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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1252–1254

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Thonhauser, Gerhard

Titel/Untertitel:

Ein rätselhaftes Zeichen. Zum Verhältnis von Martin Heidegger und Søren Kierkegaard.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 518 S. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 33. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-044372-1.

Rezensent:

Thomas Rentsch

Der erste Teil der Untersuchung von Gerhard Thonhauser rekonstruiert akribisch die komplexe Entwicklung der deutschen Rezeptionen der Werke Kierkegaards insbesondere im Blick auf die Geschichte ihrer Übersetzungen seit 1872. Dabei wird auch die Qualität der Übersetzungen thematisiert. Das betrifft vor allem die seit 1909 erscheinenden Gesammelten Werke, denn die Übersetzungen Christoph Schrempfs weisen offenbar schwere Mängel auf. Als Fazit der deutschen Kierkegaard-Rezeption vor Heidegger unterscheidet T. drei konkurrierende Ansätze: Kierkegaard wird als kirchlicher »Erbauungsschriftsteller«, als »Literat und biographisch-psychologisches Phänomen« oder als »Kirchenkritiker und Philosoph« begriffen (137). Auf diesem Hintergrund lässt sich auch das einflussreiche Bild von Kierkegaard als »Denker der Innerlichkeit« verstehen, das Karl Jaspers entwickelt und das für Heidegger sehr wichtig wird (137 f.). Ebenso wichtig für Heideggers Rezeption wird Theodor Haecker, der Kierkegaard seit 1914 übersetzt und diesen als Kritiker der Moderne versteht (31–138).
Der zweite Teil des Buches arbeitet die Phasen von Heideggers Kierkegaard-Konzeption sehr differenziert heraus. Zunächst wird die Rezeption der frühen Freiburger Jahre aufgrund der expliziten Rekurse und Zitate analysiert. Die Bedeutung von Jaspers in diesem Kontext wird klar, vor allem aber Heideggers zentraler Blick gerade auf die Methodologie Kierkegaards, so auf seine Konzeption der »indirekten Mitteilung«, die für Heideggers Konzeption der »formalen Anzeige« wichtig wird. Ab 1921 lässt sich in Heideggers Denken eine Spannung »zwischen Kierkegaard und Aristoteles« konstatieren, die zur »Destruktion der aristotelischen Ontologie« und zum »Projekt einer Destruktion der Geschichte der Philosophie« führt (240–243; 141–243).
Im Folgenden werden die Marburger Jahre zum Thema fokussiert. Es wird deutlich, dass erhebliche Differenzen Heideggers Konzeption des »Man« von Kierkegaards Begriff der »Menge« trennen. Heideggers Konzeption ist systematisch viel weitreichender (252–275). Kierkegaards »Selbst« und Heideggers »Dasein« sind sich durch ihren Status als Selbstverhältnis nahe (276–290). Die Zeitlichkeitsanalysen beider Autoren entsprechen sich im Blick auf die triadische Ekstatik der Zeit überhaupt nicht, wohl jedoch bei Einzelanalysen zu den Ekstasen (so beim Primat der Zukünftigkeit, bei Aspekten der Wiederholung und bei der Auszeichnung des Augenblicks; 291–310). In den Todesanalysen entsprechen sich die Dimensionen der Eigenheit, der Unvertretbarkeit, der Gewissheit und der Unbestimmtheit des Todes, ebenso seine sinnkonstitutive Bedeutung für das ganze Leben jedes einzelnen Menschen (311–328). Die Konzeptionen der Angst zeigen bei genauer Analyse entgegen üblichen Deutungen gerade die Differenz von Heideggers Ansatz. Dieser bezieht die Angst auf die Kontingenz des Seienden im Ganzen, während Kierkegaard die Angst allein auf die Zukunft der eigenen Existenz bezieht (329–342). Mit Blick auf die Geschichte wird deutlich, dass es beiden Autoren zwar um eine »Destruktion der Tradition« und eine »Kritik der Gegenwart« geht (362), dass Kierkegaards Denken jedoch viel individualistischer ist als das Heideggers. Dennoch bleibt das Verhältnis der existenziellen Geschichtlichkeit zu konkreten historischen Prozessen unklar, worin T. auch einen Grund für Heideggers Versagen im Nationalsozialismus sieht (348–364).
Kierkegaards Bedeutung für Heideggers Analyse des Mitseins zeigt eine tiefgreifende Differenz, eine »Abkehr von Kierkegaard« (398) und dessen Individualismus, demgegenüber den Einfluss von Augustinus (365–399).
Das seinsgeschichtliche Denken Heideggers vertieft diese Ab­kehr, allerdings ohne den Verzicht auf die methodologischen As­pekte der Rezeption (403–468).
Die »Zusammenfassung« (471–477) akzentuiert die methodologische Deutung von Heideggers Rezeption mit Bezug auf indirekte Mitteilung und formale Anzeige, den Einfluss der Interpretationen von Jaspers, die tiefgreifende Differenz der Gesamtprojekte beider Autoren (»Möglichkeit der Christwerdung«, »Frage nach dem Sinn des Seins«; 473), demgegenüber die sehr intensive affirmative Rezeptionsphase von 1929/30 bis 1934, die spätere Abwendung im Kontext der Rezeption Nietzsches und Hölderlins und ebenso im Kontext von Heideggers Kritik an einer anthropolo-gisch-existenzialistischen Deutung von Sein und Zeit in seinem späteren Denken, schließlich das »Desinteresse der Spätphase« (477).
Die umfassende Arbeit von T. zeichnet sich durch die sehr ge­naue Rekonstruktion der Rezeption der Werke Kierkegaards in Deutschland vor Heidegger insbesondere mit Blick auf den heterogenen Status der Übersetzungen aus. Ebenso genau und in vielem innovativ werden die sehr unterschiedlichen Phasen der Rezeption Heideggers analysiert. Zentral ist die These, dass eben gerade nicht der Ansatz des »Existentialismus«, sondern die Methodologie Kierkegaards den Schwerpunkt dieser Rezeption ausmachte. In den hermeneutischen Einzeluntersuchungen werden zudem gerade die Differenzen zwischen Heideggers und Kierkegaards Denken verdeutlicht. Dennoch wird auch klar, dass sich das Problem der Klärung des Verhältnisses der menschlichen Existenz zur konkreten Geschichtlichkeit von Kierkegaard zu Heidegger weitervererbt und auch bei diesem offen bleibt. Die Arbeit von T. wird für die weitere Forschung unverzichtbar sein. Als Ergänzung würde ich lediglich anregen, im thematisierten Kontext auch die historische wie systematische Bedeutung von Hans Jonas zwischen Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Bultmann und der Gnosis-Forschung einzubeziehen und zu klären.