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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

760–762

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Berge, Loïc P. M.

Titel/Untertitel:

Faiblesse et force, présidence et collégialité chez Paul de Tarse. Recherche littéraire et théologique sur 2 Co 10–13 dans le contexte du genre épistolaire antique.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2015. 730 S. = Novum Testamentum. Supplements, 161. Geb. EUR 224,00. ISBN 978-90-04-28023-6.

Rezensent:

Robert Vorholt

Die im Jahr 2015 publizierte französischsprachige Studie von Loïc P. M. Berge, die 2012 sowohl von der Theologischen Fakultät der Ka­tholischen Universität Lyon als auch von der Literatur- und Sprachwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lumière de Lyon als Dissertationsarbeit angenommen wurde, widmet sich aus exegetisch-theologischer und aus sprachwissenschaftlicher Sicht den Kapiteln 10–13 des Zweiten Korintherbriefes. Damit konzentriert sich die Arbeit auf den sogenannten »Tränenbrief«, aus dem sich ergibt, dass »Super-Apostel«, wie Paulus sie nennt (2Kor 11,5.13; 12,11) in der korinthischen Gemeinde agieren und sich, so Paulus, besonders durch Eloquenz und Wundertaten auszuzeichnen versuchen. Näherhin geht es B. um den Versuch einer literarischen Systematisierung und theologischen Entschlüsselung der apostolischen Rede, die in den Schlusskapiteln des 2Kor mal in der 1. Person Singular, mal in der 1. Person Plural begegnet. Schon der Titel gibt der Analyse eine Richtung vor: »Ohnmacht und Stärke, Vorsitz und Kollegialität bei Paulus von Tarsus. Eine literarische und theologische Untersuchung von 2Kor 10–13 im Kontext antiker Briefliteratur« .
Die Fragestellung ist so klar wie unprätentiös: Welcher Sprecher verbirgt sich in 2Kor 10–13 hinter dem »Ich« der 1. Person Singular und wen hat man sich unter dem zumeist in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen »Wir« der 1. Person Plural vorzustellen? Zugegeben: Die Beantwortung dieser Frage führt nicht unbedingt ins stürmische Zentrum aktuell geführter Fachdebatten zu Paulus, seinem Lebenszeugnis und seiner Theologie. Sie führt aber auch nicht in die exegetische Belanglosigkeit. Denn schnell werden sich die Leserinnen und Leser an die große, der theologischen Ertragsicherung den Weg ebnende Disputatio erinnern, die beispielsweise um das »Ich« von Röm 7 oder das »Wir« in 2Kor 4,6 geführt wurde. Im ersten Fall ging es schlussendlich um die Evaluation soteriologischer Sinnperspektiven, die dem Text zugrunde liegen; im zweiten Fall um seine apostolatstheologischen Implikationen.
B. ergänzt im Zuge seiner Analysen das klassischerseits philo-logisch interessierte Methodeninstrumentarium der Exegese um eine Reihe neuerer literaturwissenschaftlicher Untersuchungsschritte. Seine sprachwissenschaftliche Erhebung fragt nach den Sinnpotentialen des Singulars »Ich« und des Plurals »Wir« und vermisst sie insbesondere dort, wo Singular und Plural direkt nebeneinander zu stehen scheinen. Die literaturwissenschaftliche Systematisierung stellt Zusammenhänge dar und gewichtet Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten. Am Ende der Arbeit soll beides ein theologisches Urteil stützen und begründen.
Der Weg führt über drei Etappen. Die erste umfasst die philologische Untersuchung (11–224). Im Mittelpunkt des Interesses liegt die erstaunliche Leichtigkeit, mit der Paulus in 2Kor 10–13 zwischen der 1. Person Singular und der 1. Person Plural wechselt, bisweilen sogar im selben Satz. B. erhellt sie, indem er 1. zuerst die grammatische Statik des Sprachphänomens »Wir« beschreibt (13–34), dann 2. den Stand der exegetischen Forschung zur paulinischen Sprechweise in der 1. Person Plural vorstellt (35–46) und schließlich 3. die Alternanz von »Wir« und »Ich« in der griechischen Literatur von Homer bis zur hellenistisch-römischen Epoche überblickt (47– 187). Am Ende dieses ersten Durchgangs (4) werden Positionen namhafter Exegetinnen und Exegeten kritisch aufbereitet, die gegen die Annahme tatsächlicher Pluralität hinter dem paulinischen »Wir« votieren (188–220). Das einstweilige Fazit ist klar: B. führt hier den Nachweis, dass das paulinische »Wir« durch die Landschaft einer kollegialen bzw. familiären Umgebung des Apos­tels geprägt ist.
Die zweite Etappe widmet sich dem literaturwissenschaftlichen Fragehorizont. Am Anfang stehen hermeneutische Klärungen. Die Methodenreflexion fällt einigermaßen breit aus (227–271). B. definiert sodann im Rahmen des Textvolumens 2Kor 10–13 zwölf Perikopen (271–280), die er anschließend auf beinahe 200 Seiten in fundierter Weise exegetisiert und in ihrem theologischen Sinngehalt analysiert. Der Blick auf die je einzelnen Perikopen verstellt dabei nicht das Gespür für das Große und Ganze der paulinischen Argumentationsstruktur, was die exegetische Kriteriologie zu Be­ginn dieses Durchgangs (281–288) ebenso belegt wie die (ein wenig ambitioniert erscheinende) Besprechung der Architektur der Perikopenfolge am Ende des Kapitels (486–519). Nahezu en passant wird hier der theologische Ertrag der vorausgehenden sprach- und literaturwissenschaftlichen Studie gebündelt.
Die dritte Etappe versteht sich als Synthese. Die linguistischen Analysen des ersten Kapitels und die exegetischen des zweiten fließen zusammen in einer historisch-theologischen Kontextualisierung der Themenwelt am Ende des Zweiten Korintherbriefes (523–539) und in einer abschließenden Reflexion zur Art und Weise, mittels derer Paulus sowohl in der 1. Person Singular als auch in der 2. Person Plural – indirekt – eine Aussage trifft hinsichtlich seiner apostolischen Autorität (540–574). B. zeichnet die jeweiligen Sinnlinien so nach, dass (insbesondere in Anbetracht der Alternanz von »Ich« und »Wir«) deutlich werden kann, wie Paulus entweder verstärkt auf seine apostolische Autorität (»Ich« = Vorsitz) oder aber wesentlich auf seine apostolische Kollegialität (»Wir« = Gemeinschaft) abhebt.
B.’s Analysen bestätigen das zentrale Grundparadigma der Universalität des Evangeliums, dass es mehrere Apostel gibt (vgl. Gal 2,7 ff.). Darum ist Paulus nicht alleine Apostel, sondern mit allen anderen Aposteln zusammen. Diese Communio ist sichtbarer Ausdruck einer in gleicher Weise begründeten und vermittelten An­teilhabe aller Apostel an der Gemeinschaft mit Jesus Christus und seinem Evangelium. Darin markiert sie zugleich die ekklesiale Verwurzelung der Apostel, die den Dienst der Grundlegung der Kirche nicht nur für andere, sondern auch mit anderen zusammen verrichten. Diese gemeinschaftlich verrichtete Diakonia der Apostel ist ein wichtiges Wesensmerkmal der Ekklesia. Es gibt jedoch nicht nur die Koinonia der Apostel, sondern auch die Gemeinschaft der Apostel mit denen, die an Jesus Christus glauben.
Die Studie ist ein solider (international gut vernetzter) Beitrag zur Paulusforschung, der den wissenschaftlichen Diskurs bereichert – nicht nur wegen des sorgfältigen Abgleichs paulinischer Eigentümlichkeiten mit Sprachkonventionen antiker Literatur, sondern vor allem wegen des theologischen Interesses, das die exegetische Untersuchung leitet. Die Klärung der Sprecheridentität des Briefautors hat, wie B. nachweist, starke apostolatstheolo-gische Implikationen. Sie demonstrieren eindrücklich, wie sehr die paulinische Ekklesiologie koinonial veranschlagt ist. Darüber hinaus ist dieses Buch ein eindrucksvoller Beleg für die theologischen Innovationspotentiale einer historisch-kritischen Exegese, die sich für neuere sprach- und literaturwissenschaftliche Methoden aufgeschlossen zeigt, ohne dabei ihr Eigenes aus dem Blick zu verlieren.