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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

962–964

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Käbisch, David [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Niebergall. Werk und Wirkung eines liberalen Theologen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. IX, 288 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 19. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-154720-1.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Friedrich Niebergall (1866–1932), der zunächst in Heidelberg und dann in Marburg Praktische Theologie lehrte und eine voluminöse zweibändige »Praktische Theologie« (Tübingen 1918/19) verfasste, wird zusammen mit Paul Drews und Otto Baumgarten zu den »Großen Drei« der ersten empirischen Wendung in der praktischen Disziplin der Theologie gerechnet. Noch bekannter ist er vielen aber durch den beißenden Spott von Karl Barth, der in seinem zweiten »Römerbrief« von 1921 geschrieben hatte: »Meinen die Historiker denn wirklich, damit hätten sie ihre Pflicht gegenüber der menschlichen Gesellschaft erfüllt, dass sie re bene gesta im fünften Band – Niebergall das Wort erteilen?« (XIII; bezogen auf N.s »Praktische Auslegung« des Neuen Testaments von 1908/09, HNT V)
Seitdem wurde N. viel geschmäht bzw. ignoriert, bis ihn dann Henning Luther in seiner Habilitationsschrift von 1984 zum Kronzeugen der Subjektorientierung in der Religionspädagogik machte; Dietrich Zilleßen wiederum erhob 1989 schwere Vorwürfe gegenüber N.s gesinnungsethischer Vorbildpädagogik. Der 150. Geburtstag N.s war nun der Anlass, seine Bedeutung detaillierter und differenzierter darzustellen. Seit 2012 traf sich darum in Marburg eine Gruppe von Praktischen Theologen unter Leitung von David Käbisch, der in dem vorliegenden Sammelband das Ergebnis der gemeinsamen Forschungen präsentiert.
Nach einer Einleitung des Herausgebers (1–21) wird zunächst das Werk N.s – von durchweg jüngeren Lehrenden der Praktischen Theologie – vorgestellt (Henrik Simojoki, Bernd Schröder, Tobias Braune-Krickau/David Käbisch, Martina Kumlehn, Tobias Sarx, 25–128), bevor David Käbisch, Rainer Lachmann, Ulrike Wagner-Rau und Bernhard Dressler seine »Wirkung« ausführlich und sehr differenziert würdigen (131–214). Eine von David Käbisch und Bernd Schröder formulierte »Bilanz« (217–231) rundet den Band ab; beigegeben sind Dokumente über die praktisch-theologische Arbeit in Marburg einschließlich aller dortigen praktisch-theologischen Se­minare und Vorlesungen zwischen 1912 und 1938 sowie eine Marburger Predigt N.s von 1924 (235–268). Hilfreiche Personen-, Orts- und Sachregister finden sich ganz am Schluss (271–288). Schon an dieser Stelle sei vermerkt, dass der gesamte Band hervorragend lektoriert, d. h. völlig fehlerfrei ist.
Friedrich Niebergalls Ansatz der Praktischen Theologie ist ge­wiss überholt, und vor allem seine Auslassungen zur »Volkskunde« sind voller großbürgerlicher Vorurteile und Peinlichkeiten (die in dem vorliegenden Band nur sehr sparsam zur Sprache kommen). Man vergleiche dazu einmal in der »Praktischen Theologie« von 1918/19 die Bemerkungen über die »Halbbildung« des »Bürgerstandes«, über die »kleinen Leute« und die »kleinen Beamten«. Die dortigen Urteile werden durch keinerlei soziologische Betrachtung differenziert und durch keine selbstkritische Überlegung relativiert (Bd. I, 146–150). Gleichwohl hat N. das doppelte Verdienst, Religionspädagogik und Homiletik (vgl. dazu die eindrückliche Analyse einer Marburger Universitätspredigt N.s von T. Braune-Krickau und D. Käbisch, 59–73) in empirischer Weise betrieben und über den Begriff der »kirchlichen Gemeindeerziehung« mit der Kybernetik zusammengedacht zu haben. Waren »Gemeindepädagogik« und »Gemeindeaufbau« erst Bestrebungen der 1980er Jahre, so hatte N. schon 1918/19 entsprechende Ansätze vorausgedacht und mit seinem Entwurf eine in sich schlüssige Form von »Einheit der Praktischen Theologie« präsentiert, die das Fach bis heute – angesichts weiter zunehmender Differenzierung – mit immer größerer Mühe anstrebt.
Lässt man die – sämtlich sehr gehaltvollen – Beiträge des vorliegenden Bandes auf sich wirken, dann ergeben sich in der Tat vertiefte Einblicke nicht nur in Ns. Werk, sondern in die Fachgeschichte insgesamt. Werkbiographisch wundert es, dass die Marburger Zeit N.s (1922–1932) de facto keine neuen Entwicklungen mehr brachte. Zwar änderte sich noch der eine oder andere Akzent, aber nach dem Lehrbuch von 1918/19 erreichten die Spätschriften der 20er Jahre nicht mehr das Diskussionsniveau der damaligen Theologie (so mit Recht D. Käbisch und B. Schröder, 219). Der geis­tige Kosmos Marburgs mit Martin Heidegger, Rudolf Bultmann und Rudolf Otto kam an N.s Horizont nicht heran. T. Braune-Kri-ckau und D. Käbisch zeigen so, wie Bultmann den von N. verantworteten Universitätsgottesdienst scharf kritisierte und in seinem Dekanat 1924/25 zu reformieren suchte (69). N. setzte sich zwar 1924–1932 mit den gesellschaftlichen und theologischen Strömungen seiner Zeit auseinander (so T. Sarx, besonders 100–106); dennoch wurde der Grundansatz von N.s theologischem Urteil durch diese Beschäftigung nicht beeinflusst.
N.s Ferne zur damals aktuellen Marburger Theologie war wohl darin begründet, dass seine Praktische Theologie an die grund-legenden zeitdiagnostischen, also an die philosophischen, kulturtheologischen und sozialtheoretischen Überlegungen keinen An­schluss mehr fand. Das gilt trotz der von H. Simojoki und B. Schröder neu herausgearbeiteten Veränderungen im Werk N.s (zusammenfassend 39 f.52 ff.) und wird besonders in dem glänzenden bildungstheoretischen Beitrag von B. Dressler ganz am Schluss des Bandes deutlich: N.s Kategorie der Subjektivität steht nach Dressler »im Schatten eines eher paternalistischen Erziehungsbegriffes« (212). Man kann aus den Beiträgen des Bandes mithin die Warnung an eine jegliche Form von empirischer Praktischer Theologie ableiten: Nicht jede Operationalisierung ist innovativ, nicht jede Sammlung von Daten dient dem tieferen Verstehen.
Wie in einem Sammelband üblich, sind die Akzente der verschiedenen Beiträge durchaus unterschiedlich. Ein engagiertes Plädoyer für die Berücksichtigung N.s in der Religionspädagogik formuliert R. Lachmann: Man solle »allen Tendenzen in den eigenen Reihen wehren, das in der Evangelischen Unterweisung praktizierte Verschweigen und Verketzern Friedrich Niebergalls wieder aufleben zu lassen« (177). U. Wagner-Rau unterstreicht Henning Luthers Berufung auf N. als Protagonisten der Subjektorientierung im Jahre 1984 als bleibende Maxime für die Gegenwart. Seitdem sei die Subjektivierung religiöser Praxis noch stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und die Bedeutung von Intersubjektivität »noch unausweichlicher« geworden (197). Und in der Tat gelingt es M. Kumlehn zu zeigen, dass die Bibeldidaktik N.s jedenfalls in ihrem methodischen Ansatz am stärksten von bleibender Bedeutung ist: Man könne ihn durchaus »als einen Wegbereiter einer rezeptions- und aneignungsoffenen Bibeldidaktik« in Anspruch nehmen sowie bei ihm erste Ansätze einer »bewussten Didaktik des Fremden« ausmachen (87).
So lässt sich etwas zugespitzt bilanzieren: Nach der Lektüre dieses Bandes weiß man so ziemlich alles Wichtige über N. – und viel mehr über ihn muss man auch künftig wohl nicht wissen. Herausgeber und Autoren haben mit diesem Buch – und wann kann man das sonst schon sagen! – ein Forschungsthema umfassend und erschöpfend behandelt.