Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

661–663

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schüz, Peter

Titel/Untertitel:

Mysterium tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 476 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 178. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-153448-5.

Rezensent:

Christian Danz

Vor 100 Jahren erschien Rudolf Ottos Klassiker Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Nicht nur der Begründer der Phänomenologie, Ed­mund Husserl, erachtete das Buch als einen ersten Beitrag zu einer Phänomenologie der Religion, es inspirierte auch eine ganze Forschergeneration von Theologen und Religionswissenschaftlern. Der Religionstheorie Ottos und ihres Verhältnisses zum Begriff der Angst widmet sich die hier zu besprechende Dissertationsschrift von Peter Schüz mit dem Titel Mysterium tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto, die von Jörg Laus­ter betreut und im Februar 2014 von der Theologischen Fakultät der Universität Marburg als Promotionsleistung angenommen wurde. Für die Drucklegung wurde die Schrift »geringfügig« (VII) überarbeitet.
Im Fokus des Interesses von S. steht eine werkgeschichtliche Rekonstruktion von Ottos Religionsbegriff, in dessen Zentrum das Moment der numinosen Scheu steht, mit dem eine Abgrenzung »zum klassischen Begriff der Angst und seiner prominenten Rolle in der Moderne« (6) verbunden ist. Der Religionsbegriff des späteren Marburger Theologen stelle eine Alternative zu der bereits in der Antike vorgebrachten These dar, die Religion entspringe der Angst. »Der bisher kaum unternommene und durchaus schwierige Versuch einer Gesamtdarstellung von Ottos Denken kann am Beispiel des Problems des religiösen Erlebens und der Angst auf eine Kernfrage hin fokussiert werden, die zugleich wichtige Linien der Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert deutlich werden lässt.« (97)
Die Durchführung dieses ambitionierten Programms erfolgt in den drei Hauptteilen des Buches. Der erste Teil, überschrieben Angst und Moderne – Angst und Religion (10–91), diskutiert den Zusammenhang beider Themenfelder von der Antike bis in die Debatten des 20. Jh.s und lotet auf diese Weise den problemgeschichtlichen Hintergrund von Ottos Konzeption aus. Eine werkgeschichtlich angelegte Darstellung von dessen Religionstheorie mit Zuspitzung auf den Angstbegriff ist das Thema des umfangreichen zweiten Hauptteils Angst und Religion bei Rudolf Otto (93–408). Der abschließende kurze dritte Teil diskutiert schließlich Das Verhältnis von Angst und mysterium tremendum als Thema der Theologie (409–429). Siglen- (431), ein ausführliches Literaturverzeichnis (433–459) sowie Namen- (461–467) und Sachregister (469–476) be­schließen den Band.
S. rekonstruiert den Religionsbegriff Ottos als Grundlage einer modernegemäßen Theologie im Kontext der schon in der Antike belegten Überzeugung, die Religion und ihre Götter verdanken sich der Angst des Menschen. »Deos facit timor« lautet das Titus Petronius Arbiter zugeschriebene Diktum (43), das bis in die religionskritischen Diskurse der Moderne diskutiert und von S. kenntnisreich nachgezeichnet wird (45–58). Zugleich ist Angst einer der Schlüsselbegriffe der modernen Selbstverständigungsdebatten, de­ren Komplexität in dem Buch eingehend diskutiert wird (10–42). Mit guten Gründen verzichtet S. angesichts der vielfältigen Be­stimmungen des Angstbegriffs in Theologie, Philosophie und den Sozialwissenschaften auf eine zusammenfassende Definition des Begriffs. Der ideengeschichtlich nachgezeichnete Diskurs über Angst und Religion sowie die im Medium des Angstbegriffs ge­führten Debatten über die Eigenart der Moderne stecken den problemgeschichtlichen Kontext ab, vor dem im zweiten Teil der Ar­beit Ottos Religionstheorie in einer werkgeschichtlichen Perspektive erörtert wird.
Der Religionsbegriff und dessen Ausarbeitung mit Bezug auf das Phänomen der Angst rücken bei S. geradezu in die Stellung einer Klammer, die dem Gesamtwerk Ottos ein einheitliches Ge­präge verleiht. Schon darstellungstechnisch wird das durch zahlreiche Vorverweise sichtbar gemacht, wenn die Linien von dem Frühwerk, etwa der Dissertation über Luther (vgl. 154–166), auf das Hauptwerk des Marburger Theologen ausgezogen werden. Die Otto-Darstellung setzt ein mit einer knappen biographischen Skizze, die dessen Werdegang, insbesondere seine Studienorte Erlangen und Göttingen beleuchten (98–135). Mit der lutherischen Erfahrungstheologie Erlanger Provenienz und der Göttinger Reich-Gottes-Theologie Albrecht Ritschls ist das Spannungsfeld benannt, das in Ottos Theologie und die diese fundierende Theorie der religiösen Erfahrung aufgenommen wird. Das schlägt sich schon in seiner Dissertationsschrift von 1898 Geist und Wort nach Luther nieder, die wenig später unter dem Titel Die Anschauung vom Heiligen Geist bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung publiziert wurde. Das Buch zielt auf eine modernegemäße Religionstheorie und weniger auf eine exegetische Lutherarbeit. Die Grundzüge der Religionstheorie aus Das Heilige, das arbeitet S. ebenso heraus, wie der Bezug auf das Angstthema, finden sich schon hier. Die Gottesfurcht, strikt von der Angst des natürlichen Menschen unterschieden, wird als ein Bestandteil der religiösen Erfahrung herausgearbeitet. Dabei fungiert der Heilige Geist gleichsam als religiöse Anlage im Menschen (177). Neben Luther bildet Schleiermacher den zweiten Anknüpfungspunkt für die Theorieentwicklung Ot­tos. 1899, im Jubiläumsjahr, veröffentlichte er dessen Erstfassung der Reden Über die Religion. Das, was Otto später als Kreaturgefühl thematisiert, ist eine Frucht der frühen Beschäftigung mit dem Berliner Theologen (205–243). »In dem Gefühl einer Begegnung mit der unmittelbaren ›majestas‹ Gottes ergibt sich zugleich das Erleben der eigenen Nichtigkeit im Kreaturgefühl, welches rationalisiert und ontologisch gedeutet werden kann« (228).
Religion, so Ottos Credo, fängt mit sich selbst an. Sie ist eine eigene Provinz im Gemüt, die er gefühlstheoretisch als Anlage bzw. Apriori (vgl. 270–282) bestimmt. Das spezifisch religiöse Gefühl, es ist präreflexiv, stellt eine Anlage dar, die dem Menschen mitgegeben ist und als gleichsam intuitive Unterscheidung verstanden wird. Im gestuften religiösen Erlebnis, der späteren Kontrastharmonie, dem Zunichte-Werden des Menschen und der beseligenden Erfahrung der Gnade, aktualisiert sich das religiöse Gefühl. Ein Übergang vom natürlichen Gefühl der Angst zur religiösen Scheu und Gottesfurcht ist damit ausgeschlossen (240), auch wenn sich beide Gefühlsdimensionen wechselseitig anregen können. Damit sind die Aufbauelemente benannt, die der berühmten Schrift über Das Heilige zugrunde liegen. Es wird unter der Überschrift Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk ›Das Heilige‹ (244–298) ausführlich und facettenreich traktiert. An der Zuordnung von religiöser Scheu und profaner Angst ändert sich in Das Heilige nichts Wesentliches mehr, da Otto beide Gefühle auf eigene Vermögen zurückführt (261 f.). Die weiteren Abschnitte diskutieren Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext der zeitgenössischen Debatten (298–363) und die Wirkungsgeschichte des religionsphänomenologischen Klassikers in der Theologie und Philosophie des 20. Jh.s (363–408).
S. hat insgesamt eine gründliche, gut geschriebene Untersuchung zum Werk des Marburger Religionstheoretikers und Systematischen Theologen vorgelegt, die eine Fülle von Einzelaspekten herausarbeitet und einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von dessen Theologie bildet. Konsequent rückt er Ottos erfahrungstheologischen Religionsbegriff in den Fokus und entschlüsselt von diesem ausgehend das Gesamtwerk. Das geschieht nicht nur in theologiegeschichtlicher Absicht. Es geht S. um die Herausarbeitung von Motiven, an die eine Religionstheorie im 21. Jh anknüpfen kann. Das Buch endet folglich mit einer religionstheoretischen Skizze im Anschluss an Ottos Theorie religiösen Erlebens (420–429). Ähnlich wie dieser selbst in seiner Dissertation über Luther verfolgt auch S. ein historisch-systematisches Interesse. Ob dazu Ottos Verständnis einer religiösen Anlage des Menschen ein geeigneter Kandidat ist, steht auf einem anderen Blatt.