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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

643–645

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schorn-Schütte, Luise

Titel/Untertitel:

Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2015. 303 S. m. 7 Abb. u. 1 Kt. Lw. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-68235-3.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Die hier vorzustellende Untersuchung der Frankfurter Historikerin Luise Schorn-Schütte kann aus sozialethischer Perspektive als fruchtbarer Impuls für die gegenwärtig anstehende Auseinandersetzung über die Legitimität von Herrschaft bzw. gegebenenfalls Widerstand nur begrüßt werden. Es ist dabei nicht nur für reformatorische Theologie bedeutsam, dass sich hierzu im europäischen juristischen, politischen und theologischen Denken der Frühen Neuzeit weniger eine nationale, sondern eine weitgehend gemeinsame Struktur der Argumentation nachweisen lässt (21 u. ö.). Um das konkret zu belegen, konzentriert sich S.-S. im zweiten der vier Kapitel ihrer Arbeit erst einmal auf die »Politische Kommunikation im Alten Reich« von 1530 bis 1650 und wendet sich dort zunächst den Rechtfertigungsdebatten unter den protestierenden Reichsständen zu im Blick auf Ungehorsam oder legitime Gegenwehr im Zeitraum von 1529 bis 1546 (31 ff.), so namentlich Bugenhagens Gutachten vom 29.9.1529, welches sich in etlichen Punkten von der Haltung des frühen Luther und damit auch Spenglers unterscheidet.
Gegenüber dem in diesen Jahren von Luther immer wieder geforderten »leidenden Gehorsam« (des Einzelnen) gegenüber der Obrigkeit sei zwar die niedere Obrigkeit der höheren Obrigkeit zu weitgehendem Gehorsam verpflichtet, jedoch immer wenn der Oberherr seine obrigkeitliche Gewalt gegen Gottes Wort richte, verletze er seine genuin obrigkeitliche Aufgabe des Schutzes der Frommen und der Bestrafung der Bösen. Eine solche Obrigkeit habe sich selbst (vgl. 1Sam 15,26) aus ihrem Amt begeben, weshalb ihr der Unterherr keinen Gehorsam schuldig sei (36). Allerdings konnte dann aufgezeigt werden, dass hiermit keine völlig neue »Widerstandslehre« entwickelt wurde, sondern nur eine »Herleitung des legitimen Rechts der Not- und Gegenwehr aus der legis-tischen und kanonischen Tradition des 13. bis 15. Jahrhunderts« er­folgte (41) – wozu sich selbst beim frühen Luther Anklänge finden (so etwa WA 11, 267,1–6).
S.-S. geht sodann auf theologisch-juristische Differenzierungen bis 1546 ein, so auch auf Philipp Melanchthon (42 f.), der zunächst Luthers frühe Position geteilt, sie aber dann genauso wie Luther »unter dem Druck der politischen Verhältnisse« seit etwa 1538 verändert habe und von einem Naturrecht zur Selbstverteidigung gegen eine unchristliche, tyrannische Obrigkeit ausgehe (43 ff.). Und wenn S.-S. dann die Argumentationen im Umkreis des Schmalkaldischen Krieges und des Interims 1546/50 aufgreift, so streicht sie heraus, wie sehr protestantischerseits vermieden werden sollte, »Luthers Schriften als Beleg für eine politische Passivität des Reformators zu verwenden. Vielmehr sollte durch deren erneute Drucklegung stattdessen bewiesen werden, dass auch Luther den Reichsständen ein Recht der Gegenwehr gegen einen tyrannischen Oberherrn zugesprochen habe« (45). Damit wendet sie sich gegen die von Thomas Kaufmann zumindest widerspruchslos hingenom­mene Deutungstradition des bedingungslos obrigkeitsfrommen, zu politischer Passivität tendierenden Luthertums (45).
Bezüglich der in dieser Zeit immer stärker hervorgehobenen Drei-Stände-Lehre hält sie fest, dass das Zusammenwirken der drei Stände als göttliche Ordnung verstanden wurde. Und wenn dieses Gleichgewicht z. B. dadurch gestört werden sollte, »dass ein Amt einem anderen in seine Aufgaben hineinregiert«, seien alle Betroffenen berechtigt, »die Ordnung durch Sicherung des Gleichgewichts wiederherzustellen«, wodurch das Notwehrrecht eine zu­sätzliche Legitimation aus der Drei-Stände-Lehre erhalte (50).
Nach einem kurzen Blick auf das Magdeburger Bekenntnis von 1550 (59 ff.) stellt S.-S. sodann die Argumente der katholischen Seite (63 ff.) heraus, wie der Kaiser als ein »Hausvater des Reiches« den ungehorsamen Untertanen mit Milde und Güte begegnen wolle, um den Frieden zu bewahren bzw. die Wiederherstellung der Ordnung zu bewirken. Dabei habe sich die pro-kaiserliche Publizistik einer politischen Sprache bedient, die zwar die Vokabeln der Gegner verwendete, sie aber in entgegengesetzter Richtung meinte (65).
S.-S. schildert sodann, welche Konkretionen sich im politischen Handeln als Abwehr ungerechter Obrigkeit seit 1550 ergaben, na­mentlich in den Reichsstädten und Hansestädten (Frankfurt/M., Stralsund, Straßburg, Augsburg, Braunschweig) (66 ff.), und zeigt angesichts des stark präsenten Drei-Stände-Modells als Mo­dell des Gleichgewichts, dass damit immer zu klären gewesen sei, wer die Grenze zwischen den Ständen bestimmte oder wann ein Stand in ein anderes Amt eingriff (99). Sie weiß ferner zu belegen, dass sich bis in die Mitte des 17. Jh.s die gemeinsame Überzeugung fand, »dass das politische Gemeinwesen kirchlich-religiöse Aufgaben zu erfüllen habe«, da die gemeinsame Religion aller Bürger das »wichtigste Fundament jeglicher Herrschaftsordnung sei« (99 f.). Nach dem Blick auf einige Gesamtentwürfe hierzu pointiert sie als konfessionellen Unterschied, dass für die katholische Seite gelte: »res publica est in ecclesia« und für die evangelische: »ecclesia est in res publica« (114). Allerdings gelte für beide Konfessionen die Überzeugung, dass Herrschaftskontrolle ein unverzichtbares Element der politischen Ordnung sei, weshalb die Monarchie temperata/ mixta als die angemessene Verfassungsform angesehen werden müs­se (118).
Ein bemerkenswerter eigener Akzent dieser Studie ist, dass S.-S. nicht bei der Untersuchung des politischen Vokabulars stehen bleibt, sondern darauf eingeht, durch welche Gruppen und wie es getragen wurde. Sie kann dabei immerhin biographische Daten mit sozialer Herkunft und Verflechtung von 140 Personen zugrunde legen (119 ff.).
Sodann hält sie als »Grammatik und Vokabeln der politica chris­tiana als politischer Sprache« (126 ff.) bezüglich des Streits um das Teilhaberecht der Reichsstände fest, dass sich diese als gleichberechtigten Teil der Herrschaftsordnung verstanden mit dem Kaiser als primus inter pares, da sie den Kaiser wählten. Das sei im Einklang mit den wechselseitigen Verpflichtungen des Lehnsrechts und im Festhalten am alten Herkommen/der alten Freiheiten gesehen worden. Insofern habe die Reichsverfassung eine doppelte Obrigkeit umschlossen: die Reichsstände als magistratus inferiores und den Kaiser als magistratus superior. Daraus folge eben, dass, falls der Kaiser seine Verpflichtung aus diesem Verfassungsvertrag nicht erfülle, er seinen Status als magistratus superior verlöre, und falls er mit Gewalt gegen die magistratus inferiores vorgehen sollte, diesen das Recht der Gegenwehr zustehen würde (127). Und wenn als erste theologiepolitische Äußerung der protestierenden Reichsstände die Berufung auf ihre Gewissensfreiheit in religiösen Dingen bemüht wurde, so habe das in den folgenden Jahrzehnten dazu geführt, dass der konfessionelle Gegner als unchristliche Obrigkeit erklärt wurde, da er den Schutz der Frommen nicht mehr gewährte. Und verständlicherweise müsse gegen eine unchristliche, also tyrannische Obrigkeit das Recht der Not- und Gegenwehr gelten (128). Darüberhinaus gab die Drei-Stände-Lehre den Rahmen, in­nerhalb dessen die drei Stände in der Pflicht standen, »das Gleichgewicht der Kräfte zu bewahren, nicht in ein anderes Amt/Stand hineinzuregieren, aber bei ersichtlichem Fehlverhalten zu mahnen und zu strafen«, um so das Gleichgewicht der Ordnung wieder herzustellen (128). Hierbei sei allerdings die Unterscheidung in e inen »radikaleren, vom Calvinismus getragenen Zweig« in der Verfassungsdebatte und einen »zurückhaltenderen, untertänigeren Zweig im Luthertum« nicht mehr zu halten (130).
Im dritten Kapitel der Arbeit werden »Europäische Fallstudien« (131 ff.) präsentiert und im abschließenden Kapitel zusammengefasst. Hintergrund dieses Blicks auf Europa bildet die Annahme einer Differenzierung zwischen Calvinismus und Luthertum in der Begründung von Notwehr- und Naturrechtslehren, so etwa dass man nicht nur in der älteren Forschung meinte, England, Frankreich und den Niederlanden aufgrund ihrer »durch Calvinismus/Puritanismus geprägte[n] Traditionen ein größeres ›Demokratie‹-Potenzial« zubilligen zu müssen (132). Dagegen ist es S.-S. ge­lungen zu belegen, ein wie hohes Maß an Parallelität der Ar-gumentationen der politischen Kommunikation im damaligen Eu­ropa existierte (186). Offenkundig war für hochadlige Amtsträger, gelehrte Juristen und Theologen der Diskussionsgang bezüglich der Legitimation der Herrschaftsbegrenzung, der Rechtfertigung der Abwehr ungerechter Obrigkeit, die die »Gewissen be­schwerte«, in allen betrachteten europäischen Regionen plausibel. Insofern ließen sich eben für die französische, englische, niederländische, österreichische und zum Teil auch die polnische Debatte drei den Diskussionen im Alten Reich ähnelnde Kategorien zuordnen: die damalige Naturrechtsdebatte (187 f.), die Charakterisierung der Herrschaftsordnung als monarchia mixta (188 f.) sowie die Verzahnung von Politik und Religion als »Politik aus der Bibel« (189 ff.), verstärkt durch die Drei-Stände-Lehre, die Auffassungen vom prophetischen Amt der Geistlichkeit, aber auch durch die Bundestheologie (189). Dabei sei ein »Stehenbleiben« lutherischer politica christiana im Vergleich zu reformierter politischer Theologie aus den Bewertungsmaßstäben der Zeitgenossen nicht nachzuvollziehen (190), ebenso sei ein calvinistisch geprägter »Republikanismus« »nicht existent« (191).
Die mit der quellengesättigten Untersuchung von S.-S. gegebene Übersicht stellt damit manches Vorurteil gegenüber der Frühen Neuzeit und vor allem gegenüber der lutherischen Tradition in Frage und gibt Anregungen für eine fundierte Beschäftigung mit den Fragen der Legitimierung von Herrschaft bzw. Widerstand in der Gegenwart. Sie ist daher nicht nur Historikern gern zu empfehlen.