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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1384–1386

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bender, Sebastian

Titel/Untertitel:

Leibniz’ Metaphysik der Modalität.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XI, 279 S. m. 2. Abb. = Quellen und Studien zur Philosophie, 130. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-045494-9.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Poser, Hans: Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft. Hrsg. v. W. Li. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2016. 528 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-7873-2859-8.


Das Denken von Gottfried Wilhelm Leibniz hat auch 300 Jahre nach seinem Tod nichts von seiner Aktualität verloren. Aus der Vielzahl der Studien, die im vergangenen Jahr erschienen sind, seien zwei besonders hervorgehoben. Wenchao Li, der Leiter der Potsdamer Leibniz-Editionsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hat 24 deutschsprachige Studien von Hans Poser in einem gut edierten Band zusammengestellt. Sie alle kreisen um den Themenkomplex von Wissenschaft und Metaphysik und waren aufgrund ihrer zerstreuten Veröffentlichung bisher nur schwer zugänglich. Ihre Zusammenstellung in sechs Abteilungen macht das Profil und die Kohärenz der Leibnizinterpretation P.s beeindruckend deutlich.
Nach kurzen Einführungen in das Leben und das Werk von Leibniz werden in einem zweiten Teil die Grundlagen seiner Philosophie dargestellt (Logik, Modalität, Zeichen und Sprache). Die Bedeutung und der Zusammenhang der Modalbegriffe (möglich, notwendig, kontingent) werden präzis herausgearbeitet und ihre Entwicklung im Rahmen der Zeichentheorie von Leibniz entfaltet. Dabei klärt P. nicht nur den zentralen Begriff der Idee bei Leibniz (103–114), sondern erinnert zu Recht daran, dass Leibniz sich keineswegs nur auf den Entwurf einer universalen Grammatica Rationis konzentriert, sondern auch wichtige Beiträge zur Analyse der natürlichen Sprachen geleistet hat (115–134). In einem dritten und umfangreichen Teil werden Arbeiten zur Metaphysik von Leibniz zusammengestellt, insbesondere zur Monadenlehre, zur Theodizee und zu den Nouveaux Essais (137–288). Dass alle diese Themenfelder vor dem Hintergrund von Leibniz’ Modalitätenmetphysik und Zeichentheorie zu lesen sind, wird durch die Anordnung der Beiträge treffend herausgestellt. In einem vierten Teil werden unter dem Titel »Zwischen Metaphysik und Wissenschaft« Arbeiten zu Leibniz’ Panlogismus und Pandynamismus, seiner Raum- und Zeitlehre, seinen Unendlichkeitsanalysen und seiner Überlegungen zur Wissenschaft als Ars combinatoria und Ars inveniendi geboten. Der fünfte Teil »Theoria cum Praxi« bietet Studien zu Leibniz als Ingenieur, zu seinen Plänen für eine Sozietät der Wis-senschaften, zu seinem Akademiekonzept und zum Problem der Technikwissenschaften. In einem abschließenden Epilog werden Leibniz’ Gründe für die Unterstützung der jesuitischen China-Mission dargelegt und diskutiert. Die letzten Teile des Bandes analysieren Anwendungsfelder von Leibniz’ Philosophie und fallen an Gewicht deutlich gegenüber den Anfangsteilen ab. Das philosophische Zentrum des Bandes sind der Aufweis der engen Verbindung von Modalitätenmetaphysik, Zeichentheorie, Monadentheorie, Theodizee und Erkenntnistheorie bei Leibniz in den ersten vier Teilen. Von hier geht P.s Deutung von Leibniz’ Philosophie aus und diesem Zentrum ordnet er die übrigen Themen zu. Das resultiert in einer überzeugenden kohärenten Sicht der kaum überschaubaren Arbeitsfelder von Leibniz. Wer dessen weit verzweigtes Denken von seinem Zentrum her verstehen will, hat mit diesem Band eine hervorragende Einführung in der Hand.
Wie wichtig die Publikation dieser Texte ist, zeigt die Arbeit von Sebastian Bender, der Posers Studien mit keinem Wort erwähnt. B.s Buch ist eine überarbeitete Fassung seiner Dissertationsschrift, die unter Dominik Perler erstellt und 2015 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt wurde. Es schreitet in wichtigen Teilen dieselben Fragestellungen ab wie Poser, ohne den Leibniz-Forscher an der TU in Berlin zu nennen. Nach einer Einleitung in das »Mysterium der Modalität« bei Leibniz geht B. zunächst auf Spinozas Argument für den Nezessitarismus ein (Kapitel 1), untersucht dann Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten anhand seiner Konzeption der göttlichen Ideen (Kapitel 2), wendet sich dem Problem der möglichen Individuen und möglichen Welten zu (Kapitel 3), untersucht detailliert Leibniz’ Theorie der Kompossibilität (Kapitel 4) und schlägt abschließend den Bogen zurück zum Problem von Leibniz’ Haltung gegenüber dem Nezessitarismus (Kapitel 5).
In gut lesbarer Weise bietet B.s Studie an jedem Punkt präzise Analysen und Rekonstruktionen im Austausch mit Gesprächspartnern der analytischen Philosophie und amerikanischen Leibnizforschung. Methodisch bedient er sich des zeitgenössischen Instrumentariums der Modaltheorie möglicher Welten, die Leibniz so nicht zur Verfügung stand. Das ermöglicht Klärungen, resultiert aber auch in Schwierigkeiten, weil – wie B. richtig vermerkt – »wir einen modernen Ansatz auf Leibniz zurückprojizieren und ihm ein Projekt zuschreiben, das er gar nicht verfolgt« (21). Ein nützliches Hilfsmittel ist die Theorie möglicher Welten nur, weil B.s Fragestellung systematisch und nicht historisch ist. Er fragt nicht, »wie Leibniz Möglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz analysiert, sondern […] welche Entitäten modale Wahrheiten fundieren.« (17 f.) Was sind »für Leibniz die Wahrmacher modaler Wahrheiten« (18)? Offenkundig die Essenzen. »Aber was sind diese Essenzen?« (18) Offenbar »nichts anderes als Ideen in Gottes Intellekt.« (18) Was sind diese Ideen? Welche Struktur haben sie? Und wie kann es sein, dass einige von ihnen nicht miteinander kompossibel sind, wenn sie doch alle in Gottes Essenz fundiert sind?
B. verfolgt diese Fragen, indem er sie in ein intensives Gespräch zwischen Spinoza und Leibniz einzeichnet. Seine Studie erhellt daher nicht nur Grundzüge und Hauptprobleme der Modalitätenmetaphysik von Leibniz, sondern konturiert zugleich im Kontrast dazu auch das Gegenmodell von Spinozas Nezessitarismus. Spi-noza und Leibniz vertreten das rationalistische Prinzip, dass alles Denkbare möglich und alles Mögliche denkbar ist. Damit gerät Leibniz in die Schwierigkeit, entweder »einen uneingeschränkten explanatorischen Rationalismus« akzeptieren zu müssen, damit aber auch den Nezessitarismus und »die Undenkbarkeit nicht-ak­tualisierter possibilia« (263), oder aber nicht vermeiden zu können, seinen Rationalismus abzuschwächen und das Prinzip des zureichenden Grundes (PZG) einzuschränken. Ebendas, so B., mache Leibniz auch, und nur so könne er auch »seinen rationalistischen Theismus aufrechterhalten« (263). »Weil Gott, der außerhalb aller möglichen Welten existiert, im Prinzip dazu in der Lage ist, sich für eine Welt zu entscheiden, die nicht die beste ist, kann er das PZG verletzen.« (253) B. sieht natürlich, dass Leibniz genau das nicht zugestehen kann, ohne sein Gottesverständnis in Frage zu stellen. Er sucht dieses Dilemma historisch aufzulösen. In den 1670er und 1680er Jahren habe Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes noch für notwendig gehalten, in späteren Werken dagegen schreibe er ihm »nur noch kontingente Geltung zu« (118). Erst damit werde Kontingenz radikal denkbar und ein Rückfall in einen spinozistischen Nezessitarismus konsequent vermieden. Allerdings sei der Preis hoch. Leibniz stehe damit vor der Alternative, entweder das rationalistische Erklärungsprinzip beizubehalten, dann aber Gottes Freiheit einzuschränken, weil Gott gar nicht anders kann als die b estmögliche Welt zu schaffen, oder aber die »rationalistische[n] Annahmen zugunsten seines Theismus« abzuschwächen (254). Einen Ausweg aus dem Dilemma sieht B. nicht, auch wenn er zugesteht, dass niemand so weit gegangen ist wie Leibniz, um »einen konsequenten Rationalismus mit einem konsequenten Theismus zu kombinieren, der eine echte Freiheit Gottes garantiert« (255). Ob es möglich ist, Rationalismus und Theismus »gleichzeitig konsistenterweise zu vertreten«, wagt er allerdings »hier nicht zu entscheiden« (256).
Der Punkt bleibt offen, weil das von B. herangezogene Instrumentarium der Modaltheorie der möglichen Welten die theologische Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht zur Geltung zu bringen vermag. Dass in der Schöpfung nichts möglich oder wirklich ist, ohne in der notwendigen Wirklichkeit Gottes fun-diert zu sein, hat Leibniz im ontologischen Argument ausgeführt. »Letztlich begründet er alle Modalitäten in einer einzigen Essenz, nämlich in derjenigen Gottes«, wie B. richtig sieht (108). Aber Erklärungen in der Schöpfung im Rekurs auf anderes Geschaffenes und die Erklärung der Schöpfung durch Rekurs auf den Schöpfer sind nicht von derselben Art. Sie lassen sich auch modallogisch nicht einheitlich fassen. Deshalb kann B. nur festhalten: »Ohne Gott, in dessen Intellekt die Essenzen aller möglichen Dinge in Form von Ideen existieren, hätten modale Fakten Leibniz zufolge nicht die Wahrmacher, die sie benötigen. Und da diese Essenzen wiederum in Gottes Essenz begründet sind, bildet Gott letztlich den Angelpunkt der gesamten Theorie.« (119) In der Tat. Eben deshalb kann keine Modaltheorie zur Rekonstruktion von Leibniz’ Metaphysik d er Modalität taugen, die der Differenz zwischen notwendiger Wirklichkeit des Schöpfers und kontingenter Wirklichkeit der Schöpfung keine Rechnung trägt. Die zeitgenössische Modaltheorie möglicher Welten ist an dieser Stelle ontologisch zu undifferenziert, um wirklich zum Kern von Leibniz’ Metaphysik der Modalität vorzustoßen.
Die Arbeiten von Poser und Bender bieten auf ihre unterschiedliche Art einen exzellenten Einstieg in die Auseinandersetzung mit Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Bender spitzt die Probleme auf die Aporien von Leibniz’ Theismus zu, Poser bietet mit der Einbettung der Modalitätenmetaphysik in Leibniz’ Sprach- und Zeichentheorie einen Horizont, in dem man mit Leibniz über Leibniz hinausgehen könnte. Damit ist der Punkt markiert, an dem weiter zu denken wäre.