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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1208–1211

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd, u. Petra von Gemünden

Titel/Untertitel:

Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 560 S. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-525-51013-1.

Rezensent:

Walter Klaiber

Ein neues Buch aus der Werkstatt von Gerd Theißen lässt immer auf ein innovatives Werk hoffen. Diese Erwartung wird nicht enttäuscht. Die Grundgedanken dazu waren lange angekündigt (vgl. G. Theißen in: Eve-Marie Becker [Hrsg.], Neutestamentliche Wissenschaft, Tübingen 2003, 179 f.). Nun liegt der Gesamtentwurf vor. Laut Vorwort stammen ca. 70 Seiten von Petra von Gemünden, der Rest von Gerd Theißen, aber der Text als Ganzer wird von beiden verantwortet.
Auf eine Einleitung folgt als erstes Kapitel Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung. Eine forschungsgeschichtliche Einführung (27–58). Die verschiedenen kritischen Ansätze, die vorgestellt werden, können integriert werden, wenn man »die innere Widersprüchlichkeit der Theologie des Paulus akzeptiert und als sinnvoll zu deuten versucht« (52). Dieser »Versuch, alte und neue Paulusauslegung zusammenzuführen, stellt Paulus als Reformator des Judentums dar« (53). Paulus will sein zentrales Anliegen, »die universale Öffnung des Judentums für alle Völker«, »durch Erneuerung des Judentums realisieren« (53).
Nun folgt eine sechsfache Lektüre des ganzen Briefs. Die dadurch entstehenden Redundanzen werden in Kauf genommen (16). Am Beginn steht: Der Gedankengang des Römerbriefs. Eine textimmanente Lektüre (59–88). Der »systematische Teil« des Briefs (1,18–11,36) ist nach vier leitenden Heilskonzepten gegliedert: Heil durch Werke (1,18–3,20), durch Glauben (3,21–5,21), durch Verwandlung (6,1–8,39) und durch Erwählung (9,1–11,36). Nach einer genauen Analyse folgern die Vf.: »Alle Heilskonzepte scheitern« – allerdings »nur deshalb, weil sie eine durchgehende Aussage haben: Gott bietet seine Gnade allen Menschen unbedingt an« (81). Ein überraschendes Ergebnis dieser Durchsicht ist die These, »dass Paulus zwei Versionen des Briefs verschickt hat, eine längere nach Ephesus [mit Kapitel 16], die er zuerst diktiert hat, eine kürzere nach Rom«. Beide sind authentisch, die nach Ephesus war an die durch das Claudiusedikt aus Rom verbannten Christen gerichtet.
Es folgt: Konflikte im Imperium und im Christentum. Eine historische Lektüre (89–134). Hier wird mit einer Fülle von Beobachtungen der zeitgeschichtliche Hintergrund des Briefs aufgezeigt, u. a. der Hintergrund der Staatsparänese in 13,1–7 in der aktuellen politischen Situation. Der Brief ist in missionarischer, pastoraler, (kirchen-)politischer und literarischer Absicht geschrieben und gehört, wie zu Recht betont wird, zur »Weltliteratur« (129).
Der dritte Durchgang lautet: Theologische Bilder im Römerbrief. Eine bildsemantische Lektüre (135–226). Dieser Abschnitt dürfte der innovativste der Untersuchung sein. Die Vf. zeigen, dass die verschiedenen Teile des Briefs auch von verschiedenen Bildfeldern bestimmt sind: Politische Bilder (König, Richter, Priester) in 1–5; familiäre Bilder (Sklave, Frau, Sohn) in 6–8, Berufsbilder (Töpfer und Gärtner) in 9–11 und eine Polyphonie der Bilder im paränetischen Teil (12–15). Die materialreiche Darbietung ist nicht überall gleich schlüssig, hervorragend aber die Darstellung der Interpretation der Bedeutung des Todes Jesu durch die kultische Deutung als Sühne, die juridische Deutung als Stellvertretung und das diplomatische Mo­tiv als Versöhnung (148–159) und die Bestimmung ihres gemeinsamen »Nenners« als Beschreibung einer realen »Entstörung« des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch.
Zentral ist der vierte Durchgang: Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien. Eine theologische Lektüre (227–296). Hier werden die vier »Heilskonzepte«, die schon im ersten Durchgang kurz vorgestellt wurden, im Einzelnen theologisch entfaltet. Grundlegend ist dabei die Deutung des paulinischen Verständnisses von Sünde – und damit von Unheil – als »Beziehungsstörung zu Gott, Gesetzesübertretung und Fehlorientierung am Gesetz« (228). Der letzte Punkt schließt auch die Annahme einer grundsätzlichen Gesetzeskritik bei Paulus ein, womit die Vf. entschlossen und mutig für das Recht der klassischen reformatorischen Interpretation der Rechtfertigungslehre eintreten. Durch die Unterscheidung der verschiedenen Heilskonzepte lässt sich aber auch das Recht neuerer Interpretationen der Rechtfertigungslehre des Paulus, einschließlich der New Perspective (293 ff.), aufweisen. Doch wieder zeigt sich: Paulus »scheitert mit jedem Heilskonzept«, allerdings »nur, weil eine grundlegende Gewissheit seine Gedanken immer wieder sprengt: Der eine und einzige Gott will das Heil des ganzen Menschen und das Heil aller Menschen« (296).
Davon handelt der vorletzte Durchgang: Die Universalisierung des Heils für alle Menschen. Eine sozialgeschichtliche Lektüre (297–356). Die Vf. beschreiben hier die soziale Situation der ersten Christen und die unterschiedlichen Dynamiken der Universalisierung in Gesellschaft und Gemeinde. Etwas spekulativ scheint mir die Be­schreibung der Hoffnung des Paulus als »Traum von der Öffnung des Tempels« (311–326). Auch der antiochenische Speisekonflikt (Gal 2,11–14) wäre m. E. nicht ohne Weiteres mit den gleichen Grundsätzen zu lösen gewesen wie der in Rom nach Röm 14 und 15 (gegen 352).
Der letzte Durchgang ist: Die Transformation des ganzen Menschen. Eine psychologische Lektüre (357–441). Hier wagen die Vf., den Brief unter der Perspektive von Biographie und persönlicher Situation des Paulus zu lesen. Die »Furcht des Paulus« prägt den Brief auf weite Strecken und wird zugleich durch ihn verarbeitet (366–382). In den vier Heilskonzepten spiegelt sich die geistliche Biographie des Paulus wider (382–414). Die Rechtfertigungsbotschaft ist in der persönlichen Wende des Paulus begründet, und das Verhalten seiner Gegner konfrontiert Paulus mit der eigenen Vergangenheit und zwingt ihn zu einer Neuformulierung der Rechtfertigungslehre. Und nicht zuletzt zeigen sich im »Zwiespalt des Menschen« (415–441), dessen unterschiedliche Aspekte der Römerbrief aufweist, auch die inneren Konflikte des Paulus. Deshalb ist das Ich in Röm 7 »kein rhetorisch-fiktives Ich« (431), sondern ein »typisches Ich …, das Paulus logisch einschließt und psychologisch auch durch seine Erfahrung geprägt ist« (437). »Alles, was Paulus im Römerbrief sagt, hat Resonanz in seinem Leben. Daher ist dieser sachlichste aller Paulusbriefe zugleich auch der persönlichste« (441).
Ein letztes Kapitel: Der Römerbrief – Rechenschaft eines scheiternden Reformators (442–488), bringt »eine synthetische Darstellung der Reformvorstellungen des Paulus und ihrer Aporien« (496) und als wichtigen Exkurs den Versuch einer psychologischen Deutung des Sühnetods Jesu (477–486). Eine Zusammenfassung (489–497) zeichnet noch einmal den Gang der Untersuchung nach. Eine Liste der Exkurse und Tabellen, ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Stellen-, Sach- und Stichwortregister schließen das Werk ab.
Schon diese ausführliche Wiedergabe des Inhalts sollte gezeigt haben: Wir haben ein Werk vor uns, in dem sowohl die Ergebnisse neuerer Paulusexegese als auch eine Fülle von innovativen Einzel-beobachtungen mit stupender Literaturkenntnis und bemerkens-werter synthetischer Kraft zu einem Gesamtbild des Briefs zusam-mengefasst werden. Unterschiedliche Aspekte der paulinischen Aussagen werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ein eindrückliches, mehrdimensionales Bild der Persönlichkeit und Theologie des Paulus eingezeichnet. Gelegentlich kann man fragen, ob nicht manche Beobachtung etwas zu forciert in ein vorgegebenes Deutungsschema eingespannt wird, aber insgesamt ergibt sich eine überzeugende Gesamtschau.
Nicht überzeugt hat mich freilich die Annahme einer doppelten Version des Briefes nach Ephesus und nach Rom und vor allem die These vom Scheitern aller Heilskonzepte des Paulus. Natürlich kann man sagen, dass Paulus als Erneuerer des Judentums gescheitert ist. Aber dass er selbst – abgesehen vom Konzept des Heils durch Werke – den Eindruck hatte, mit seinen theologischen Entwürfen gescheitert zu sein, und er deshalb immer wieder neue entwickelt habe, kann ich dem Römerbrief nicht entnehmen. Doch gerade deshalb bin ich für die eindringliche und differenzierte Darstellung der Bot schaft des Apostels in diesem Brief mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten und Aspekten dankbar.