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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1350–1352

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilson, Benjamin R.

Titel/Untertitel:

The Saving Cross of the Suffering Christ. The Death of Jesus in Lukan Soteriology.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 217 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 223. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-047582-1.

Rezensent:

Ulrike Mittmann

Die zur Veröffentlichung überarbeitete Dissertation von Benjamin R. Wilson (Cambridge 2014 bei Simon Gathercole) versteht sich als ein Versuch, die hochkontroverse Frage nach der soteriologischen Bedeutung des Kreuzes im lukanischen Doppelwerk perspektivisch neu auszurichten. Die Neubewertung der lukanischen Soteriologie erfolgt von alttestamentlich-jüdischen Vergleichstexten her und gipfelt in folgender These: »Luke conceives of the crucifixion as a cultic act of atonement that results in the establishment of a new covenant relationship between God and his people« (1).
W. gibt keine Auskunft darüber, ob er sich der Brisanz seines Ansatzes bewusst ist: der kultischen Deutung des Todes Jesu, die bis heute dem Großteil der Lukasforschung als unmögliche Denkmöglichkeit gilt. Da er den Verzicht auf den wissenschaftlichen Diskurs zum Programm erhebt (35), hat auch der Forschungsüberblick (Chapter 1) rein beschreibenden Charakter. In ihm reklamiert W. für sich eine Mittelposition zwischen denjenigen, welche die Heilsbedeutung des Kreuzes bei Lukas bestreiten, und denjenigen, welche von Jes 53 her die lukanische Soteriologie in die Nähe der paulinischen und markinischen Kreuzestheologie rücken.
Der Großteil der synchron angelegten Exegese (34) ist der Untersuchung ausgewählter Texte aus dem Lukasevangelium und der Apostelgeschichte gewidmet. Ausnahmslos wird skizzenhaft exe­gesiert, mit weitreichenden Konsequenzen für die soteriologische Argumentation. Das zeigt gleich zu Beginn die Analyse der Passionsanspielungen im Vorfeld der Leidensgeschichte (Chapter 2), bei der in den wichtigen Perikopen Lk 2,29–35 (Simeonerzählung) und Lk 4,16–31 (Antrittspredigt in Nazareth) gerade diejenigen Textpassagen unkommentiert bleiben, welche in anderen Entwürfen als soteriologische Schaltstellen im Gesamtwerk herausgestellt wurden (u. a. Lk 2,29–32 und Lk 4,18 f.). Die These, dass Lukas die Not wendigkeit des Leidens Jesu nach der Schrift besonders betone (50.65 u. ö.), ist nicht neu. Irritierend bleibt, dass W. hier (65) und andernorts von Jesu christologischer Mission (»christological mission«) redet, was als terminologischer Missgriff zu werten ist.
Die soteriologische Explikation im Sinne der sühnetheologischen Deutung des Kreuzes erfolgt nach W. in der Abendmahlserzählung Lk 22,15–20 (Langfassung), dem Haupttext seiner Arbeit (Chapter 3). Untersucht werden die im Text verarbeiteten Traditionen (Passa, Bund, eschatologisches Freudenmahl, kultisches Opfer, Gottesknecht), allerdings nicht in der philologischen Gründlichkeit der Vorgängerstudien. Aus den kultischen Bezügen folgert W., dass Lukas Jesu Tod als Sühnetod und Stiftung des neuen Bundes gedeutet habe. Auch wenn man hier im Ansatz zustimmend urteilen kann, muss man doch das ähnlich wie in der Einleitung formulierte Ergebnis – der Tod Jesu »as the cultic offering« (89) – strikt abweisen, da W. mit der Klassifizierung der Lebenshingabe Jesu als eines kultischen Akts kultische Deutungsmuster in reale kultisch-rituelle Vollzüge verkehrt.
Die Verifikation der genannten These erfolgt in Analyse ausgewählter Einzelstellen aus der Passionsgeschichte (Chapter 4), insbesondere der Kreuzigungserzählung. Den Bezug zum Sühnekult sieht W. im Vergebungswort Jesu (Lk 23,34 nach Lev 5,17 f. LXX) gegeben, während andere Stellen eher generell als Verweise auf die Notwendigkeit des Todes Jesu nach der Schrift zu verstehen seien. Die Bezüge zu Jes 53 werden zwar benannt, aber nicht soteriologisch ausgewertet, da W. in ihnen ein ausschließlich christologisches Interesse ausgedrückt sieht (99 f.110.192 u. ö.). Auch in der Apostelgeschichte (Chapter 5) steht für W. die Christologie im Vordergrund mit Ausnahme der in ihrer Deutung hoch umstrittenen Stelle Apg 20,28, die er wegen des Motivs der Blutausgießung als soteriologisches Gegenstück zu den Einsetzungsworten versteht (152–156).
Während alle bisher fixierten Ergebnisse als Wiederholung be­kannter Thesen gelten müssen, erweitert W. mit seinen Studien zum kultischen Grundmuster jüdischen Glaubenslebens (Chapter 6) den Horizont der Forschungsdiskussion mit dem Ziel, den für Lukas etablierten kultischen Deutungsansatz neu zu begründen. Die Analyse wichtiger Referenztexte ist noch knapper gehalten als in den vorangegangenen Kapiteln. Zwei kurze Überblicke zum priesterlichen Opferverständnis und zu kultisch geprägten Vorstellungen im Frühjudentum genügen W., um ein »pattern of Religion within early Judaism« (168) zu fixieren, dessen Charakteristikum der Zusammenhang von Buße/Umkehr, kultischer Sühne und göttlicher Vergebung sei (176 f.). Es entspreche dem soteriologischen Grundmuster im lukanischen Doppelwerk exakt (157–159) und erweise, so das Fazit (Chapter 7), die kultische Verankerung der lukanischen Kreuzestheologie (191 f.).
Dass diese Begründung einer kultischen Deutung des Kreuzes durch Lukas konsensfähig ist, wird man schon angesichts des historisch und theologisch nivellierenden Umgangs mit dem alttestamentlich-jüdischen Vergleichsmaterial bezweifeln. Die Identifikation der von W. fixierten religiösen Denkmuster scheitert auch an der bereits benannten Unmöglichkeit, Jesu Tod als kultischen Akt zu deuten. Zudem lässt die Argumentation W.s jegliche anthropologische Reflexion vermissen, in deren Licht sich für die Deutung des Todes Jesu als Opfer- und Sühnetod eine ganz andere Dynamik menschlicher Sündenbefreiung ergibt, als es in vielen der von W. zitierten alttestamentlich-jüdischen Quellen der Fall ist. Nicht überzeugend ist schließlich die Ausklammerung der angeblich nur christologisch relevanten Gottesknechtsbezüge aus der soteriologischen Diskussion, zumal W. wiederholt betont, dass der Tod die messianische Identität Jesu konstituiere (130.192 u. ö.). Forschungsgeschichtliche Bedeutung gewinnt das Werk dadurch, dass es in der Frage der sühnetheologischen Verankerung der Kreuzestheologie den allmählichen Umschwung in der Bewertung der lukanischen Soteriologie manifestiert. Grundlegend bleibt der Mangel an exegetischer Präzision, den W. am Ende seiner Arbeit selbst benennt (191): »More exhaustively detailed […] exegetical work on particular passages would surely supplement the present analysis« (191).