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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

375-377

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Mieth, Dietmar

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart.

Verlag:

München: C. H. Beck 2014. 298 S. = C. H. Beck Paperback, 6131. Kart. EUR 16,95. ISBN 978-3-406-65986-7.

Rezensent:

Markus Vinzent

Die beiden Namen auf der Titulatur hätten kaum besser als Zusammenfassung dieses Buches gewählt werden können, denn die Studie führt den Leser nicht nur in das Leben und Denken des großen Dominikaners des ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jh.s ein, sondern lässt auch das Lebenswerk und die Interessen des Ethikers, Literaturwissenschaftlers und Mystikforschers Dietmar Mieth durchscheinen. Die Reihe kleinerer und größerer Monographien zu Eckhart wie überhaupt die intensive Forschung zu diesem meistgelesenen mittelalterlichen Philosophen und Theologen reißt nicht ab – man braucht etwa nur an das im Jahr zuvor im Verlag Karl Alber erschienene Werk von Karl-Heinz Witte »Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens: Eine Einführung« zu erinnern.
Aus dieser Fülle ragt M.s Buch als ein im besten Sinne eigenständiger, wenn nicht gar eigenwilliger Zugriff heraus. Zwar stellt sich M. in die Tradition seines Lehrers Kurt Ruh und dessen klassische Studie zu Meister Eckhart aus dem Jahr 1985, doch es ist nicht nur der inzwischen erheblich fortgeschrittene und in das Buch eingeflossene Wissensstand, der es auszeichnet. Wichtiger ist, dass die Studie an die frühen Einsichten anknüpft, die M. selbst bereits in seiner Dissertationsschrift und in sich anschließenden Publikationen entwickelt hat.
Damals (1969, 1982, 1986) hob er bereits die zentrale Bedeutung des dynamischen Verhältnisses von Kontemplation und Aktion heraus, die er in dem der breiteren Leserschaft zugänglichen Ta­schenbuch »Christus, das Soziale im Menschen. Texterschließung zu Meister Eckhart. Topos-Taschenbuch« (1972) zusammengefasst hatte und die er in seiner eigenen wissenschaftlichen Karriere konsequent umsetzte. Er hatte sich in den nächsten Jahrzehnten einen internationalen Namen gemacht als Ethiker, insbesondere mit dem Vorschlag einer narrativen, nicht dogmatischen Ethik. Er­staun-licherweise fehlt das kleine Büchlein in der beigegebenen Bibliographie der »Literatur zu Meister Eckhart« des neuen Buches (260–270), obwohl das 5. und damit zweitletzte Kapitel gerade dieses Thema behandelt, Aktion und Kontemplation, was auffallenderweise erweitert wird mit einem Versuch über Eckhart und Luther, und über Eckhart interreligiös. Schon diese Zuspitzungen zeigen, dass Eckhart M. zufolge nicht nur textimmanent oder mediävistisch zu lesen sei, sondern er bewusst eine Brücke zwischen Eckhart und der Gegenwart bauen möchte. Das gilt auch für das letzte Kapitel, in welchem er den Prozess Eckharts und die päpstliche Verurteilung einiger der Thesen Eckharts in den Rahmen des Widerstreits der Interpretationen in dem langen Rezeptionsprozess bis heute stellt (235–255).
Hier, am Schluss, gibt M. zu Recht einem anderen herausragenden Forscher Eckharts und des Mittelalters das Wort, Andreas Speer (Thomas-Institut, Köln), der von der Sperrigkeit Eckharts spricht, weil »der heutige Leser, auch wenn er im Eckhartschen Sinn eifrig bemüht« ist, doch »vor einem oftmals nur schwer zu überwindenden Problem« steht, weil ihm (oder ihr) »viele der leitenden Intuitionen Eckharts abhanden gekommen« sind, etwa »die Verbindung von Geistigkeit und Vernünftigkeit, von Vollkommenheit und Gotteserkenntnis, von Demut und Glückseligkeit« (254). Da Eckhart dennoch einer der wenigen theologischen Autoren der Geschichte ist, der in den inzwischen ausgedünnten Buchauslagen der Buchhandlungen in dieser Welt überlebt und international sogar verstärkt zur Kenntnis genommen wird, nimmt M. die Mühe auf sich, das Abhandengekommene zu restituieren bzw. trotz abgebrochener Ansätze neu Zugänge zu schaffen. Das ist kein einfaches Unterfangen, und, wer von diesem Buch eine leichtfüßige Einleitung in Eckhart erwartet, wird bald entdecken, dass M. dem Publikum einige Anstrengungen abverlangt. Das hängt zum einen mit dem breiten Spektrum der angesprochenen eckhartschen Themen zusammen, andererseits mit M.s Stil, der öfters assoziativ arbeitet und, vielleicht geprägt durch lange Eckhartlektüre, mitunter auch dessen Stakkatostil teilt. Oft werden Sätze gedrängt, pointiert und prägnant positioniert, so dass sie sich wie Aphorismen lesen, etwa, der erste Satz der Einleitung, um nur ein Beispiel zu bringen: »Berühmte Bilder bringen etwas Allgemeines zum Ausdruck« (13). Darüber könnte man lange nachdenken, und M. tut es denn auch auf knapp vier Seiten, wobei er Michelangelos Schöpfungsbild nimmt, um in einem ersten Versuch in Eckharts Gedanken von »Ursprung«, »Offenheit« und kreativer Selbsterschließung einzuführen. Hieraus entwickelt er sodann einen zentralen Gedanken, der das ganze Buch durchzieht und sicher geprägt ist von dem Projekt am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt zur Individualisierung in historischer Perspektive (an dem M. mitarbeitet). Es geht um die herausragende Bedeutung des Individuellen im Denken Eckharts, das trotz des Gedankens des Abscheidens von allem Hier und Jetzt, von allem Hinz und Kunz, von allem Dies und Das, doch genau zu dieser kreativen Vielfalt führt.
Eckharts Gott, der nach M. »in unaufhörlichem Fluss« steht und zutiefst prozessual und perspektivisch gedacht werden muss, ist ein Gott, der nicht nur intellektuelle Wirklichkeit ist, sondern der als Prinzip gerade all diese Fülle hervorbringt (25–88). Aufgrund der Liebe an der konkreten Vielfalt, die sich bis in die Sprache der Schrift und deren Auslegungen hinein ausprägt, lässt sich auch bei deren Lektüre von einer »praktischen Metaphysik« sprechen (89–97). Über Offenbarung, Gottesgeburt und Gottesentzug führt M. zu der bereits genannten Spiritualität, Ethik und Mystik und zur Häresie im Widerstreit. Ein Thema liegt M. besonders am Herzen, die Tatsache, dass ein Buch zu Eckhart kein Buch über Eckhart ist, sondern ein solches, das auf die zielt, die Eckhart erreichen wollte und mit denen er im geistigen Austausch stand, also seine Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser (»Alle können es erfahren«, 140–152), und dann die großen Geistesverwandten wie Maimonides und vor allem Marguerite Porete (127–139).
Zu welch konkreter Lebensform gerade Abgeschiedenheit, einer der Zentralbegriffe von Eckharts Theologie und Anthropologie, führt, ist in dem Kapitel zu Marguerite Porete ausgefaltet, eingefangen in den Aphorismus: »Lebensform und Denkform sind hier für Eckhart identisch« (127). Jedoch dreht Eckhart den neuplatonischen Aufstieg nicht nur um, so dass Perfektion zum Ausgangspunkt statt zum Endpunkt wird, er überführt diese Teleologie in eine Dynamik der Beziehung zwischen »höchste[r] Individualität eines ›Ich‹« und der »Allgemeinheit«, die sich in Gott findet – eben einer Allgemeinheit, die nur deshalb keine weltliche Verflachung oder eine deistische Solipsistik darstellt, weil Gott nichts anderes als das Konkrete, ebendas Soziale im Menschen ist. Marguerite, die ihre eigene individuelle Einsicht gelebt und aus ihr heraus das bis heute faszinierende Werk des »Spiegels der einfachen Seele« ge­schrieben hatte, hatte gegen alle Widerstände zu ihrer Einsicht und ihrem Buch gestanden und war bereit, hierfür gegen alle Institutionen und Magister das Martyrium geradezu herauszufordern und so Abscheidung bis zur Selbstvernichtung zu steigern. Und auch wenn Eckhart viele der Gedanken Marguerites teilte, wie M. herausarbeitet, hätte man doch gerne gelesen, inwieweit Eckhart sie auch »teils kritisiert« hatte (139). Mit seinen Ausführungen weist M. bereits über sein Werk hinaus und lässt den Rezensenten hoffen, dass gerade das Verhältnis zwischen diesen beiden herausragenden Denkern des frühen 14. Jh.s von M. künftig noch weiter vertieft wird.