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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

913–915

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Yoder, Joshua

Titel/Untertitel:

Representatives of Roman Rule. Roman Provincial Governors in Luke-Acts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 368 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 209. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-036779-9.

Rezensent:

Alexander Weiß

Joshua Yoder möchte mit seinem Buch, das auf eine Dissertation an der University of Notre Dame zurückgeht, einen Beitrag zur Frage der Sicht des Autors des lukanischen Doppelwerkes auf das Römische Reich leisten. Bislang habe die Forschung allgemeine Theorien zu den politischen Ansichten des Lukas propagiert, denen dann gleichsam die passenden Belegstellen beigefügt worden seien. Y. be­ansprucht demgegenüber, vom Text auszugehen und statt einer globalen Analyse der politischen Perspektive des Lukas nur einen Teilaspekt zu untersuchen, nämlich die Charakterisierung der Statthalter durch den Erzähler.
Im ersten Kapitel fasst Y. zunächst die verschiedenen Forschungspositionen folgendermaßen zusammen: Lukas wolle Rom gegenüber der Kirche oder die Kirche gegenüber Rom verteidigen, was beides eine positive Sicht des Imperiums voraussetze; andere meinten, Lukas habe die Kirche eher im Konflikt mit Rom gesehen und sein Werk daher geschrieben, um entweder die Kirche zum Zeugnis gegenüber der politischen Ordnungsmacht auszurüsten oder um die Kirche in der ihr eigenen Identität als soziale Gemeinschaft zu stärken. Wieder andere schrieben Lukas überhaupt gar keine politischen Motive zu. Schließlich geht Y. relativ ausführlich auf postkoloniale Lesarten des lukanischen Doppelwerks ein, mit denen er sich aber im Verlaufe der Arbeit nicht weiter auseinandersetzen wolle, da er sie nicht recht verstehe (38, Anm. 153). Y. selbst wählt für seine Analyse das Vorgehen der narrativen Exegese (innerhalb weniger Zeilen auf S. 41 näher ge­kennzeichnet als »narrative-rhetorical«, »literary-rhetorical«, »liter- ary-critical« und »narrative-critical«), de­ren Terminologie er zu­nächst erläutert (»implied author«, »ideal read­er«, etc.). Der implizite Autor des lukanischen Doppelwerkes sei männlich und Christ, wahrscheinlich gelte dies auch für den realen Autor, aber man könne nicht sicher sein (44). Ein »Charakter« sei ein erzählerisches Agens (Person oder Sache, 47), eine »Charakterisierung« ein chronologischer und kumulativer Prozess (51). Dies wird von der Frage, inwieweit die Darstellung der handelnden Statthalter real zutrifft und falls nicht warum nicht, gänzlich gelöst, wie überhaupt die Methodik der narrativen Analyse, so Y., an historischen Fragen nicht interessiert sei.
Zum Vergleich untersucht Y. dann die Darstellung von Statthaltern in der außerchristlichen, zeitgenössischen Literatur. In Kapitel 2 nimmt er sich zwei Werke vor, die einzelnen Statthaltern gewidmet sind: Tacitus’ Enkomion auf seinen Schwiegervater Agricola, der unter Claudius als Statthalter von Britannien wirkte, und Philos Streitschrift gegen Flaccus, der von 32–38 als Präfekt von Ägypten amtierte und für die bekannten Pogrome gegen die Juden in Alexandria verantwortlich gemacht wurde. In Kapitel 3 befasst Y. sich mit der Darstellung von Statthaltern in der Historiographie und zwar in Josephus’ Bellum und den Antiquitates. Das Ergebnis kurz gefasst: Überall sei die Charakterisierung der Statthalter »ambivalent«. Meines Erachtens ist dies nicht richtig und die Methode problematisch.
Zwar ist es richtig, dass Flaccus in seinen ersten Amtsjahren von Philo als energischer Statthalter geschildert wird, der mit allen Tu­genden, die man von einem Repräsentanten Roms erwartet, ausgestattet ist. Aber Philos negatives Urteil über den praefectus Aegypti wird dem Leser gleich im ersten Absatz der Schrift vor Augen geführt. Am Ende der Schrift liegt Flaccus hingerichtet in seinem eigenen Blut, das aus vielen offenen Wunden wie aus einer Fontäne spritzt. Gottes gerechte Strafe hat ihn ereilt. Dies kann man in der Tat nur als »ambivalente Charakterisierung« auffassen, wenn man die historische Referentialität vollkommen ausblendet. Umgekehrt bei Agri-cola: Dieser werde zwar als rühmliches Vorbild eines Statthalters gepriesen, doch sei, so Y., Tacitus’ Sicht der römischen Herrschaft »ambivalent« (91). Auch dies kann man anders sehen: Tacitus geht es darum, wie Macht ausgeübt wird; per se ist die römische Herrschaft für ihn zweifelsohne gerechtfertigt. Wie schließlich die beiden unterschiedlichen Charakterisierungen des Felix in den beiden Werken des Josephus zu erklären sind, wird in dem entsprechenden Abschnitt Y.s nicht ein Mal gefragt. Werner Eck hat dazu Erhellendes geschrieben, dessen Namen man allerdings im Literaturverzeichnis vergeblich sucht.
Kapitel 4 widmet sich der ›Charakterisierung‹ des Pilatus. Auch diese hält Y. für »ambiguous and complex« (197). Erneut leuchtet das Urteil dem Rezensenten nicht ein. Y. selbst verweist auf Apg 4,26–28, wo Pilatus unter die »Fürsten« gerechnet wird, die sich »wider den Herrn und seinen Gesalbten« versammeln. Hier könne man am ehes­ten ein »authorial judgment« (241) erkennen. Das ist sicher richtig, und gerade bei einer Analyse der Erzähltechnik fällt doch auf, dass dies die letzte Erwähnung des Pilatus im lukanisen Doppelwerk darstellt. Am Schluss wird die Bilanz gezogen, und die sieht bei Lukas keineswegs »ambivalent« aus.
Im 5. Kapitel schließlich behandelt Y. die Statthalter in der Apg: Sergius Paullus, Gallio, Felix und Festus. Ersterer werde ausnahmsweise direkt als »intelligent« oder »discerning« (13,7), durch die An­-wesenheit des mágos allerdings gleichzeitig aber auch indirekt in einer weniger vorteilhaften Weise charakterisiert, Letzteres habe Lukas aber nicht beabsichtigt (254). Trotz der positiven Charakterisierung solle man aber nicht unbedingt annehmen, Sergius Paullus sei für Lukas der Repräsentant der römischen Herrschaft schlechthin (257). Gallios Charakterisierung hinterlasse wiederum ein eher ge­mischtes Bild eines Repräsentanten des Imperiums, die Charakterisierung des Felix erneut ein schlechtes, die des Festus sei im Grunde eher freundlich.
Die grundsätzliche, der Analyse der Charakterisierung der römischen Statthalter übergeordnete Frage lautete ja, ob man im lukanischen Doppelwerk eine pro- oder anti-römische oder auch gar keine politische Tendenz erkennen könne. Angesichts der beständigen Betonung einer ambivalenten Charakterisierung der Statthalter lautet Y.s knappe und nun nicht mehr überraschende Schlussfolgerung, Lukas stünde dem römischen Imperium sowohl kritisch als auch gleichsam staatstragend gegenüber. Eine Untersuchung der Charakt erisierung der römischen Statthalter könne somit zwar kein Ge­samtbild der politischen Tendenz des lukanischen Doppelwerkes bieten, zeige jedoch immerhin das Potential einer vergleichenden narrativen Analyse anderer römischer Repräsentanten, bspw. des militärischen Personals, des Kaisers etc. Dies scheint dem Rezensenten nicht erwiesen, denn das Ergebnis des Buches ist, selbst wenn man ihm folgt, doch ausgesprochen dürftig.
Die Lektüre ist zudem wenig ersprießlich, und zwar nicht deswegen, weil Y. zu sehr in theoretischen Jargon verfiele, sondern im Ge­genteil, weil Y. die hochgesteckten theoretischen Ansprüche selbst nicht erfüllt und die Arbeit über weite Strecken in den Modus einer Nacherzählung der entsprechenden Passagen sowie einer ermüdenden Detailanalyse fällt. Das Buch widerlegt also nicht unbedingt die potentielle Leistungsfähigkeit der narrativen Analyse, wenngleich der Rezensent die Tragfähigkeit eines methodischen Ansatzes, der ohne jegliche historische Referenz auskommen will, eher skeptisch sieht. Insgesamt scheint sich Y. aber vor allem selbst überfordert zu haben.