Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2017

Spalte:

935–936

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Scheible, Heinz

Titel/Untertitel:

Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2016. 445 S. m. 25 Abb. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-406-68673-3.

Rezensent:

Volker Leppin

Theorieabstinenz hat ihre Vorteile: Heinz Scheibles Melanchthon-Biographie ist auch zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen gut les- und benutzbar. Die jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Briefwechsel des Praeceptor Germanicus hat ihn zu einem intimen Kenner von dessen Biographie und Denken gemacht.
Ebendies macht es auch besonders interessant, die Verschiebungen der Wahrnehmungen von Reformation seit dem ers­ten Erscheinen dieses Werkes nachzuvollziehen: Es war ursprünglich für das Melanchthonjubiläum 1997 geschrieben, und seinerzeit war es offenkundig noch selbstverständlich, dass die Biographie eines Theologen und Philosophen sich auch eingehend mit Theologie und Philosophie desselben befasste. Das bedeutet nicht, dass S. unter der Hand eine reine Rekonstruktion von Melanchthons Denken verfasst hätte: Er selbst erwähnt, dass ihm dergleichen immer vorgeschwebt habe, er es aber nicht vollendet habe – stattdessen verweist er auf seinen in der Tat materialreichen TRE-Artikel (323). Nicht um eine versteckte »Theologie Melanchthons« also geht es in diesem Werk, sondern um eine Biographie, die sich dessen bewusst ist, dass zum Leben eines Denkers auch das Denken gehört. So banal eine solche Feststellung klingen mag: Auf dem Buchmarkt zum neuerlichen Jubiläum 2017 scheint diese Erkenntnis nicht überall durchgedrungen zu sein – eines der markantesten Merkmale der mehr als reichlich sprießenden Lutherliteratur der Gegenwart ist ihr Theologiedefizit.
Schon allein deswegen ist S. und dem Verlag zu danken, dass S.s Werk nun, gegen den Trend, wieder in verbesserter und erheblich erweiterter Form zugänglich ist. Freilich sind die Erweiterungen nicht durchweg geglückt. Außerordentlich hilfreich ist die Zeittafel, die das Leben Melanchthons in die Zeitumstände einordnet. Leider überhaupt nicht hilfreich ist der Anmerkungsapparat: Wo man das übliche simple System einer Zuordnung von Anmerkungen zum Text durch Zeichen oder Zahlen erwarten sollte, findet man auf 32 Seiten Bemerkungen, die einzelnen Textblöcken zugeordnet sind, manchmal unter Verweis auf konkrete Seitenzahlen, manchmal auch nicht. Mühsam muss man sich zusammensuchen, was wozu gehört – und wird selbst nach größerem Aufwand immer wieder bei der Suche nach Belegen enttäuscht. Man bedauert, dass S.s stupende Gelehrsamkeit nicht besser präsentiert wurde. Wo, wenn nicht bei S., könnte man die Hoffnung haben, Melanchthons Lebensspuren im Detail belegt zu bekommen – und so auch einen Schlüssel zu dem von S. meisterlich in die Wege geleiteten und lange geführten wissenschaftlichen Jahrhundertwerk des Melanchthon Briefwechsels zu bekommen? Freilich hätte dazu auch der Anmerkungsapparat insgesamt noch intensiverer Mühen bedurft: Derzeit erscheint die Literaturauswahl oft eklektisch und wenig strukturiert. Umso bemerkenswerter ist die Erschließung des Werkes durch das Register: Man verfolge nur einmal, wohin einen der Eintrag »Sprachfehler« führt: Nur S. selbst dürfte in der Lage sein, bei der Registerarbeit zu erkennen, dass der dezente Hinweis: »Übrigens hatte Melanchthon Schwierigkeiten mit seinem komplizierten griechischen Namen« (17) spezielle Artikulationsprobleme meint und entsprechend unter diesem Lemma einzutragen ist: Mit diesem Register an der Hand findet man verlässlich, was man sucht, und versteht manche Textstelle besser als beim ersten Lesen!
Wichtiger freilich als diese Recherche ist und bleibt für ein solches Buch die Lektüre von vorne bis hinten – auch dies bietet manche Überraschungen, wenn man die Biographie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Darstellungen zu Luther und Reforma-tion in die Hand nimmt: In einer Zeit, in der Lyndal Roper die Entdeckung der Körperlichkeit in ihrer Luther-Biographie zu einem zentralen Interpretament macht, staunt man, dass Melanchthons Eheschließung bei S. zwar gelegentlich andeutungsweise erwähnt, ausführlicher aber erst in den abschließenden Passagen (311 ff.) behandelt wird – deutlicher kann man die kulturhistorisch veränderten Fragestellungen kaum vor Augen geführt bekommen. Auch von anderen Debatten ist das Buch weitgehend unberührt: Melanchthons theologische Positionen nach 1548 werden sauber und nüchtern dargestellt – durchaus mit einer impliziten Par-teinahme für den Helden des Buches –, aber eine Einordnung in die Debatten über Konfessionsbildung und Konfessionalisierung sucht man vergebens. Vermutlich: zum Glück! Das Buch entstand, als dieses Konzept modisch wurde, nun kommt es zu einer Zeit des Zurückgehens dieses zeitweise durchaus anregenden theoretischen Modells wieder auf den Markt – und man wird wohl sagen können: So wichtig, dass das Bild Melanchthons entscheidend hätte geändert werden müssen, waren diese Debatten wohl nicht. Zumindest dann nicht, wenn man wie S. den Stoff vornehmlich von den Quellen her entfaltet. Dass der Biograph seinen Gegenstand mit Sympathie verfolgt, spürt man nicht nur etwa im Zu­sammenhang von Melanchthons Stellungnahmen zum Interim, die S. ähnlich wie Günther Wartenberg gegen gnesiolutherische Verzerrungen in Schutz nimmt, sondern immer auch dort, wo S. auf das Verhältnis Melanchthons zu Luther zu sprechen kommt: Dass er mit erfrischender Deutlichkeit Luthers Briefe von der Co­burg 1530 stets nur in Anführungszeichen als »Trostbriefe« behandelt (189–192) und ihren hochgradig aggressiven Charakter her-ausarbeitet, dient nicht etwa dazu, Luther in schlechtes Licht zu rücken, sondern unterstreicht im Gegenteil, dass bei allen biographischen Spannungen die sachliche Nähe zwischen beiden groß war und blieb.
Theorieabstinenz heißt mithin nicht etwa positivistische Freiheit von Deutungen: S. setzt seine Akzente – und er erinnert daran, dass eine der vornehmsten Aufgaben der Reformationsgeschichte ist und bleibt, das theologische Denken im Blick zu behalten. Auch darin ist er der Person verpflichtet, der er ein ganzes Forscherleben gewidmet hat und die er nun in einer im besten Sinne zeitenthobenen Weise und doch neu und frisch präsentiert.