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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1263–1265

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Neidhart, Ludwig

Titel/Untertitel:

Gott und Zeit.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2017. 419 S. = Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie, 9. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-402-11902-0.

Rezensent:

Dirk Evers

In metaphysisch-analytisch orientierten Kreisen der Religionsphilosophie gibt es seit geraumer Zeit eine Debatte zwischen dem Lager der sogenannten »Äternalisten« und dem der »Temporalis-ten«. Die Gruppe der »Temporalisten« versucht, den Gottesgedanken so zu fassen, dass Gott selbst Zeitlichkeit zukommt. Die von klassischen metaphysischen Entwürfen festgehaltene zeitlose Ewigkeit der Existenz Gottes wird von ihnen zumindest in ihrem Weltbezug, z. B. in Bezug auf Gottes unvollständiges Vorherwissen der Zukunft, in Frage gestellt. Es liegt auf der Hand, dass damit einerseits Fragen nach der menschlichen Freiheit, nach der Kreativität einer sich vollziehenden Schöpfung, die unvorhersehbar Neues hervorzubringen in der Lage wäre, und Fragen nach dem Wesen der Zeit überhaupt verbunden sind, andererseits aber auch der Transzendenz-Gedanke ins Spiel kommt, wenn Gott nicht nur jenseits von Räumlichkeit und Körperlichkeit, sondern auch von Zeitlichkeit überhaupt gedacht werden soll. Der vorliegende Band, die Habilitationsschrift des an der Universität Augsburg lehrenden katholischen Religionsphilosophen und Theologen Ludwig Neidhart, hat sich vorgenommen, einige Aspekte dieser Debatte aufzuarbeiten und für eine Rettung des klassischen Äternalismus zu plädieren.
Nach einer kurzen Einführung entfaltet der Vf. in einem ersten Gedankengang den Begriff der göttlichen Allgegenwart in seinen räumlichen und zeitlichen Aspekten. Während die räumliche Allgegenwart als im Grunde unstrittig dargestellt und in ihrem Kern als die geistartige, kognitiv-kausale Koinzidenz von Gott mit allen Raumpunkten verstanden wird, erscheint die zeitliche Gegenwart Gottes als umstritten. In ihrer klassischen Form als mit allen Zeiten simultane, kognitiv-kausale Allgegenwart wird sie in neuerer Zeit kritisch gesehen. Der Vf. unterscheidet insgesamt vier verschiedene Möglichkeiten: eine omnitemporal-innerzeitliche Auffassung (vertreten von der Prozesstheologie und in Variation vom Offenen Theismus) und eine punktuell-innerzeitliche Auffassung (Gott hat seine eigentliche Existenz am Alpha- und/oder Omegapunkt der Schöpfung, vgl. Teilhard de Chardin oder F. Tipler), die als temporalistisch gelten können, und eine omnitemporal-überzeitliche Auffassung (Gottes Ewigkeit ist als Gottes zu jedem Zeitpunkt aktualisiertes Leben zu verstehen, vertreten etwa von E. Stump, N. Kretzmann u. a.) und eine atemporal-überzeitliche Auffassung (Gott existiert zeitlos außerhalb unserer Zeit, wirkt von außen auf sie ein und überschaut sie als Ganzes, zeitgenössischer Hauptvertreter B. Leftow), die als Varianten einer äternalistischen Konzeption anzusehen sind und deren Kombination der Vf. verteidigen möchte.
An diese Exposition der Fragestellung schließt sich ein Kapitel über den Gottesbegriff an, der aus der bekannten Formel des An­selm von Canterbury aus dessen Proslogion im Sinne einer Wesensbestimmung Gottes hergeleitet wird. Dieses Wesen wird dann mit Hilfe der klassischen Gottesbeweise als existierend erwiesen. Es folgt ein Kapitel zur Phänomenologie und zum Wesen der Zeit, das mit den bekannten Analysen zur Realität bzw. Irrealität der Zeit nach McTaggart beginnt und auch hier für einen Äternalismus (allen Zeitmodi kommt Realität zu) plädiert. Originell ist das Konzept verschiedener Grade von Wirklichkeit, bei denen die Ge­genwart als »vollwirklich«, die Zukunft als das immer mehr, die Vergangenheit als das immer weniger Wirkliche angesehen wird. Dieser Fluss der Zeit als Wirklichkeitsgefälle mit einer Art Wirklichkeitswelle in der Gegenwart wird vom Vf. als Bedingung der Möglichkeit des Vollkommenheitsstrebens der Geschöpfe verstanden, was als Seinsmodus eines vollkommen seienden göttlichen Wesens gerade nicht in Betracht kommt. Mit dem folgenden Kapitel zum Begriff der Ewigkeit ist dann ein erster Zielpunkt der Argumentation erreicht, wenn der Vf. vor dem Hintergrund der erarbeiteten Gottes- und Zeitbegriffe das Verhältnis von Gottes Ewigkeit zur Zeit bestimmt als das Verhältnis eines eigenen, nur Gott selbst umfassenden, raumzeitlich nicht ausgedehnten Universums (dem eigentlichen »Aufenthaltsort« Gottes) zu unserem zeitlich und räumlich ausgedehnten Universum, in dem Gott durch sein Wirken und Erkennen kausal-kognitiv gegenwärtig ist, auch wenn er außerhalb der Raumzeit in seiner Ewigkeit existiert.
Bevor dann im Schlusskapitel eine abschließende Abwägung der Argumente für und gegen den beschriebenen Äternalismus vorgenommen wird, möchte der Vf. noch erörtern, ob und inwiefern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien über die Zeit für das Thema der Ewigkeit Gottes relevant sind, und wie geschöpfliche Freiheit und Gottes in seiner Ewigkeit begründetes Vorherwissen alles zeitlichen Geschehens miteinander zu vereinbaren sind. Die Ausführungen zur speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie (der Vf. hat auch ein Mathematikstudium mit dem Zweitfach Physik vorzuweisen) sind dabei allerdings recht technisch ausgefallen und tragen für das Thema am Ende wenig aus. Als Ergebnis hält der Vf. fest, dass, wenn die Interpretation von Einstein richtig ist, die Relativitätstheorie für den Äternalismus spricht. Ist allerdings die mögliche Alternative einer absoluten Zeit im Universum, die Lorentz, Poincaré u. a. vertreten haben, richtig, wird der Äternalismus von der Relativitätstheorie nicht gestützt, ein Temporalismus allerdings auch nicht. Was das Freiheitsproblem angeht, so argumentiert der Vf. für die Vereinbarkeit sowohl von Vorherwissen als auch von Prädestination mit menschlicher Freiheit, sofern unter Prädestination im Sinne des Molinismus das Herbeiführen derjenigen Umstände verstanden wird, unter denen die von Gott erwählten Personen freiwillig gute Taten vollbringen. Die genauen Zusammenhänge bleiben zwar ein »Geheimnis« (357), doch kann der Molinismus als die relativ beste Erklärung für die Vereinbarkeit von Freiheit und Prädestination gelten. Der Molinismus aber setzt eine äternalistische Auffassung von Gottes Überzeitlichkeit voraus, so dass sich auch hier eine Stützung des Äternalismus ergibt.
Zum Abschluss stellt der Vf. in einer hilfreichen Übersicht die wichtigsten Argumente in der Debatte zwischen Temporalisten und Äternalisten systematisch und in Form von Thesen zusammen. Zunächst werden Argumente für die Temporalität Gottes ausgeführt und zurückgewiesen, dann folgen Argumente für die Überzeitlichkeit Gottes, die nach Stringenz und Überzeugungskraft bewertet werden. Es bleibt für den Vf. dabei, dass es eine ganze Reihe von guten und gültigen Argumenten dafür gibt, dass Gott in seiner ewigen Natur zeitlos ist, und dass darin philosophische Analyse, biblische Überlieferung und christliche Tradition übereinkommen. Die letzte Fußnote dieses Abschnitts deutet an, dass daraus die Frage entsteht, ob und wie es möglich ist, dass die ewige Natur Gottes eine zweite, temporale und wandelbare Natur annimmt, wie dies in klassischen Konzeptionen der Inkarnation behauptet wird. Diese Frage aber, so der Vf., ist philosophisch nicht entscheidbar. Hier wie im ganzen Buch vertritt der Vf. also ein Zuordnungsmodell von Philosophie und Theologie, bei dem die Philosophie in Kongruenz mit wesentlichen Teilen der Offenbarungsschriften die praeambula ad articulos entfaltet, die beson-deren Glaubensartikel aber den Offenbarungsschriften und der Überlieferung der Kirche vorbehalten sind.
Wer sich für die Debatten um Temporalismus und Äternalismus in der neueren, vorwiegend katholisch geprägten analytischen Religionsphilosophie in­teressiert, findet in diesem Band eine gute Übersicht über die verhandelten Fragestellungen. Perspek-tiven darüber hinaus oder eine kritische Reflexion auf die zur Anwendung gebrachte Methodik sucht man freilich vergebens, und Prozessphilosophie, offener Theismus und Argumente aus anderen Bereichen der Naturwissenschaften (z. B. Systemtheorie, Thermodynamik) scheinen dem Rezensenten doch bedenkenswerter zu sein, als dies in der vorliegenden Arbeit zum Ausdruck kommt.