionalität vermittelt werden kann.
Der Band repräsentiert ein gelungenes Beispiel em­pirischer Seelsorgeforschung, die es in dieser Form bisher kaum gibt und die es im Blick auf andere Themen in ähnlicher Weise dringend geben müsste. Der Ansatz und die differenzierte Interpretation der Ergebnisse öffnet neue fruchtbare Perspektiven auf Seelsorge und Ethik; zugleich können Seelsorger im Abgleich mit den hier vorgestellten Ergebnissen ihre eigene ethische Haltung zu einzelnen ethischen Themen vergleichend-kritisch reflektieren. Ein Defizit (das aber forschungspraktisch kaum zu beheben ist, weil sonst das Unternehmen uferlos zu werden drohte) sehe ich vor allem darin, dass nur Seelsorger aus evangelischen Krankenhäusern befragt worden sind. In einem solchen Kontext wird man mit relativ großer Aufgeschlossenheit für eine theologisch reflektierte Ethik der Seelsorge rechnen können; ob das bei kommunalen und privaten Trägern ähnlich wäre, und wie sich dann der interdisziplinäre ethische Diskurs verändern würde, muss als Frage offen bleiben.