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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

965–967

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Markus

Titel/Untertitel:

Charismatische Spiritualität und Seelsorge. Der Volksmissionskreis Sachsen bis 1990.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2017. 522 S. m. 2 Abb. = Kirche – Konfession – Religion, 69. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-8471-0704-0.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Der Volksmissionskreis Sachsen (= VMK) entwickelte sich nach 1945 in kurzer Zeit zu einer charismatisch-erwecklichen Bewegung, die sich auf große Teile der Landeskirche erstreckte. 1972 existierten 105 sogenannte Kernkreise, d. h. ortsgemeindliche ecclesiolae in ecclesia mit je bis zu ca. 100 Mitgliedern, die sich den spirituellen Leitmo-tiven des VMK verpflichtet wussten. Die Wurzeln des VMK liegen in der Oxford-Gruppenbewegung, in der von Gerhard Hilbert und Gerhard Füllkrug angeregten Kirchlichen Volksmission, in der Säch­sischen Posaunenmission und in der Bekennenden Kirche. Markus Schmidt beschreibt in seiner bei Peter Zimmerling in Leipzig erarbeiteten Dissertation in praktisch-theologischem Interesse die Entstehung und Entwicklung des VMK bis 1990 anhand eines bisher weitgehend unbekannten Quellenmaterials, das er aus Ar­chiven und Äußerungen von Zeitzeugen zusammentrug und sorgfältig auswertete. Die Orts- und Personenregister zeigen die Ausdehnung und die lokalen Zentren des Geschehens: Bräunsdorf (jetzt zu Limbach-Oberfrohna gehörig) mit Pf. Gerhard Küttner sowie Großhartmannsdorf bei Freiberg mit Pf. Christoph Richter. Besondere Bedeutung erhielten diese Gemeinden durch die Bildung einer Schwesternschaft und der Tertiärgemeinschaft »Johannesring« in Bräunsdorf sowie einer Bruderschaft und der Tertiärgemeinschaft »Philippusring« in Großhartmannsdorf, ferner durch stark besuchte Evangelisationen und übergemeindlich ausstrahlende Rüstzeiten.
S. zeigt, dass dem VMK eine Vorreiterrolle in der innerkirchlichen charismatischen Bewegung in Deutschland zukommt. Dazu trug der fränkische lutherische Pfarrer Otto Siegfried von Bibra wesentlich bei. Wichtige Impulse gaben die Christusbruderschaft Selbitz und die Marienschwestern Darmstadt. Küttners Selbstverständnis verschob sich zunehmend von dem eines Evangelisten zu dem eines Hirten mit Leitungsvollmacht. Dieser Anspruch geriet in Konflikt mit dem kooperativen Stil des VMK, der sich gern als »Mannschaft« bezeichnete und im Team handelte. Unter dem Einfluss des Oekumenischen Christusdienstes bzw. der Bruderschaft vom gemeinsamen Leben und der katholisch-apostolischen Tradition gewann besonders bei Küttner das Amtsdenken an Bedeutung, und seit 1969 nannte sich der VMK auch »Christusdienst Sachsen«. In Bräunsdorf entstanden Parallelstrukturen geistlicher und institutioneller Ämter, und in den siebziger Jahren spaltete die dortige Gemeinde sich in Anhänger Küttners und seines Nachfolgers, der ebenfalls zum VMK gehörte. 1977 wurde Küttner vom Vorstand ausgeschlossen. S. stellt die Ereignisse mit der nötigen Vorsicht dar. Theologische Differenzen und menschliche Probleme dürften sich verquickt haben. Küttners dominante Persönlichkeit kollidierte mit dem den VMK prägenden Gemeinschaftsaspekt, seine zunehmende Betonung der Ämter stand in Spannung zum Allgemeinen Priestertum aller Glaubenden, das im VMK praktische Bedeutung gewonnen hatte. Sehr problematisch wirkte seine These, okkulte Bindungen von Vorfahren würden Gläubige über Generationen hin belasten und müssten exorzistisch gelöst werden.
S. versteht den VMK zutreffend als Seelsorgebewegung eigener Art. Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zur Kerygmatischen Seelsorge werden beschrieben. Während die Seelsorge für Asmussen ein Spezialfall der Predigt ist, könne für den VMK zugespitzt formuliert werden: »Die Predigt ist ein Spezialfall der Seelsorge« (303). Es besteht ein Zirkel von cura animarum generalis und specialis. Seelsorge geschieht in der Gemeinschaft, die im Kerngemeindekreis ihre Sozialgestalt gewinnt, und sie strahlt aus in den volkskirchlichen Raum. Missionarisches Handeln zielt darauf, Menschen für ein Leben mit Christus und damit in dieser Gemeinschaft zu gewinnen. Tragende und zentrale Elemente dieses Lebens sind das Gebet und die Beichte. Die in den Kerngemeindekreisen wirksame Gruppendynamik enthält die Gefahr, dass die Freiheit zur Einzelbeichte sich in ein neues Gesetz verkehrt und sie zum Kriterium für authentisches Christsein erhoben wird.
S. stellt die Befunde so sachlich und klar dar, dass ihre Bedeutung für aktuelle praktisch-theologische Themen unmittelbar einleuchtet. Als Beispiel sei die Allgemeine Beichte im Gottesdienst genannt. Sie war im VMK umstritten, weil bußfertige und nach Absolution verlangende Christen in der volkskirchlichen Situation nicht pauschal vorausgesetzt werden konnten. Insbesondere die Absolutionsformel stieß auf Bedenken. Die Gemeinde Großhartmannsdorf gab dagegen der Allgemeinen Beichte ihren liturgischen Ort im Anschluss an die Predigt. S. sympathisiert mit dieser Variante, in der die Allgemeine Beichte nicht mehr als Konkurrenz, sondern als Ergänzung der Einzelbeichte im Sinne der cura generalis verstanden wird, und er lehnt das Confiteor im Eingangsteil ab. Er verweist damit auf ein in der gegenwärtigen Theorie und Praxis des evangelischen Gottesdienstes vernachlässigtes Thema.
Ein anderes Problem war für den VMK die volkskirchliche Taufe. Ein zum Kreis gehörender Pfarrer empfing 1952 die Wiedertaufe. Küttner erklärte Beichte und Absolution, Exorzismus und Abrenuntiation, sogar die Krankenheilung für notwendige Bestandteile der Taufe, die nachgeholt werden müssen, da sie nicht mit der Kindertaufe verbunden sein können. Diese Handlungen gewinnen damit sakramentale Qualität. Eine solche Tauflehre führt zur Ab­grenzung der in diesem Sinn vollständig von den nur ergänzungsbedürftig Getauften. Zwischen dem Kerngemeindekreis und den übrigen Gemeindegliedern entsteht damit eine tauftheologisch begründete Trennlinie. Wie ist sie zu überwinden, ohne dass die Taufe zu einem spirituell folgenlosen Ritus degeneriert? Die vorliegende Untersuchung ist ein gutes Beispiel dafür, wie historische Detailforschung dazu helfen kann, über aktuelle praktisch-theologische Probleme nachzudenken.