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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

355-357

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bosenius, Bärbel

Titel/Untertitel:

Der literarische Raum des Markusevangeliums.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2014. 527 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 140. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-7887-2856-4.

Rezensent:

Johannes U. Beck

Nachdem Bärbel Bosenius ihre Dissertation der Exegese des zweiten Korintherbriefes gewidmet hat, fokussiert ihre etwa 20 Jahre später erschienene Habilitation nun dezidiert auf das Markusevangelium, das sie als kohärenten Text unter weitestgehender Ausblendung der synoptischen Bezüge auszulegen sucht. B., Studienrätin am Gymnasium Wandlitz und Privatdozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin, greift für die Analyse des »literarischen Raums des Markusevangeliums« dabei literaturwissenschaftlich-narratologische Einsichten auf und orientiert sich methodisch hieran. Zugleich versteht sie die erzählte Welt des Markusevangeliums nicht primär als »eigenständiges, in sich geschlossenes […] System […], das aus den topographischen und topologischen Angaben einer Erzählung (re-)konstruiert werden kann« (16), sondern setzt eine Entsprechung auf Seiten der »Wirklichkeit außerhalb des Textes« (17) voraus. Hierdurch ließen sich, so B., »Unbestimmtheitsstellen der erzählten Welt […] füllen durch Daten« (ebd.), die die »geographischen Gegebenheiten der außertextuellen Realität« (479) widerspiegeln. Insofern verbindet sich für B. mit der Frage nach dem literarischen Raum des Markusevangeliums ein dop-peltes Vorgehen. Sie ist einerseits darum bemüht, außertextuelle Re­ferenzobjekte für die im Markusevangelium vorfindlichen topologischen Angaben auszumachen, um andererseits von diesen Ob­jekten her die Raumkonstitution der erzählten Welt des Markusevangeliums zu erschließen.
Die theoretischen Grundlegungen, die die folgende Analyse leiten, werden von B. in einem Eingangskapitel knapp dargestellt, wobei sie sich hauptsächlich auf narratologische Erkenntnisse be­zieht. In diesem Rahmen macht sie sowohl auf die vom Rezipienten zu vollziehende Konstruktionsleistung aufmerksam, der allererst aus den im Text vorkommenden Aussagen »ein kohärentes Welt-Modell des literarischen Textes« (8) bildet, als auch auf die semantisch-theologische Dimension des literarischen Raums. Nicht offengelegt werden hingegen die hermeneutischen Grundlegungen, die die Untersuchung leiten. Hinweise zu der vorausgesetzten Entstehungs- und Rezeptionssituation, zu der dem Autor beigemessenen Bedeutung sowie zu Art und Struktur des Markusevangeliums werden erst im Vollzug der Exegese verschiedentlich eingestreut, ohne dass sie dort eigens begründet oder reflektiert werden.
Im zweiten Hauptteil wendet sich B. zunächst der vertikalen Raumachse zu. Ausgehend von der These, dass der Beginn des Markusevangeliums im Himmel zu lokalisieren ist, spezifiziert B. diesen Ort als Wohnort Gottes. Mithilfe einer stark intertextuell orientierten Exegese wird dabei »eine Erzählwelt (re-)konstruiert […], in welcher die himmlische Wohnung Gottes als königlicher Thronsaal ›inszeniert‹ wird« (41). Der zweithöchste Rang kommt auf dieser Raumachse dem Berg der Verklärung zu, der damit den Tempelberg als traditionellen Ort der Offenbarung Gottes ablöst (58). Während der himmlische Thronsaal »als ›ständiger Wohnsitz‹ Gottes« fungiert, ist hier »auf Gottes Initiative hin eine temporäre Gottesbegegnung möglich« (61–62). Damit erhält der »Schauplatz ›hoher Berg‹ […] eine Zwischenposition zwischen Himmel und Erde« (67), die zusammen, ohne um eine Unterwelt erweiterbar zu sein (91–98), den vertikalen Handlungsraum darstellen. Er kann nur »von oben nach unten und auch nur von Gott« (98) beschritten werden.
Der Analyse der horizontalen Raumachse ist der dritte und zugleich umfänglichste Hauptteil der Untersuchung vorbehalten. Für die »Landkarte der erzählten Welt« (102), die sich aus den Ortsangaben des Evangeliums erstellen lässt, orientiert sich B. grundsätzlich an der Landkarte »der außertextlichen Realität« (ebd.) und gleicht Erstere an Letzterer ab. Semantisch-theologisch wird »die galiläische Lebenswelt des Protagonisten […] als Gegenentwurf zum römisch-hellenistischen Lebensstil im westlichen Teil des Imperiums« (103) verstanden. Hierbei erhält insbesondere das Haus in Kapernaum eine wesentliche Funktion, auf das nach B. auch dann Bezug genommen wird, wenn keine Lokalisierung des jeweils erwähnten Hauses erfolgt. In diesem Haus avanciert Jesus im Laufe des Erzählgeschehens nicht nur »vom Gast zum Hausherrn« (276), auch bewegt er sich im ersten Teil des Evangeliums nach dem von B. erstellten Bewegungsprofil (270–271) »in konzentrischen (Halb-)Kreisen um sein Haus in Kapernaum« (271). Intendiert sei damit »die Propagierung einer bestimmten Lebensform« (209), nämlich der Hausgemeinschaft als eines Sozialverbandes, die »ein gemeinsamer Normen- und Wertehorizont« (298) konstituiert. Eine solche These lässt sich freilich nur über Annahmen »aufgrund von impliziten Textindizien« (123) sowie einer Exegese gewinnen, die Konjunktive indikativisch aufnimmt und damit der Polyvalenz des Textes kaum gerecht wird. In diesem Rahmen werden die Aussagen Jesu im Vorfeld der Passion als Anweisungen »in einer Ausnahmesituation« (339) gewertet, ohne dass die Bedeutung jener Situation im Hinblick auf den propagierten Sozialverband geklärt würde. Vielmehr werden die hier explizierten »Einlassbedingungen in das Reich Gottes« (346) als Hinweis darauf gedeutet, dass das Haus anstelle des Tempels »die neue Schnittstelle zwischen der Vertikalen und Horizontalen« (399) darstellt.
Im letzten Hauptteil vor dem Fazit verbindet B. den aufgezeigten literarischen Raum sodann mit den verschiedenen Zeitebenen des Textes. Während die Basissequenz auf die Zeit des irdischen Jesus anspiele, dessen Haus zum »Prototyp zukünftiger ›christlicher Häuser‹« (453) im Gegenüber zur Jerusalemer »hellenistisch-römischen Kultur« (458) wird, sei das Haus ebenso für die Erstrezipienten »als Kritik an den in Jerusalem herrschenden Verhältnissen dechiffrierbar« (460). Für die Endzeit schließlich werde in Aussicht gestellt, dass die vertikale Raumachse nun auch von unten nach oben beschritten wird und das Evangelium so in zeitlicher Perspektive dort ende, »wo es angefangen hat: im himmlischen Thronsaal« (483).
Abgesehen von der umfangreichen Darstellung des archäologischen Forschungsstandes etwa im Blick auf »das historische Kapernaum« (124) bietet B. vor allem dort gute Beobachtungen, wo der »Raumstruktur eines Textes […] semantisches Potential« (486) zugestanden und dieses verdeutlicht wird. Die Gegenüberstellung von Ölberg und Tempel in der Passionserzählung, in der Ersterer an­stelle des Hauses zum disjunktiven Teilraum von Letzterem wird (448), ist für das Textverständnis ebenso weiterführend wie der Aufweis, dass die »Aktionen Jesu eine Wirkung entfalten, die über die Orte hinausgeht, an denen er aufgetreten ist« (236). Hilfreich ist ferner die dem »Erzähler des Markusevangeliums« zugestandene Kompetenz, »einen kohärenten Text verfassen zu können« (84), der als solcher zu erschließen ist. Dass sich die erzählte Welt »mit dem außertextuellen Befund in Übereinstimmung bringen« (191) ließe und von diesem her interpretiert werden könne, bleibt jedoch hermeneutisch ungeklärt und führt in der Folge auch bei B. »zu einer starken Verwässerung der narratologischen Analyseergebnisse« (485). Der Zugewinn der Arbeit besteht demnach weniger in dem hermeneutisch nicht aufgearbeiteten »Vergleich des literarischen Raumes des Markusevangeliums mit seiner außertextuellen Referenzwelt« (487), sondern eher in der Sensibilisierung für die theologische Relevanz der Raumkonzeption einer erzählten Welt als selbständiger literarischer Größe. Der Untersuchung beigefügt ist ein knappes Register.