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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

723–725

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Franke, Edith

Titel/Untertitel:

Einheit in der Vielfalt. Strukturen, Bedingungen und Alltag religiöser Pluralität in Indonesien.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2012. XIV, 256 S. m. 25 Abb. = Studies in Oriental Religions, 62. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-447-06533-7.

Rezensent:

Eckhard Zemmrich

Der dem philosophisch-theologischen Leitspruch im indonesischen Staatswappen (»Verschieden, dennoch Eins«) nachempfundene Titel des Buches signalisiert den umfassenden programmatischen Anspruch indonesischer Staatlichkeit seit 1945 im Umgang mit einer breitgefächerten religiösen Pluralität. Angesichts dieses Anspruchs sollen, so der Untertitel, maßgebliche Aspekte jener Pluralität strikt religionswissenschaftlich untersucht und bewertet werden. Die für den Druck überarbeitete und aktualisierte Habilitationsschrift von 2006 greift dafür auf umfangreiche Forschungsliteratur und Internetrecherchen sowie auf empirische Daten vor allem aus den Jahren 2003 und 2004 zurück. Die Studie von Edith Franke ist also hauptsächlich in der Zeit kurz nach dem Ende der sogenannten »Neuen Ordnung« unter Präsident Suharto entstanden. Die auf dessen Sturz 1998 folgende, nach indonesischer Selbstbeschreibung bis heute andauernde »Ära der Reformation« ist von großer gesellschaftspolitischer Dynamik gekennzeichnet und weist zahlreiche lokale und regionale, auch blutig ausgetragene Konflikte mit religiösen und religionspolitischen Facetten auf. Die Untersuchung stellt sich somit einer großen Herausforderung, wenn sie »Antworten auf die Frage geben [will], wie sich religiöse Pluralität in der […] Polarität von homogenisierender Politik und heterogener Kultur in Indonesien entwickelt« (31).
F. nimmt dafür in den Hauptteilen der Untersuchung jeweils verschiedene Forschungsperspektiven ein: In einer überwiegend religionsgeschichtlichen Analyse untersucht sie »[h]istorische Entwicklung und aktuelle Problemfelder religiöser Pluralität in Indonesien« (IX). Ein insgesamt eher religionssoziologisch orientierter Abschnitt befragt die von Sukarno verkündete und propagierte, von Suharto instrumentalisierte und offiziell nach wie vor in Geltung stehende Staatsphilosophie der »Pancasila« auf ihre Funktionen innerhalb der sich wandelnden religiösen Topographie in Indonesien. Bevor mit dem im Religionsministerium angesiedelten »Zentrum für religiöse Harmonie«, der Nicht-Regierungsorganisation »Interfidei« und dem »Netzwerk Liberaler Islam« exemplarisch gesellschaftspolitisch verschieden lokalisierte Organisationsei nheiten vorgestellt werden und der Ertrag der Studie gebün-delt wird, liefert ein stärker religionsethnologisch geprägter Teil mit »Beobachtungen vor Ort« »Beispiele für Transformationen und Konstellationen im«, wie F. schreibt, »indonesischen Pancasila Staat« (X).
Damit deutet sich eine Schwierigkeit der Studie an, die wohl zum großen Teil ihrer Entstehungszeit und der damals zu Verfügung stehenden, nicht-indonesischen Forschungsliteratur geschuldet ist: Der politische Paradigmenwechsel mit seiner radikalen, bis heute sich verstärkenden Dezentralisierung, die mit dem Sturz des Diktators Suharto einherging, wurde in nicht-indonesischen Forschungsbeiträgen meist erst mit einiger Verzögerung gründlicher reflektiert, und das heißt auch, dass die von Suharto geprägte Interpretation der Pancasila nur allmählich Interpretationen wich, die der entstandenen Situation angemessener Rechnung trugen. Der so entstehende Mangel an Trennschärfe in der Behandlung von Quellen wird in der vorliegenden Studie jedoch ausgeglichen durch die umfassende Bezugnahme vor allem auf englisch-, holländisch- und deutschsprachige Fachliteratur, die das Buch in weiten Teilen fast schon zu einer Art Forschungsbericht werden lässt. Die Studie erarbeitet so differenzierte Antworten auf die Fragen nach Bedeutung und Verhältnis von staatlich anerkannten ( agama) und nicht anerkannten (keperecayaan) Religionen und hält eine Fülle von Fakten und Beobachtungen zu religiös-kulturellen Veränderungsprozessen und vor allem auch zu Wechselwirkungen zwischen staatlichen und religiösen Akteuren bereit. An ausgewählten Beispielen werden Prozesse der »Agamaisierung« etwa balinesischer oder südsulawesischer Religionsformationen plausibel nachgezeichnet. Dass dabei trotzdem, wie bei der Behandlung von javanisch-mystischen Praktiken, die schon von M. Woodward gegenüber C. Geertz nachdrücklich monierte Rede von »Synkretismus« selbstverständliche Verwendung findet, mag irritieren, ebenso wie die lediglich sporadische Bezugnahme auf indonesische Quellentexte und Sekundärliteratur sowie hin und wieder anzutreffende Ungenauigkeiten bei der Wiedergabe oder Übersetzung indonesischer termini technici.
Keinen Eintrag tut das Genannte jedoch der Entfaltung und Begründung von Antworten auf die Leitfrage der Untersuchung: »Ist die Pancasila im islamisch dominierten Indonesien Garant für religiöse Pluralität oder ein Mittel zur Vereinheitlichung?« (8) In überzeugenden Analysen wird die ambivalente Wirkung dieses staatsphilosophischen Paradigmas auf religiöse Pluralität klar herausgearbeitet. Sie besteht in staatlicher Akzeptanz limitierter religiöser Vielfalt einerseits, deren Normierung im Interesse ihrer Anerkennung andererseits. Ein besonderes Verdienst erwirbt sich die Studie mit der Erhellung komplexer Entstehungs- und Veränderungszusammenhänge religiöser Dachorganisationen wie dem buddhistischen Dachverband (WALUBI) oder dem organisato-rischen Zusammenschluss von dem Hinduismus zugerechneten Glaubensgemeinschaften (MATAKIN). Während dem pluralitätsbezogenen Wir­ken der muslimischen Massenorganisationen Nahd-latul Ulama und Muhammadiyah wie auch der staatlich sanktionierten islamischen Religionsaufsicht (MUI) gebührender Platz eingeräumt wird, fehlt leider eine differenzierte Betrachtung organisierter Repräsentationen der zweitgrößten religiösen Formation, des Christentums, wie zum Beispiel des Indonesischen Kirchenbundes (PGI) oder der Katholischen Bischofskonferenz (KWI). Dies wäre umso wünschenswerter gewesen, als religiöse Spannungen von F. auch besonders als muslimisch-christliche Spannungen identifiziert werden. In diesem Zusammenhang wäre es für das zeitgeschichtliche Verständnis pluraler religionspolitischer Konstellationen wohl auch angezeigt ge­wesen, wenn die nach Quellenlage für die Zeit nach 1998 erstaunliche Behauptung, christliche Religionsangehörige hätten nach wie vor eine gegenüber Muslimen privilegierte Stellung in Staat und Gesellschaft, substantiiert worden wäre.
Der Niederschlag, den aktuelle religiös-plurale Aushandlungsprozesse im indonesischen Staat im legislativen Bereich finden, wird in der Studie anhand des heftigen Ringens um die Anti-Pornographie-Gesetzgebung und ihr hochumstrittenes Resultat 2008 eigens gewürdigt. Vielleicht hätte hier angesichts der Gesamtausrichtung der Untersuchung die Behandlung der bereits 2006 verabschiedeten, nach wie vor stark kritisierten Ministerialanordnung zum Bau von Gotteshäusern sogar noch näher gelegen.
Insgesamt stellt die Studie – bei dem in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der Forschung lange Zeit vorherrschenden und durch die Pancasila-Ideologie ja auch leicht vermittelbaren Bild von Indonesien als Musterbeispiel für friedliche, gleichberechtigte Koexistenz von muslimischer Mehrheitsgesellschaft und religiösen Minderheiten – einen wichtigen religionswissenschaftlichen Beitrag dar zur Erfassung von in den letzten beiden Jahrzehnten mit hoher Dynamik stattfindenden Transformationsprozessen im Land mit den weltweit meisten Muslimen. Dass F. dabei methodologisch integriert und durchgängig die Offenheit der in Gang befindlichen Entwicklungen herausarbeitet sowie die Spannungen zwischen Chancen und Gefahren der stattfindenden religiös-gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse nüchtern konstatiert und verifiziert, verleiht der Untersuchung eine hohe wissenschaftliche Dignität.